Artikel herunterladen

Wirksamkeit und Sicherheit von Thalidomid in der primären Therapie des multiplen Myeloms

Mit Thalidomid, Lenalidomid und Bortezomib (Velcade®) stehen inzwischen neue Wirkstoffe für die Behandlung des multiplen Myeloms (MM) zur Verfügung. Während der Proteasom-Inhibitor Bortezomib 2004 in Deutschland für die Behandlung des refraktären oder rezidivierten MM zugelassen wurde, ist Thalidomid bisher nur in Neuseeland, Australien, der Türkei und Israel für die Indikation refraktäres oder rezidiviertes MM, nicht jedoch von der europäischen Arzneimittelbehörde (EMEA) zugelassen worden. Für Lenalidomid, einen chemischen Abkömmling des Thalidomids (1), wurde im März 2006 ein Zulassungsantrag bei der EMEA für das Anwendungsgebiet refraktäres oder rezidiviertes MM gestellt. Wir werden in Kürze auf die klinischen Studien zur Behandlung des MM mit Bortezomib eingehen und möchten im Folgenden neue Studienergebnisse zur primären Therapie des MM mit Thalidomid vorstellen.

Erste Hinweise auf die Wirksamkeit von Thalidomid bei Patienten mit intensiv vorbehandeltem und progredientem MM ergab eine Phase-II-Studie aus den USA, in der knapp ein Drittel der 84 Patienten auf Thalidomid ansprach (2). Eine im Jahre 2005 veröffentlichte systematische Auswertung von insgesamt 42 unkontrollierten klinischen Studien mit insgesamt 1629 Patienten (medianes Alter 62 Jahre) ergab ein Ansprechen auf eine Monotherapie mit Thalidomid bei Patienten mit refraktärem oder rezidiviertem MM von 29,4% und ein medianes Gesamtüberleben dieser Patienten von 14 Monaten (3). Ebenfalls unkontrollierte klinische Studien untersuchten die Wirksamkeit von Thalidomid in Kombination mit Dexamethason bzw. mit Dexamethason und Zytostatika, z.T. nach Hochdosis-Chemotherapie, gefolgt von autologer peripherer Blutstammzell-Transplantation (PBSCT). In diesen Studien wurden höhere Ansprechraten bei Patienten mit refraktärem oder rezidiviertem MM (45-57% bzw. 67-79%) als nach Monotherapie mit Thalidomid beobachtet (4). Diese Ergebnisse sprechen für synergistische Effekte der Kombination von Thalidomid mit Kortikosteroiden und/oder Zytostatika. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) wie Verstopfung, Müdigkeit oder Schwäche, Somnolenz und Neuropathie traten in diesen Studien sehr häufig auf. Für die UAW Somnolenz und Neuropathie fand sich eine deutliche Dosisabhängigkeit, da sie signifikant häufiger bei einer Dosis > 200 mg/d auftraten (3).

Erste kleinere Studien mit 50 bzw. 68 Patienten zur Monotherapie mit Thalidomid bzw. Kombination von Thalidomid plus Dexamethason bei Patienten mit neu diagnostiziertem MM ergaben eine gute Wirksamkeit von Thalidomid auch in der primären Therapie des MM (5, 6). Inzwischen sind auch randomisierte kontrollierte Studien zur Wirksamkeit und Verträglichkeit von Thalidomid in der primären Therapie des MM durchgeführt und publiziert worden.

