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Eckpunkte zur Umsetzung des Koalitionsvertrags für die Arzneimittelversorgung: Der Weg ist das Ziel

Unter der plakativen Überschrift „Hochwertige und innovative Arzneimittelversorgung für Deutschland” wurden im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP im Oktober 2009 auf knapp einer halben Seite die wesentlichen Ziele für die zukunftsorientierte Gestaltung des Arzneimittelsektors formuliert (1). Konkretisiert wurden die Pläne der Koalition erst jetzt in den am 26. März 2010 vom Gesundheitsminister Dr. Rösler vorgestellten „Eckpunkten zur Umsetzung des Koalitionsvertrags für die Arzneimittelversorgung”, die am 1. Januar 2011 in Kraft treten sollen. Die Neuordnung des Arzneimittelmarkts soll drei ambitionierte Ziele verfolgen, nämlich die Bereitstellung der „besten und wirksamsten Arzneimittel im Krankheitsfall”, „Preise und Verordnungen von Arzneimitteln, die wirtschaftlich und kosteneffizient sind” sowie die Schaffung „verlässlicher Rahmenbedingen für Innovationen unter Berücksichtigung der Versorgung der Versicherten und der Sicherung von Arbeitsplätzen” (2). Für die innovativen Arzneimittel soll der freie Marktzugang erhalten und den pharmazeutischen Unternehmen im ersten Jahr der Markteinführung auch in Zukunft das Recht eingeräumt werden, ihre Wirkstoffe zum geforderten Preis zu vermarkten. Der pharmazeutische Unternehmer soll zur Markteinführung ein Dossier einreichen, das neben zugelassenen Anwendungsgebieten unter anderem auch Nachweise des „medizinischen Nutzens”, des „medizinischen Zusatznutzens im Vergleich zum Therapiestandard bzw. zu Therapiealternativen” und der „Therapiekosten” beinhaltet. Diese Nachweise sollen auf den im Rahmen der klinischen Zulassungsstudien gewonnenen Erkenntnissen basieren. Anhand dieses Dossiers soll dann der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in kurzer Frist, d.h. spätestens drei Monate nach Zulassung, eine Nutzenbewertung vorlegen und feststellen, für welche Patienten und Erkrankungen ein Zusatznutzen besteht. Arzneimittel ohne Zusatznutzen sollen künftig direkt in das Festbetragssystem überführt werden. Für Arzneimittel mit nachgewiesenem Zusatznutzen vereinbart der pharmazeutische Unternehmer mit dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen innerhalb eines Jahres nach Zulassung in Direktverhandlungen einen Rabatt auf den Abgabepreis des pharmazeutischen Unternehmers mit Wirkung für alle Krankenkassen.

Schaffen diese Eckpunkte nun den „Systemwechsel” und können sie als Grundlage für eine „strukturelle, marktwirtschaftliche Reform” dienen, wie Gesundheitspolitiker der Koalition verkünden? Um diese Frage zu beantworten, müssen die Preisentwicklung bei Arzneimitteln in Deutschland und Abläufe bei der Zulassung innovativer Arzneimittel kurz dargestellt werden. Wir konzentrieren uns hierbei auf Spezialpräparate („innovative Arzneimittel”), deren Erstattung in den Eckpunkten einen großen Raum einnimmt.

