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Diabetes mellitus Typ 2. Epidemiologie und neue Therapiestrategien

Die Zeitschrift Lancet widmete im Juni ein ganzes Heft dem Thema Diabetes mellitus Typ 2 (DM2), parallel zur 70. Tagung der American Diabetes Association vom 26.-29. Juni 2010 in Orlando, Florida. In einem einleitenden Editorial (1) wird bedauert, dass in der wissenschaftlichen Diskussion dieser und anderer aktueller Kongresse die Bedeutung und praktische Durchsetzbarkeit von Änderungen des Lebensstils nicht ausreichend thematisiert wurde. Auf die modernen Leitlinien des US-Landwirtschaftsministeriums wird hingewiesen, die mehr vegetarische Kost propagieren. Im Kontrast dazu stehe, dass am selben Tag in Brüssel die Forderung nach einem Verkehrsampel-System zur orientierenden Information der Verbraucher abgelehnt wurde, da es doch offensichtlich sei, dass Überernährung, Fehlernährung und Bewegungsarmut die Hauptursachen der DM2-Epidemie sind. Die zunehmende Häufigkeit des DM2 mit allen seinen Folgeerkrankungen komme einer Bankrotterklärung öffentlicher Gesundheitsdienste gleich. „Die Medizin könnte die Schlacht um die Glukose-Kontrolle gewinnen, aber sie verliert gerade den Krieg gegen Diabetes”. Dieser Satz des Editorials wird in großen Buchstaben auf der Titelseite des Lancet zitiert. Umso mehr verwundert es, dass die dann folgenden Artikel sich doch wieder ausschließlich mit den Problemen der Glukose-Kontrolle befassen.

Ein Beitrag der Emerging Risk Factor Collaboration Group (2) befasst sich mit der Beziehung zwischen Blutzucker und DM und kardiovaskulären Erkrankungen (KVE). Anders als in den Beziehungen zwischen Blutdruck und Blutlipiden einerseits und KVE andererseits, in denen es keinen breiten Sicherheitsbereich ohne Risikosteigerung gibt, sind durchschnittliche individuelle Nüchtern-Blutzucker-Werte zwischen 3,9 und 5,6 mmol/l (70 und 101 mg/dl) bei Nicht-Diabetikern nicht mit einem steigenden KVE-Risiko verbunden. Bei Werten zwischen 5,9 und 6,1 mmol/l (106 und 110 mg/dl) ist das Risiko im Vergleich mit letzterem Bereich bereits signifikant, aber vielleicht nicht relevant, erhöht (Hazard ratio = HR: 1,11; CI: 1,04-1,18), stärker noch bei Werten zwischen 6,1 und 7 mmol/l (110 und 126 mg/dl) Nüchten-Blutzucker (HR: 1,17; CI: 1,08-1,26). Diese Berechnungen beruhen auf einer Metaanalyse von 8,49 Mio. Personenjahren aus 102 prospektiven Studien.

Bei Patienten mit der Diagnose DM2 ist im Vergleich mit dem Blutzuckerbereich 3,9-5,6 mmol/l (70-101 mg/dl) die HR für Koronare Herzkrankheit mit 2,0, für ischämischen Schlaganfall mit 2,27 und für hämorrhagischen Schlaganfall mit 1,56 hoch-signifikant erhöht, übrigens bei Frauen viel deutlicher als bei Männern. Wir verweisen auf unseren Artikel, in dem die Beziehungen zwischen dem HbA1c-Wert und der prospektiven Inzidenz von KVE mitgeteilt wurden (3).

In einem Kommentar zu diesem Artikel von H.C. Gerstein aus Kanada (4) wird wohl zu Recht bezweifelt, dass es hauptsächlich die Dysglykämie selbst ist, die die Kreislauferkrankungen verursacht, ohne dass aber die Jahrtausendfrage nach der komplexen Pathogenese diabetischer Gefäßveränderungen beantwortet werden kann.

Die weiteren Artikel und Kommentare in diesem Lancet-Heft befassen sich wieder mit speziellen Methoden zur Senkung des Blutzuckers bei DM2, obwohl der auf der Titelseite des Heftes zitierte Satz diese Forschungsrichtung als unergiebig charakterisiert hat.

