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Unterbehandelt trotz Polypharmakotherapie?

Wegen der Polymorbidität älterer Menschen sind wir häufig mit Patienten konfrontiert, die viele Medikamente einnehmen. Es gibt nicht wenige Ärzte, die die alten Menschen mit ihren vielen chronischen Erkrankungen gar als „Opfer der Evidenz-basierten Medizin” sehen (1).

Etwa bis zum 85. Lebensjahr nimmt die Zahl der durchschnittlich eingenommenen Medikamente stetig zu und erst in der zehnten Lebensdekade wieder ab. Nach einer lokalen Erhebung in einer österreichischen Universitätsklinik erhalten internistische Patienten über 75 Jahre bei durchschnittlich sieben Diagnosen im Mittel 7,5 Medikamente (2). Diese Zahlen sind in den westeuropäischen und nordamerikanischen Ländern verblüffend ähnlich. Eine solche Polypharmakotherapie hat nicht nur große ökonomische Bedeutung und einen negativen Einfluss auf die Medikamenten-Einnahmetreue (Adherence), sondern auch auf die Häufigkeit von Fehlern bei der Verschreibung und auf die Arzneimittelsicherheit.

Eine schlechte Verschreibungsqualität ist charakterisiert durch Fehldosierungen, Mehrfachverordnungen von Medikamenten der gleichen Wirkstoffgruppe, Verordnung unwirksamer oder inadäquater Medikamente (3) und nicht beachtete Arzneimittelinteraktionen. Ein weiterer negativer Aspekt der Polypharmakotherapie ist gerade von M. Kuijpers et al. aus Utrecht beleuchtet worden (4). Diese Gruppe untersuchte 150 ambulante geriatrische Patienten (mittleres Alter 79,6 Jahre, mittlere Zahl der Medikamente 6/d) auf „Unterverschreibung”. Unter diesem Begriff versteht man das Vorenthalten oder Weglassen formal indizierter und nachweislich wirksamer Medikamente.

An Hand der Krankengeschichte wurde nach neun verschiedenen Erkrankungen oder Therapien gesucht und die angewendete medikamentöse Therapie nach den niederländischen Behandlungsleitlinien für praktische Ärzte bewertet. Drei Reviewer beurteilten unabhängig voneinander an Hand der Krankengeschichten, ob ein Patient für die empfohlene Therapie prinzipiell in Frage kommt (Eligibility) und dann, ob die Therapie tatsächlich angewendet wurde. Die bewerteten Parameter, die Kriterien und die Ergebnisse sind in Tab. 1 wiedergegeben. Es zeigte sich, dass bei 20-60% der Patienten ohne erkennbare Gründe eine prinzipiell indizierte Therapie nicht angewendet wurde. Danach wurde dieses Ergebnis mit der Polypharmakotherapie korreliert (definiert als ≥ 5 Medikamente, 61% aller Patienten). Insgesamt waren 43% der Patienten mit Polypharmakotherapie „unterbehandelt”, aber nur 13,5% der Patienten ohne Polypharmakotherapie (adjustierte Odds Ratio: 4,8). Nach einem vorgestellten Rechenmodell steigt mit der Zahl der Medikamente die Wahrscheinlichkeit einer Unterbehandlung linear an.

Fazit: Die Behandlung polymorbider älterer Patienten ist eine Herausforderung. Die erforderliche Polypharmakotherapie führt häufig zu Verschreibungsfehlern. Einer dieser Fehler ist paradoxerweise das Vorenthalten Evidenz-basierter Therapien (Unterbehandlung). Das Risiko von Unterbehandlung scheint dabei mit der Zahl der verschriebenen Medikamente anzusteigen.

Literatur

  1. Meinertz, T., et al.: Arzneimitteltherapie 2005, 23, 176.
  2. Schuler, J., et al.: Vortrag. 2. Deutscher Kongress für Patientensicherheit bei medikamentöser Therapie. Bonn 29./30. November 2007.
  3. AMB 2005, 39, 44. Link zur Quelle
  4. Kuijpers, M.A., et al. (OLDY = OLd people Drugs & dYsregulations): Br. J. Clin. Pharmacol. 2008, 65, 130. Link zur Quelle

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