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Gibt es eine wirksame Therapie bei Muskelkrämpfen in den Beinen?

Zusammenfassung: Spontane (nächtliche) Krämpfe der Beinmuskulatur sind ein häufiges klinisches Problem. Die Ursachen sind oft nicht zu eruieren („idiopathisch“). Manchmal sind sie ein Symptom einer zugrunde liegenden Krankheit. Auch Arzneimittel können solche Krämpfe auslösen oder begünstigen (vgl. Tab. 1). Sie sollten identifiziert und ggf. umgestellt werden. Zur Therapie gibt es nur sehr wenige aussagekräftige Studien. Neben ausreichender Trinkmenge und Elektrolytzufuhr sind regelmäßige abendliche Übungen mit Dehnung der Beinmuskulatur nachweislich wirksam. Eine medikamentöse Prophylaxe der Beinkrämpfe ist sehr sorgsam nach Nutzen und Risiko abzuwägen. Für die Mehrzahl der angewendeten Arzneimittel gibt es keine validen Wirksamkeitsnachweise und somit auch keine Empfehlungen. Von Chinin-haltigen Präparaten raten wir ab wegen unerwünschter Arzneimittelwirkungen, z.B Herzrhythmusstörungen oder Hypersensitivitätsreaktionen. Sie sind zwar selten, aber potenziell sehr gefährlich.

Spontane, schmerzhafte Krämpfe in der Fuß-, Waden- oder Oberschenkelmuskulatur sind ein häufiges Problem, vor allem bei älteren Menschen. Die Krämpfe treten oft in Ruhe, besonders in der Nacht, auf und können länger anhalten. Akut helfen Muskeldehnungen und -streckungen, hingegen ist nicht klar, ob es eine Prophylaxe gibt. Obwohl spontane Muskelkrämpfe so häufig sind, sind die Studien zur medikamentösen Therapie qualitativ meist dürftig und die Evidenz für Empfehlungen somit gering (1).

Die bekannten Ursachen spontaner Krämpfe in den Beinmuskeln sind vielfältig: Hypovolämie, ungewöhnliche Anstrengungen bei Trainingsmangel, erniedrigte Elektrolytkonzentrationen von Kalium, Natrium, Magnesium, Kalzium sowie Vitaminmangel (B, D) und Alkoholabusus sind hier in erster Linie zu nennen. Bei einigen Patienten werden Krämpfe auch durch eine definierte, oft chronische Grunderkrankung bedingt bzw. begünstigt: dialysepflichtige Niereninsuffizienz, Leberzirrhose, venöse Insuffizienz, pAVK, Hypothyreose, M. Addison, Polyneuropathien, Arthritiden, Spinalkanal-Stenose oder zentrale Störungen der Motorik, z.B. M. Parkinson. Aber sehr oft sind die Ursachen der Krämpfe nicht zu eruieren. Auch Medikamente spielen bei der Entstehung spontaner Muskelkrämpfe eine Rolle (s. Tab. 1). Eine kritische Arzneimittelanamnese mit Blick in die Fachinformation ist daher unerlässlich.

Behandlungsansätze: Sie sind so vielfältig wie die möglichen Ursachen von spontanen Beinkrämpfen und spiegeln die fehlende Evidenz aus Studien und somit die therapeutische Unsicherheit wider. Nach einer aktuellen Umfrage unter kanadischen Neurologen (2) empfehlen 66% der Spezialisten den Patienten, genügend zu trinken, 44% regelmäßige Dehnungsübungen und 40% Massagen. Von den verordneten Arzneimitteln wurden genannt: Baclofen (53%), Chinin und chemische Abkömmlinge (50%), Gabapentin (50%), Carbamazepin (28%), Verapamil und Diltiazem zusammen (32%), Vitamin B (16%), Phenytoin (16%), Levetiracetam (7%), Vitamin E (5%), Phytopharmaka (7%). Magnesiumsalze, die hierzulande wohl am häufigsten als Nahrungsergänzungsmittel eingenommen werden, spielen in Kanada nur als Selbstmedikation eine Rolle und sind deshalb hier nicht aufgeführt. Die Zahlen addieren sich wegen Mehrfachnennungen nicht zu 100%.