Exenatid (Byetta®) ist ein Peptid, das die durch Nahrungszufuhr ausgelöste Sekretionssteigerung von Glucagon-like peptide 1 (GLP-1) aus dem Dünndarm nachahmt und die Insulinsekretion auf hämatogenem Weg stimuliert (5). Die nicht retardierte Substanz muss zweimal am Tag s.c. injiziert werden. Eine unangenehme UAW bei vielen Patienten ist Übelkeit, die zusätzlich zu einer durch die Substanz verursachten verzögerten Magenentleerung zu einer erwünschten Gewichtsabnahme beiträgt. Es besteht Verdacht auf die Auslösung akuter Pankreatitiden durch Exenatid (6). In der neuen Studie DURATION-3 (7) wurde extrem retardiertes Exenatid, das in einer Dosierung von 2 mg nur einmal pro Woche s.c. injiziert wird, mit dem lang wirkenden Insulin-Analogon Glargin (individuelle titrierte Dosierung, einmal abends s.c.) bei DM2-Patienten verglichen, die unter Therapie mit Metformin oder Metformin plus einem Sulfonylharnstoff einen mittleren HbA1c-Wert von 8,3% hatten. In der Studie über 26 Wochen fiel das Körpergewicht unter Depot-Exenatid um ca. 2,5 kg, während es unter Glargin um ca. 1,5 kg anstieg. Der Abfall des HbA1c war nach Exenatid ca. 1,5%-Punkte, nach Glargin ca. 1,3%-Punkte. Hypoglykämien waren unter Exenatid angeblich deutlich seltener als unter Glargin. 13% vs. 1% der Patienten klagten über Übelkeit und bei einem von 162 Exenatid-Patienten trat eine ödematöse Pankreatitis auf.

Diese Studie wird von A. Misra und S. Joshi aus Indien (8) kritisch besprochen. Nach Ansicht der Kommentatoren kommt Depot-Exenatid in erster Linie für adipöse Diabetiker mit Hypoglykämie-Problemen unter Insulintherapie infrage mit völlig offener Ergebnislage bei längerer Behandlung.

Über zu den Mahlzeiten inhalierbares Insulin (besonders für Diabetiker mit Problemen bei oder Angst vor Injektionen) haben wir früher berichtet (9). Wegen geringer Verkaufsraten bei sehr eingeschränkter Indikation und umständlicher Anwendungstechnik hat Pfizer das Präparat Exubera® im Oktober 2007 wieder vom Markt genommen (6). In einer neuen, von der Firma MannKind, USA, gesponserten Multicenter-Studie wurde bei insgesamt 678 DM2-Patienten mit schlecht „eingestelltem” Blutzucker und HbA1c (letzteres im Mittel 8,7%), die zuvor mit Insulin und oralen Antidiabetika behandelt worden waren, eine neue Formulierung von inhalierbarem humanem Insulin (Technosphere inhaled insulin = T-I) getestet (10). Im Gegensatz zu Exubera®, von dem ein erheblicher Prozentsatz nach Übertritt aus den Lungenalveolen in die Kapillaren im Lungengewebe verbleibt, wird die neue Formulierung angeblich bis auf < 1% ins Blut aufgenommen. Darum muss das T-I im Vergleich mit s.c. verabreichtem Insulin auch weniger hoch dosiert werden als Exubera®. Das inhalierte T-I flutet wesentlich schneller an als s.c. injiziertes nicht-retardiertes Humaninsulin und eignet sich nur für die Bolus-Therapie zu den Mahlzeiten. Die Studienpatienten wurden in zwei Gruppen eingeteilt: T-I zusammen mit dem Insulin-Analogon Glargin zur Nacht (A) oder T-I zusammen mit zweimal täglich Insulin Biaspart (70% retardiertes und 30% nicht-retardiertes Insulin-Analogon Aspart in einer Ampulle = B). In dieser 52-Wochen-Studie war die Senkung des HbA1c in beiden Gruppen fast gleich. Patienten der Gruppe A nahmen weniger an Gewicht zu und hatten weniger Hypoglykämien als die der Gruppe B. Erstaunlicherweise klagten 33% der A-Patienten, aber nur 6% der B-Patienten über Husten. Fast ein Drittel der Studienteilnehmer in beiden Gruppen brach die Studie ab. Für eine Langzeittherapie mit inhaliertem Insulin wird ein karzinogenes Risiko gesehen, da Insulin über eine Stimulierung des IGF1-Rezeptors Tumore der Lunge und Bronchien initiieren oder stimulieren könnte. In dieser relativ kurzen Studie waren Neoplasmen sehr selten.

Auch diese Studie wird im Lancet kritisch kommentiert. C.J. Bailey und A.H. Barnett aus Birmingham (11) haben Sicherheitsbedenken für die Langzeitanwendung bei den relativ wenigen für diese Therapie infrage kommenden Patienten und empfehlen für die nächsten Studien: Proceed with caution!

