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Therapie des Diabetes mellitus mit dem Insulin-Analogon LisPro

Zusammenfassung: Das Insulin-Analogon LisPro wirkt schneller und kürzer als Normalinsulin nach subkutaner Injektion. Es ist nur in der U-100-Form (100 E/ml; Humalog) im Handel. Der postprandiale Blutzucker steigt nach LisPro weniger stark an als nach Injektion von Normalinsulin. Bei Verwendung von LisPro, aber auch von Normalinsulin, braucht kein Spritz-Eß-Abstand eingehalten zu werden. Der Ersatz von Normalinsulin durch LisPro führte bisher nicht zu einer signifikanten Verbesserung von HbA1-Werten und Hypoglykämieraten. Der potentielle Gewinn an „Lebensqualität“ durch LisPro läßt sich wahrscheinlich nur bei gut geschulten Typ-1-Diabetikern realisieren, denen eine flexible Lebensweise mit sportlicher Betätigung wichtig ist. Diese Patienten müssen für die Anwendung von LisPro von erfahrenen Diabetologen neu geschult werden. LisPro ist bei Patienten mit Magenentleerungsstörungen kontraindiziert. Auf das tumorigene Restrisiko von LisPro muß hingewiesen werden.

Die Standardtherapie beim Typ-1-Diabetes mellitus, aber auch bei manchen Patienten mit Typ-2-Diabetes, ist heute die Intensivierte konventionelle lnsulintherapie (ICT). Hierüber und über die Kontinuierliche subkutane Insulininfusion (CSII) mittels Pumpe sowie über lnsulin-lnjektionshilfen (Pen) haben wir ausführlich berichtet (AMB 1995, 29, 33 und 35).

Kürzlich wurde in Deutschland ein Normalinsulin-(Altinsulin)-Analogon mit dem Namen LisPro zugelassen. Bei LisPro sind in der B-Kette des Insulins (das aus einer A- und einer B-Peptidkette besteht, die über zwei Disulfidbrücken verbunden sind), die Aminosäuren Lysin und Prolin in Position 28 und 29 miteinander vertauscht. Hierdurch ändert sich die Tertiärstruktur des Insulinanalogons, so daß es nach subkutaner Injektion weniger Aggregate als Normalinsulin bildet. Konzentriertes Normalinsulin bildet subkutan Hexamere, die erst am Rand der lnjektionsstelle, d.h. nach Verdünnung durch interstitielle Flüssigkeit, in Monomere zerfallen und über das Kapillarblut den Blutkreislauf erreichen. Mit anderen Worten, auch Normalinsulin hat durch diese Hexamerbildung einen gewissen Depoteffekt. Das Insulinanalogon LisPro wird schneller aus dem subkutanen Depot resorbiert als Normalinsulin. Die maximale Plasmainsulinkonzentration post injectionem und der Ausgangswert des Plasmainsulins werden früher erreicht. Dementsprechend steigt der postprandiale Blutzucker nach einer kohlenhydratreichen Standardmahlzeit weniger an als nach Normalinsulin, und spätpostprandiale Hypoglykämien sind bei Verwendung des LisPro-Analogons seltener (1). Lispro ist in Mischungen mit Depotinsulin (z.B. NPH-Insulinen) nicht stabil, darf also nicht mit ihnen gemischt werden. Es kommt europaweit nur in der U-100-Form in den Handel und sollte, um Verwechslungen mit U-40-lnsulinen zu vermeiden, nur im Pen verwendet werden.

Als Vorteile von LisPro im Vergleich mit Normalinsulin wird herausgestellt, daß wegen der schnell einsetzenden Wirkung ein Spritz-Eß-Zeitabstand nicht mehr eingehalten werden muß, daß kohlenhydratreiche Mahlzeiten besser assimiliert werden und daß wegen der kürzeren Wirkdauer von LisPro spätpostprandiale Hypoglykämien seltener sind. Trotz positiver (2) bis enthusiastischer (3) Kommentare in der Fortbildungspresse muß jedoch darauf hingewiesen werden, daß unter Berücksichtigung essentieller Therapieziele der Beweis aussteht, daß LisPro einen wesentlichen therapeutischen Fortschritt bringt. Über ein Hauptziel der Diabetes-Therapie, nämlich die Minimierung und Hinauszögerung des diabetischen Spätsyndroms, können selbstverständlich wenige Jahre nach Beginn der klinischen Prüfung noch keine Aussagen gemacht werden.

Folgende essentielle kurzfristige Therapieziele sind für die Beurteilung eines neuen Therapieregimes bei insulinpflichtigen Diabetikern maßgebend:

1. Der mittlere HbA1– oder HbA1C-Wert,
2. die lnzidenz schwerer Hypoglykämien und ketoazidotischer Entgleisungen,
3. Kriterien der „Lebensqualität“, z.B. Flexibilität im Lebensstil und in der Ernährung (4)