Unbestritten ist, dass gesetzliche Maßnahmen zur Kostenkontrolle teurer Arzneimittel aufgrund der stark überdurchschnittlichen Ausgabenanstiege für Arzneimittel für die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV), aber auch Private Krankenversicherung, und der überdurchschnittlich hohen Arzneimittelpreise in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern dringend erforderlich sind (3). Die Ausgaben im GKV-Fertigarzneimittelmarkt, einschließlich der Arzneimittel-, insbesondere Zytostatikarezepturen, lagen im Jahr 2008 bei 29,3 Mrd. € (3) und sind im Jahre 2009 erneut um 5,3% je Versicherten auf mehr als 32 Mrd. €, einschließlich der Zuzahlungen der Versicherten, gestiegen (2). Im Bereich der patentgeschützten Arzneimittel betrug der Zuwachs 2009 fast 9%. Im Wesentlichen sind für den Preisanstieg Spezialpräparate verantwortlich, die z.B. zur Behandlung von Tumor- und rheumatologischen Erkrankungen, bei HIV-Infektionen sowie in der Transplantationsmedizin in klinischen Zentren und Spezialambulanzen eingesetzt und später in der ambulanten Nachsorge weiter verordnet werden (4). Knapp 15 Mio. Verordnungen wurden 2008 in Deutschland für Spezialpräparate ausgestellt und ein Umsatz von ca. 7,0 Mrd. € erzielt (3). Weltweit agierende pharmazeutische Unternehmer konzentrieren ihre Forschungsaktivitäten bereits heute auf den Bereich der Spezialpräparate, da bei den zuvor genannten Erkrankungen häufig Patientenbedürfnisse noch nicht durch existierende Therapien abgedeckt sind und ein Gewinn versprechender Markt vorhanden ist (5). In einer kürzlich publizierten Analyse wurden drei Faktoren beschrieben, die für den kommerziellen Erfolg der Spezialpräparate entscheidend sind. Neben einer Verbesserung von Wirksamkeit, Sicherheit oder Applikationsweise von Arzneimitteln sind es insbesondere die Marktgröße zum Zeitpunkt der Zulassung und die von Analysten für neue Arzneimittel prognostizierte Wachstumsrate innerhalb der ersten fünf Jahre nach Zulassung (6). Leider fehlen jedoch heute bei vielen Spezialpräparaten zum Zeitpunkt der Zulassung Erkenntnisse zum Nutzen bzw. Zusatznutzen, und Aussagen zu unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) sind aufgrund kleiner Patientenzahlen und der in klinischen Studien relativ kurzen Behandlungsdauer bzw. Nachbeobachtung nur begrenzt möglich. Die für die Zulassung von Spezialpräparaten in Europa verantwortliche European Medicines Agency (EMA) beurteilt Wirksamkeit, Sicherheit und Qualität eines neuen Arzneimittels anhand der vor der Zulassung fast ausschließlich vom pharmazeutischen Unternehmer finanzierten klinischen Studien und bewertet die Relation zwischen Wirksamkeit und Risiken, nicht jedoch den mit dem neuen Wirkstoff im Vergleich zu den verfügbaren Arzneimitteln zu erzielenden Fortschritt (7, 8). Wissenschaftlich fundierte Aussagen zur Wirksamkeit und Sicherheit der Spezialpräparate unter Alltagsbedingungen („effectiveness”) und zur Überlegenheit gegenüber dem bisherigen medizinischen Standard (Zusatznutzen) sind deshalb oft nicht möglich, und entsprechende Nachweise können dann auch im Dossier des pharmazeutischen Unternehmers nicht erbracht werden.