Die letzte hier zu besprechende Studie betrifft Dapagliflozin, einen Hemmer des Natrium (Sodium)-Glukose-Transporters 2 (SGLT2), der bei Gesunden die komplette Rückresorption von Glukose aus dem Primärharn im proximalen Nierentubulus bewirkt. Das entspricht ca. 180 g Glukose am Tag. C.J. Bailey et al. (12) behandelten in einer ersten Phase-III-Studie nach Randomisierung vier Gruppen von insgesamt 534 Patienten mit DM2, die mit einer Metformin-Monotherapie (1500 mg/d Metformin oder mehr) noch HbA1c-Mittelwerte von 7,92% bis 8,17% hatten, in 80 Diabetes-Praxen entweder mit Plazebo oder mit 2,5 mg/d, 5 mg/d oder 10 mg/d Dapagliflozin in Einzeldosen. Das Ergebnis war eine erhebliche Zunahme der Glukosurie, eine osmotische Diurese mit leichtem Anstieg des Hämatokritwerts und ein gradueller dosisabhängiger Abfall von HbA1c und Körpergewicht in den Verum-Gruppen. Nach 24 Wochen (Endpunkt der Studie) waren die Änderungen der HbA1c-Werte unter Plazebo bzw. steigender Dosis des Verums wie folgt: -0,33%-Punkte bzw. -0,99%-, -1,19%-, -1,30%-Punkte. Das mittlere Körpergewicht änderte sich um: -0,9 kg bzw. -2,2 kg, -3,0 kg, -2,9 kg. Ein unerwarteter Nebeneffekt war eine Abnahme der Serum-Harnsäure um ca. 10-15% in den Verum-Gruppen. Harnwegsinfektionen waren in den Verum-Gruppen nicht häufiger als unter Plazebo, jedoch genitale Infektionen mit 8-13% vs. 5%. Die Studie wurde gemeinsam von Bristol-Myers Squibb und AstraZeneca gesponsert.

Auch diese Studie wird durch einen Kommentar gewürdigt. M. Hanefeld und T. Forst aus Dresden (13) halten Dapagliflozin für einen in der „Add-on”-Therapie zu Metformin geeigneten Kandidaten und empfehlen die weitere klinische Entwicklung unter sorgsamer Beachtung von UAW, die in Kurzzeitstudien nicht ausreichend beurteilt werden können.

Die drei vorgestellten Therapiestudien zur Kontrolle der Glykämie bei DM2 repräsentieren kleine innovative Schritte in der Behandlung des DM2. Die Höhe des nüchternen und postprandialen Blutzuckers bei Diabetikern und der Integralwert HbA1c sind mitbestimmend für die mikrovaskulären Komplikationen bei DM2 und DM1. Wieweit sich eine gute Kontrolle der Glykämie auf eine Reduktion makrovaskulärer Ereignisse auswirkt, ist weniger klar. Die Ergebnisse der ultralangen UKPDS-Folgestudien (14) ermutigen, die Ergebnisse der ACCORD-Studie (15) bremsen die Bemühungen, den Blutzucker gemeinsam mit Blutdruck und Blutlipiden bei DM2-Patienten möglichst dicht an die oberen Normgrenzen heranzuführen. Das am Anfang dieses Artikels angesprochene epidemiologische Problem der durch komplexe kulturelle und nichtkulturelle Veränderungen verursachten DM2-Epidemie ist mit Arzneimitteln allein nicht in den Griff zu bekommen, liegt aber nicht außerhalb der ärztlichen Zuständigkeit.

Literatur

  1. Editorial: Lancet 2010, 375, 2193. Link zur Quelle
  2. The Emerging Risk Factors Collaboration: Lancet 2010, 375, 2215. Link zur Quelle
  3. AMB 2010, 44, 43. Link zur Quelle
  4. Gerstein, H.C.: Lancet 2010, 375, 2195. Link zur Quelle
  5. AMB 2007, 41, 50. Link zur Quelle
  6. AMB 2007, 41, 88. Link zur Quelle
  7. Diamant, M., et al. (DURATION-3 = Diabetes therapy Utilization: Researching changes in A1C, weight and other factors Through Intervention with exenatide ONce weekly-3): Lancet 2010, 375, 2234. Link zur Quelle S.a. AMB 2009, 43, 06. Link zur Quelle
  8. Misra, A., und Joshi, S.: Lancet 2010, 375, 2198. Link zur Quelle
  9. AMB 2006, 40, 18. Link zur Quelle
  10. Rosenstock, J., et al.: Lancet 2010, 375, 2244. Link zur Quelle
  11. Bailey, C.J., und Barnett, A.H.: Lancet 2010, 375, 2199. Link zur Quelle
  12. Bailey, C.J., et al.: Lancet 2010, 375, 2223. Link zur Quelle
  13. Hanefeld, M., und Forst, T.: Lancet 2010, 375, 2196. Link zur Quelle
  14. AMB 2008, 42, 94. Link zur Quelle
  15. AMB 2010, 44, 29a. Link zur Quelle und AMB 2010, 44, 66. Link zur Quelle