Gymnastik: Der Effekt gymnastischer Übungen wurde 2012 in einer randomisierten kontrollierten Studie (RCT) aus Groningen untersucht (3). Dabei machten 80 Patienten, die nicht mit Chinin behandelt waren, entweder abends Gymnastik oder erhielten „Usual care“. Die Gymnastik erlernten die Patienten von einem Physiotherapeuten. Sie bestand in dreiminütigen Dehnungen der Waden- und der hinteren Oberschenkelmuskulatur, wobei die Muskelgruppen jeweils zehn Sekunden lang gestreckt wurden. Die Gymnastik wurde unmittelbar vor dem Zubettgehen sechs Wochen lang durchgeführt. Die Häufigkeit der Krämpfe reduzierte sich durch die Dehnübungen von 3,4 auf 1,4 Attacken pro Nacht und in der Kontroll-Gruppe von 3,2 auf 2,4. Die Abnahme der Krämpfe durch die Gymnastik betrug also 1,2 Krämpfe pro Nacht (95%-Konfidenzintervall = CI: 0,6-1,8; p < 0,05). Auch die Schwere der Krämpfe ließ in der Gymnastikgruppe nach (im Mittel um 1,3 cm auf einer 10 cm visuellen Analogskala). In der Kontroll-Gruppe blieb sie unverändert.

2012 wurde ein Cochrane Review zu nicht-pharmakologischen Maßnahmen bei spontanen Beinkrämpfen publiziert (4). Darin wurde neben Dehnübungen auch der Effekt von Fitnesstraining, das Vermeiden starker physischer Anstrengungen, Massagen, Entspannungsübungen, Nervenstimulation oder das Tragen von Knöchelschienen untersucht. Auf Grund erheblicher methodischer Mängel und zu kleinen Patientenzahlen in den Publikationen kam das Review zu dem Ergebnis, dass es allenfalls eine sehr begrenzte Evidenz dafür gibt, dass die aufgeführten Maßnahmen wirksam sind und dass dringend randomisierte kontrollierte Studien (RCT) benötigt werden. Auch Daten zu Akupunktur und Akupressur liegen allenfalls in anekdotischer Form vor.

Magnesium: Es sind verschiedene Magnesiumverbindungen als Nahrungsergänzungsmittel auf dem Markt. Sie werden stark beworben und sehr häufig bei spontanen nächtlichen Beinkrämpfen eingenommen. Die Studien zu dieser Intervention sind jedoch ebenfalls überwiegend klein. In einem 2011 publizierten RCT wurden 46 älteren Erwachsenen (mittleres Alter 69 Jahre) mit nächtlichen Muskelkrämpfen fünf Tage lang jeweils 20 mmol Magnesiumsulfat oder Plazebo intravenös infundiert (5). Die Häufigkeit von Muskelkrämpfen wurde dadurch nicht signifikant gesenkt: von durchschnittlich 8/Woche um 2,4 durch Magnesium bzw. um 1,7 durch Plazebo (CI: -3,1 bis -1,7; p = 0,51). Auch bei Patienten, die besonders viel des infundierten Magnesiums im Körper retinierten (Messung der Magnesiumausscheidung im Urin), war die Besserung der Beinkrämpfe nur unbedeutend.

In einem Cross-over RCT aus dem Jahre 2002 nahmen 46 Patienten jeweils sechs Wochen lang Magnesiumcitrat (300 mg/d) oder Plazebo oral ein (6). Patienten die mit Plazebo begannen (n = 29), hatten im Mittel neun Krämpfe/Woche und dann unter Magnesium fünf/Woche. Patienten, die mit Magnesium begannen (n = 17) hatten ebenfalls zunächst neun Krämpfe/Woche und dann unter Plazebo acht/Woche. Dauer und Schwere der Krämpfe waren nicht unterschiedlich zwischen Magnesium und Plazebo. In einem weiteren Cross-over RCT aus dem Jahre 1999 nahmen 45 Patienten vier Wochen lang wesentlich höhere Mengen Magnesium ein (zweimal 900 mg/d; 7). Dabei fand sich ebenfalls kein signifikanter Unterschied zwischen Magnesium- und Plazebo-Behandlung.

Ein Cochrane Review aus dem Jahre 2012 identifizierte insgesamt 7 RCT mit 406 Patienten zur Behandlung mit Magnesium. Drei dieser Studien (202 Patienten) beschäftigten sich mit schwangerschaftsassoziierten Muskelkrämpfen. Während bei dieser Indikation ein gewisser Nutzen von Magnesium berechnet wurde, ergaben sich bei den „idiopathischen“ Muskelkrämpfen nur geringe, statistisch nicht-signifikante Effekte. Der Anteil der Patienten, die eine mindestens 25%ige Abnahme der Krampfhäufigkeit erfahren, war zwischen Magnesium- und Plazebo-Behandlung gleich. Ebenso fand sich kein Unterschied in der Krampfintensität, sodass dieser Review zu dem Schluss kommt, es sei unwahrscheinlich, dass Magnesium einen klinisch bedeutsamen Nutzen bei spontanen Beinkrämpfen hat (8).