Preisverhandlungen der GKV mit pharmazeutischen Unternehmen in Verbindung mit einer wissenschaftlich fundierten Nutzenbewertung neuer Arzneimittel sind grundsätzlich zu begrüßen, kommen allerdings ein Jahr nach Zulassung deutlich zu spät. Die Kosten für Spezialpräparate werden in Deutschland, anders als in den meisten europäischen Ländern, ab dem Zeitpunkt der Zulassung von der GKV übernommen, in der Regel zu dem „Wunschpreis”, den der pharmazeutische Unternehmer selbst festgesetzt hat (9). Die in den Eckpunkten vorgesehene, innerhalb von drei Monaten nach Zulassung vom G-BA vorzunehmende Nutzenbewertung wird auch in Zukunft nur selten möglich sein, da zu diesem Zeitpunkt evidenzbasierte Ergebnisse aus klinischen Studien aus den oben genannten Gründen noch nicht vorliegen (10, 11). Sinnvoller wäre deshalb die Etablierung eines Gremiums unabhängiger Experten, z.B. angesiedelt im G-BA, das Spezialpräparate („innovative Arzneimittel”) unmittelbar nach Zulassung und vor Erstattung durch die GKV anhand des europäischen Bewertungsberichts der EMA und aller klinischen Studienergebnisse, auch der noch unveröffentlichten Studien, bewertet. Anhand von Kriterien wie Wirksamkeit, Toxizität, Ausmaß des therapeutischen Fortschritts und vorhandene medikamentöse Alternativen sollte dann in Verhandlungen mit dem pharmazeutischen Unternehmer ein vorläufiger Erstattungsbetrag festgesetzt werden, der sich auch an Preisen in den europäischen Arzneimittelmärkten (z.B. Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien) orientiert. Bei Indikationsausweitung, die bei Spezialpräparaten häufig nach der Zulassung für eine eng begrenzte Indikation erfolgt, sollte eine Anpassung des Erstattungsbetrags an das größere Umsatzvolumen erfolgen. Aufgabe des Expertengremiums wäre auch, die offenen Fragen für die Durchführung industrieunabhängig geplanter, versorgungsrelevanter klinischer Studien zu formulieren. Wesentliches Ziel dieser von kommerziellen Interessen befreiten klinischen (pragmatischen) Studien nach der Zulassung (12) muss es sein, die heute eindeutig überwiegenden Scheininnovationen von den wenigen echten Fortschritten bei Spezialpräparaten zu unterscheiden. Sinnvoll in diesem Zusammenhang wäre auch die frühzeitige – noch vor Zulassung – Identifizierung und Bewertung von Spezialpräparaten durch so genannte Horizon Scanning Systeme („Frühwarnsystem”) hinsichtlich ihrer Relevanz für die Versorgung sowie sozialen und ökonomischen Auswirkungen. Diese, in verschiedenen europäischen Ländern (z.B. Österreich, Norwegen, Schweden, Großbritannien) von Health Technology Assessment-Organisationen bereits heute praktizierte Maßnahme könnte den Entscheidern im Gesundheitssystem helfen, rationale Allokationsentscheidungen zu treffen und frühzeitig ökonomische Auswirkungen zu berechnen (13).

Nur auf diesem Weg werden zukünftig Kosten-Nutzen-Bewertungen ermöglicht, die dann zu einem späteren Zeitpunkt als solide Grundlage für endgültige Preisverhandlungen der GKV mit dem pharmazeutischen Unternehmer dienen können. Eine zu stark nur auf Arzneimittelpreise fokussierte Neuordnung des Arzneimittelmarkts wird, wenn überhaupt, nur kurzfristig seine Wirkung entfalten und die Qualität bzw. Sicherheit der Arzneimitteltherapie nicht wesentlich verbessern. Auch alte Hüte, wie z.B. die in den Eckpunkten als kurzfristig wirksame Entlastung vorgeschlagene Erhöhung des Herstellerrabatts auf 16%, werden ihr Ziel verfehlen, da von dieser für Arzneimittel ohne Festbetrag vorgesehenen Maßnahme alle Arzneimittel, unabhängig von ihrem therapeutischen Stellenwert, betroffen sind (2).

Literatur

  1. http://www.cdu.de/doc/pdfc/091026-koalitionsvertrag-cducsu-fdp.pdf Link zur Quelle
  2. Eckpunkte zur Umsetzung des Koalitionsvertrags für die Arzneimittelversorgung: Link zur Quelle
  3. Schwabe, U., und Paffrath, D.: Arzneiverordnungs-Report 2009. Springer Medizin Verlag, Heidelberg 2009.
  4. Schwabe, U., und Paffrath, D.: Arzneiverordnungs-Report 2007. Springer Medizin Verlag, Heidelberg 2008.
  5. AMB 2008, 42, 99. Link zur Quelle
  6. Gudiksen, M., et al.: Nat. Rev. Drug Discov. 2008, 7, 563. Link zur Quelle
  7. Eichler, H.-G., et al.: Nat. Rev. Drug Discov. 2010, 9, 277. Link zur Quelle
  8. Garattini, S., und Chalmers, I.: BMJ 2009, 338, b1107. Link zur Quelle
  9. AMB 2008, 42, 25. Link zur Quelle
  10. AMB 2010, 44, 01. Link zur Quelle
  11. Pigeot, I., und Windeler, J.: Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 2005, 48, 580. Link zur Quelle
  12. Zwarenstein, M., und Treweek, S.: CMAJ 2009, 180, 998. Link zur Quelle
  13. Murphy, K., et al.: Int. J. Technol. Assess. Health Care 2007, 23, 324. Link zur Quelle