In den bisher ausführlich publizierten Studien sind trotz niedriger postprandialer Blutzuckerwerte nach LisPro bezüglich der Kriterien 1 und 2 keine signifikanten Vorteile verglichen mit Normalinsulin aufgezeigt worden. Ein Teil des Materials, das den Zulassungsbehörden vorgelegen haben mag, ist bisher nur in Abstract-Form publiziert worden, d.h., es ist einer kritischen Lektüre nicht zugänglich. Dies wird sich in Kürze ändern. Das Hauptargument für LisPro in den bisherigen Publikationen ist die verbesserte „Lebensqualität“ durch den Wegfall des Spritz-Eß-Abstandes. Die Forschergruppe um Berger in Düsseldorf betont jedoch seit Jahren, daß auch bei Verwendung von Normalinsulin ein Spritz-Eß-Abstand von mehr als 10 bis 15 Minuten eher schädlich als vorteilhaft ist, weil bei verspäteter Einnahme der Mahlzeit (im Restaurant oder durch Vergessen) Hypoglykämien auftreten können (5). Viele Diabetiker halten offenbar aus Erfahrung den vom Arzt empfohlenen Spritz-Eß-Abstand gar nicht ein oder verkürzen ihn erheblich (6). So könnte es sein, daß der in den Studien herausgestellte Gewinn an „Lebensqualität“ durch LisPro im Vergleich mit Normalinsulin zum Teil dadurch bedingt war, daß für Normalinsulin ein gar nicht notwendiger und lästiger Spritz-Eß-Abstand vorgeschrieben war, der bei Anwendung von LisPro entfiel.

Da bei der ICT mit Normalinsulin dessen verzögerte Elimination zur basalen Insulinversorgung des Organismus beiträgt, ist es möglich, daß bei Verwendung von LisPro eine relative Erhöhung der Basalinsulindosis schließlich doch zu einer Verbesserung der mittleren Plasmaglukose-Konzentration und damit des HbA1-Wertes im Vergleich mit der ICT unter Verwendung von Normalinsulin führt. H. Rüßmann (3) berichtet über eine unkontrollierte Studie, in der dieses Ziel bei dreimaliger Injektion pro Tag von Verzögerungs-(NPH-)Insulin bei Verwendung von LisPro erreicht wurde. Ob dreimal Verzögerungsinsulin und drei- bis viermal LisPro am Tag aber dann noch als Verbesserung der „Lebensqualität“ verbucht werden kann?

Für die Praxis kann folgendes festgehalten und empfohlen werden: Die pharmakokinetischen Unterschiede von LisPro (schnellere Resorption, kürzere Wirkdauer) im Vergleich zu Normalinsulin sind eindeutig und von potentiellem Vorteil. Der Ersatz von Normalinsulin durch LisPro in der ICT führt in den bisher erprobten Therapieregimen jedoch nicht zu einer signifikanten Verbesserung des HbA1-Wertes und der Hypoglykämierate, und auch die behaupteten Vorteile hinsichtlich „Lebensqualität“ bedürfen der kontrollierten Überprüfung. Es gibt keinen Grund, mit ICT und Normalinsulin gut eingestellte Patienten auf LisPro umzustellen. Bei schlechter Einstellung sollte sich der behandelnde Arzt fragen, ob seine eigene Qualifikation und/oder die Compliance des Patienten zu dem bisher schlechten Therapieergebnis beigetragen haben. Wegen der präprandialen Hypoglykämiegefahr bei unsachgemäßer Anwendung sollte eine Einstellung mit oder eine Umstellung auf LisPro vorerst erfahrenen Diabetologen vorbehalten bleiben.

Hierbei ist darauf zu achten, daß wegen der anderen Pharmakokinetik von LisPro evtl. auch die Versorgung mit Basalinsulin geändert werden muß. Der Patient bedarf also einer erneuten Schulung für den Umgang mit dem Insulinanalogon. LisPro ist am ehesten indiziert bei gut geschulten, verständigen Typ-1-Diabetikern, die Sport treiben und trotz guter Compliance mit einer ICT und Normalinsulin Probleme haben. Bei sportlicher Aktivität etwa 3 Stunden nach einer präprandialen LisPro-Injektion sind Hypoglykämien nur halb so häufig wie nach Normalinsulin. 40 Minuten nach der Injektion von LisPro führt Sport aber häufiger zu Hypoglykämien als nach Normalinsulin, weil zu dieser Zeit LisPro am stärksten wirkt (7). Wegen des schnellen Wirkungseintritts nach LisPro-Gabe ist dieses Insulin bei Patienten mit Magenentleerungsstörungen (Gastroparese bei autonomer diabetischer Neuropathie) kontraindiziert. Da LisPro stärker als natürliches Insulin den Rezeptor für IGF 1 (Insulin-like growth factor 1, der viele Wirkungen von Wachstumshormon vermittelt) stimuliert, besteht ein unbestimmtes Restrisiko der Entstehung oder Stimulierung des Wachstums von Tumoren.

LisPro (Humalog) ist ca. 15% teurer als Normalinsulin.

Literatur

1. Schmauß, S., und Landgraf, R.: Diab. Stoffw. 1996, 4, 117.
2. Standl, E., und Willms, B.: Diab. Stoffw. 1996, 5, 99.
3. Rüßmann, H.: Kassenarzt 1996, 37, 56.
4. Berger, M., und Heinemann, L.: Diabetologia 1997 (im Druck).
5. Mühlhauser, J., et al. in: Berger, M. (Hrsg.): Diabetes mellitus. Urban und Schwarzenberg, München 1995, S. 268.
6. Heinemann, L.: Diabetic Medicine 1995, 12, 449.
7. Tuominen, J.A., et al.: Diabetologia 1995, 38, 106.