Chininsulfat: Chininsulfat wird seit Jahrzehnten zur akuten Behandlung und zur Prophylaxe bei spontanen nächtlichen Muskelkrämpfen beworben und verwendet (z.B. Limptar N®; 200 mg Chininsulfat/Tablette; Preis in Discount-Apotheken ca. 0,40 €/Tabl.). Zum Vergleich: in einem Liter chininhaltigem Tonic-Water sind etwa 60-80 mg Chinin enthalten. Das Arzneimittel soll laut Fachinformation zum Abendessen eingenommen werden und bei starken nächtlichen Krämpfen zusätzlich eine zweite Tablette vor dem Zubettgehen.

In einem im Lancet publizierten RCT aus dem Jahre 1997 wurden 112 Patienten mit mindestens drei Muskelkrämpfen/Woche in drei Phasen von je zwei Wochen Dauer (Qualifikation, Behandlung, Washout) entweder mit 300 mg Hydrochinin (n = 54) oder mit Plazebo (n = 58) behandelt (9). In beiden Gruppen nahm die Häufigkeit der Krämpfe ab: in der Hydrochinin-Gruppe im Median um acht und unter Plazebo um drei Attacken/Woche. Bei zwei Dritteln der Patienten in der Hydrochinin-Gruppe nahm die Häufigkeit der Krämpfe um mehr als 50% ab, wobei Krampfintensität und -dauer unverändert blieben.

Ein Cochrane Review aus dem Jahre 2010 fand 23 Studien mit 1586 Patienten, die mit der Indikation Beinkrämpfe mit Chinin behandelt worden waren (10). 85% dieser Studiendaten wurden allerdings nicht in Journalen mit Peer review publiziert. Chinin wurde in Tagesdosen zwischen 200-500 mg überwiegend mit Plazebo (20 Studien) verglichen oder mit einer Chinin-Kombination (mit Vitamin E oder Theophyllin) oder mit lokalen Xylocain-Injektionen. Die Cochrane-Analyse ergab, dass Chinin im Vergleich zu Plazebo die Krampfhäufigkeit signifikant um 28% senkte, die Krampftage um 20% und die Krampfintensität um 10%. Eine Kombination mit Theophyllin oder Vitamin E scheint keine Vorteile gegenüber Chinin allein zu bringen. Das Review kommt zu dem Schluss, dass es nur eine moderate Evidenz dafür gibt, dass Chinin gegen Muskelkrämpfe wirksam ist.

Dem stehen jedoch erhebliche Bedenken hinsichtlich der Verträglichkeit von Chinin gegenüber. Neben einer signifikanten Zunahme gastrointestinaler Beschwerden und Thrombopenien sind besonders die potenziell lebensbedrohlichen kardialen Wirkungen (QT-Zeit-Verlängerung, AV-Blockierungen) und andere Nebenwirkungen zu nennen: fatale Hypersensitivitätsreaktionen, Hämolytisch-urämisches Syndrom u.a. Die U.S. Food and Drug Administration (FDA) warnt vor potenziell schweren Nebenwirkungen und multiplen Arzneimittelinteraktionen. Sie rät den Ärzten, Chininsulfat, das in den USA als Qualaquin® nur zur Therapie der Plasmodium-falciparum-Malaria zugelassen ist, wegen der ungünstigen Nutzen-Risiko-Relation nicht zur Behandlung spontaner Beinkrämpfe anzuwenden (12). Der pharmazeutische Unternehmer URL Pharma gab im vergangenen Jahr sogar eine „Important Drug Warning“ für sein Präparat Qualaquin® heraus, in der auf die potenziellen immunologischen und hämatologischen Nebenwirkungen und die mangelnde Wirksamkeit bei Beinkrämpfen hingewiesen wird: „The risk associated with Qualaquin use in the absence of evidence of its effectiveness in the treatment or prevention of nocturnal leg cramps outweighs any potential benefit“ (12). In Deutschland, Österreich und anderen europäischen Ländern ist dagegen Chininsulfat zur Behandlung von Beinkrämpfen zugelassen und in Deutschland als Limptar® N sogar rezeptfrei erhältlich. Dieser extreme Unterschied in der Einschätzung von Wirksamkeit und Risiken zwischen den USA und Europa verwundert. Auf der Webseite der Klosterfrau Healthcare Group (Cassella-med) wird Limptar® N als „effektiv und schnell wirksam“ bezeichnet (13). Auf potenzielle Nebenwirkungen wird nicht näher eingegangen. Es findet sich nur der Pflichttext „Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“. Zur Gebrauchsinformation muss man sich erst durchklicken.