In einer Studie der Eastern Cooperative Oncology Group (ECOG) wurde untersucht, ob die Kombination von Thalidomid mit Dexamethason das Ansprechen von Patienten mit neu diagnostiziertem MM gegenüber einer alleinigen Gabe von Dexamethason verbessert (7). Insgesamt 199 Patienten wurden nach Randomisierung im experimentellen Arm mit Thalidomid (200 mg/d) plus Dexamethason (40 mg/d an den Tagen 1-4, 9-12, und 17-20) oder nur mit Dexamethason (Dosierung wie im experimentellen Arm) behandelt. Im Rahmen der Studie waren vier Zyklen dieser Therapie alle vier Wochen vorgesehen, wobei eine Fortführung der Therapie nach vier Zyklen der Entscheidung der behandelnden Ärzte überlassen wurde. Primäre Endpunkte dieser Studien waren Ansprechen und Toxizität innerhalb von vier Monaten bzw. nach vier Zyklen mit Dexamethason ± Thalidomid. Das Ansprechen auf Thalidomid plus Dexamethason (63%, vorwiegend partielle Remissionen) war signifikant besser (p = 0,0017) als auf Dexamethason alleine (41%). Die mediane Zeit bis zum Ansprechen betrug in beiden Therapiearmen 1,1 Monate. Die Gewinnung von hämatopoetischen Stammzellen für eine anschließende hoch dosierte Chemotherapie, gefolgt von autologer PBSCT, war bei 90% der auswertbaren Patienten erfolgreich. Die Häufigkeit von = Grad-3-Toxizität in den ersten vier Monaten der Behandlung war im experimentellen Arm mit Thalidomid plus Dexamethason signifikant (p < 0,001) höher (67%) als im Arm mit Dexamethason (43%). Neben Hyperglykämie, Müdigkeit, Verstopfung, peripherer Neuropathie und Hautveränderungen traten insbesondere tiefe Beinvenenthrombosen deutlich häufiger nach Thalidomid plus Dexamethason (17%) als nach Dexamethason alleine (3%) auf. In dieser Studie wurde keine prophylaktische Antikoagulation mit Kumarin-Derivaten oder niedermolekularen Heparinen durchgeführt, sondern bei Patienten, die eine tiefe Beinvenenthrombose oder Lungenembolie entwickelten, die Gabe von Thalidomid vorübergehend unterbrochen und erst nach therapeutischer Antikoagulation fortgesetzt. Die Ergebnisse dieser Studie waren Grundlage für die Zulassung von Thalidomid durch die Food and Drug Administration (FDA) in den USA für die primäre Therapie von Patienten mit MM.

In der multizentrischen randomisierten kontrollierten Studie des italienischen Multiplen Myelom Netzwerks der GIMEMA wurde bei älteren Patienten (überwiegend = 65 Jahre) die Wirksamkeit von oral verabreichtem Melphalan plus Prednison plus Thalidomid (MPT) mit einer Standardtherapie von MP verglichen (8). Patienten mit neu diagnostiziertem MM im Stadium II (etwa 40%) oder Stadium III (etwa 60%) nach Durie und Salmon erhielten nach Randomisierung entweder die Standardtherapie mit MP oder MPT. Thalidomid wurde in der Dosis von 100 mg/d kontinuierlich während der ersten sechs Zyklen und anschließend als Erhaltungstherapie bis zum Auftreten einer refraktären Erkrankung oder eines Rezidivs verabreicht. Primäre Endpunkte dieser Studie waren das klinische Ansprechen (beurteilt nach sechs Monaten Behandlung mit MPT bzw. mit MP) und das ereignisfreie Überleben, sekundäre Endpunkte u.a. das Gesamtüberleben und die Häufigkeit von = Grad-3-Toxizität. Da in einer zweiten Zwischenanalyse der experimentelle Arm (MPT) sowohl in der Ansprechrate als auch in der Verlängerung des ereignisfreien Überlebens signifikant der Standardtherapie mit MP überlegen war, wurde im Mai 2005 nach Randomisierung von 331 Patienten (87% der geplanten Fallzahl) die Studie vorzeitig beendet. Für die Publikation der Studienergebnisse im Lancet wurden 255 Patienten mit mindestens sechs Monaten Beobachtungsdauer ausgewertet. Patienten sprachen auf die Therapie mit MPT signifikant besser an (komplettes oder partielles Ansprechen: 76%) als Patienten, die MP erhalten hatten (47,6%). Die mediane Zeit bis zum Erreichen zumindest eines partiellen Ansprechens betrug 1,4 Monate im MPT- und 3,1 Monate im MP-Arm. Nach einer medianen Beobachtungszeit von 17,6 Monaten (MPT) bzw. 15,2 Monaten (MP) betrug das ereignisfreie Überleben (geschätzt für zwei Jahre) 54% für Patienten nach MPT und 27% für Patienten nach MP (p = 0,0006). Das Gesamtüberleben nach drei Jahren (MPT: 80% versus MP: 64%) unterschied sich nicht signifikant (p = 0,19). Die relativ hohe Zahl an Todesfällen innerhalb der ersten neun Monate im experimentellen Arm (n = 13, davon n = 11 aufgrund UAW, siehe unten) und die im Studiendesign vorgesehene Möglichkeit, bei Krankheitsprogress im MP-Arm zusätzlich Thalidomid zu erhalten, müssen jedoch bei der Interpretation des Gesamtüberlebens berücksichtigt werden. Grad-3/-4-Toxizitäten traten bei 48% der Patienten im MPT- und bei 25% der Patienten im MP-Arm auf. Die insgesamt elf Todesfälle (8%) im MPT-Arm waren auf Herzrhythmusstörungen, Myokardinfarkt, Pneumonie, und Thromboembolie zurückzuführen. Auch in dieser Studie traten neben den bekannten UAW (z.B. Verstopfung, Müdigkeit oder Somnolenz, periphere Neuropathie) tiefe Beinvenenthrombosen oder Lungenembolien signifikant häufiger nach MPT (12%) als nach MP (2%) auf. Eine prophylaktische Antikoagulation wurde in der italienischen Studie nach knapp zweijähriger Laufzeit eingeführt und niedermolekulares Heparin (Enoxaparin 40 mg/d, Clexane®) während der ersten vier Zyklen der Behandlung mit MPT sc. verabreicht. Vor Einführung der prophylaktischen Antikoagulation brachen 11 von 65 Patienten (17%) die Therapie mit MPT vorzeitig ab, nach Einführung der Antikoagulation 6 von 64 Patienten (9%). Die relativ hohe Rate infektiöser Komplikationen (insbesondere Pneumonien) im MPT-Arm wurde von den Autoren auf die immunmodulatorischen Wirkungen von Thalidomid zurückgeführt.