Zu den Wirkstoffen, die zur Behandlung spontaner nächtlicher Beinkrämpfe eingesetzt werden, aber für andere Indikationen zugelassen sind, gehören: Diltiazem, Vitamin-B-Komplex, Gabapentin, Carbamazepin und Baclofen. Für die Wirksamkeit dieser pharmakologisch sehr unterschiedlichen Stoffe bei idiopathischen nächtlichen Beinkrämpfen liegt keine überzeugende Evidenz vor. Die Studien sind zu klein oder es wurden nur anekdotische Berichte publiziert und insgesamt sind die Ergebnisse nicht in aussagekräftigen Studien bestätigt. Deshalb ist auch das Verhältnis von Nutzen und Risiken dieser Wirkstoffe in dieser Indikation nicht abzuschätzen.

Therapeutisches Vorgehen: In Anbetracht der wenigen in ihrer Wirksamkeit gesicherten Interventionen, kann bei spontanen Beinkrämpfen empfohlen werden, zunächst alles abzustellen, was die Erregbarkeit der Muskulatur erhöht: z.B. Alkoholkonsum. Generell ist auf eine ausreichende Trinkmenge, adäquate Elektrolytzufuhr und Vermeiden ungewohnter körperlicher Anstrengungen zu achten. Möglicherweise induzierende Grunderkrankungen sollten als solche erkannt und optimal behandelt sowie Mangelzustände (Dehydratation, Elektrolyte, Schilddrüsenhormon, Vitamin D und B) ausgeglichen werden. Besteht eine Therapie mit Medikamenten, die Beinkrämpfe fördern können (s. Tab. 1), sollten sie mindestens einmal pausiert werden, um einen möglichen Zusammenhang festzustellen bzw. auszuschließen. Ggf. ist dann eine Umstellung der Medikamente erforderlich.

Regelmäßige abendliche Dehnübungen von Fuß-, Unterschenkel- und Oberschenkelmuskulatur sind als Basisprophylaxe hilfreich. Plantarflexion in den Sprunggelenken sollte bei der Schlafposition vermieden werden (Spitzfußstellung bei Bauchschläfern!). Da Magnesium oral im Allgemeinen gut toleriert wird und nicht allzu teuer ist (Tageskosten ca. 0,50 € bei 600 mg), wird in den gängigen Leitlinien ein Therapieversuch mit Magnesium empfohlen (vgl. 14). Solche Versuche sind aber oft erfolglos. Die prophylaktisch empfohlene Menge Magnesium lässt sich allerdings auch mit Vollkornprodukten, Haferflocken, Gemüse, Hülsenfrüchten und Nüssen erreichen. Eine Banane z.B. enthält etwa 100-150 mg Magnesium und 100 g Cashew-Nüsse etwa 250 mg. Wahrscheinlich ist ein wirklicher Magnesiummangel als Ursache der Beinkrämpfe selten. Chininsulfat ist zwar moderat wirksam, doch raten wir wegen potenzieller schwerer Nebenwirkungen davon ab.

Literatur

  1. Allen, R.E., und Kirby, K.A.: Am. Fam.Physician 2012, 86, 350. Link zur Quelle
  2. Fat, M.J., et al., J. Foot Ankle Res. 2013, 6, 2. Link zur Quelle
  3. Hallegraef, J.M., et al.: J. Physiother. 2012, 58,17. Link zur Quelle
  4. Blyton, F.,et al.: Cochrane Database of Systematic Reviews 2012, 1. Art. No.: CD008496. Link zur Quelle
  5. Garrison, S.R., et al.: J. Gerontol. A Biol. Sci. 2011, 66, 661. Link zur Quelle
  6. Roffe,C., et al.: Med. Sci. Monit. 2002, 8, CR326. Link zur Quelle
  7. Frusso, R., et al.: J. Fam. Pract. 1999, 48, 868. Link zur Quelle
  8. Garrison, S.R., et al.: Cochrane Database of Systematic Reviews 2012, 9.Art. No.: CD009402. Link zur Quelle
  9. Jansen, P.H., et al.: Lancet 1997, 349, 528. Link zur Quelle
  10. El-Tawil,S., et al.: Cochrane Database of Systematic Reviews 2010, 12. Art. No.:CD005044. Link zur Quelle
  11. http://www.fda.gov/downloads/drugs/drugsafety/ucm192698.pdfApril%202013 Link zur Quelle
  12. http://www.qualaquin.com/URL_Qualaquin_DHCP_Letter.pdf Link zur Quelle
  13. http://www.limptar.de/das-produkt-limptarr-n.html?gclid=CM7dsb_isboCFYmN3godVjgAnA Link zur Quelle
  14. http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/030-037l_S1_Crampi_Muskelkrampf_2012.pdf Link zur Quelle

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