Fazit: Thalidomid zusätzlich zu Melphalan plus Prednison bzw. Dexamethason verbessert signifikant die Ansprechraten von Patienten mit neu diagnostiziertem multiplem Myelom gegenüber einer Standardtherapie mit Melphalan plus Prednison oder der alleinigen Gabe von Dexamethason. Die besseren Ansprechraten sind jedoch begleitet von deutlich stärkerer, durch Thalidomid ausgelöster Toxizität (z.B. tiefe Beinvenenthrombosen, Infektionen, Verstopfung, periphere Neuropathie, Hautveränderungen). Eine prophylaktische Antikoagulation mit Kumarin-Derivaten oder niedermolekularen Heparinen muss deshalb bei allen Patienten erfolgen, die mit Thalidomid plus Zytostatika oder Thalidomid plus Kortikosteroiden behandelt werden. Für ältere Patienten mit normaler kardialer und pulmonaler Funktion, die für eine hochdosierte Chemotherapie gefolgt von autologer peripherer Blutstammzell-Transplantation nicht geeignet sind, ist die Induktionstherapie mit Melphalan, Prednison und Thalidomid eine gut wirksame Alternative. Bei der Anwendung von Thalidomid müssen, inbesondere aufgrund seiner teratogenen Wirkung, die von der Arzneimittelkommision der deutschen Ärzteschaft empfohlenen Sicherheitsanforderungen eingehalten werden (9).

Literatur

  1. AMB 2004, 38, 32. Link zur Quelle
  2. AMB 2000, 34, 45b. Link zur Quelle
  3. Glasmacher, A., et al.: Br. J. Haematol. 2006, 132, 584 . Link zur Quelle
  4. Dimopoulos, M.A., et al.: J. Clin. Oncol. 2003, 21, 4444 . Link zur Quelle
  5. Rajkumar, S.V., et al.: J. Clin. Oncol. 2002, 20, 4319 . Link zur Quelle
  6. Weber, D., et al.: J. Clin. Oncol. 2003, 21, 16 . Link zur Quelle
  7. Rajkumar, S.V., et al. (ECOG = Eastern Cooperative Oncology Group): J. Clin. Oncol. 2006, 24, 431 . Link zur Quelle
  8. Palumbo, A., et al. (GIMEMA = Gruppo Italiano Malattie Ematologiche Maligne dell’Adulto): Lancet 2006, 367, 825 . Link zur Quelle
  9. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: Dtsch. Ärztebl. 2004, 101, B114.