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Neues onkologisches Arzneimittel: Pomalidomid zur Behandlung des rezidivierten oder refraktären Multiplen Myeloms

Die medikamentöse Behandlung des Multiplen Myeloms (MM) erfährt derzeit einen Wandel, denn verschiedene neue Wirkstoffe stehen zur Verfügung oder befinden sich noch in klinischer Erprobung (1). Die Hochdosis-Chemotherapie mit Melphalan, gefolgt von autologer Stammzell-Transplantation (ASCT), gilt für Patienten in gutem Allgemeinzustand heute als medizinischer Standard. Demgegenüber gibt es verschiedene medikamentöse Therapiealternativen beim MM, sowohl für die Induktionstherapie vor und für die Erhaltungstherapie nach ASCT als auch für die Behandlung von Patienten mit refraktärer oder rezidivierter Erkrankung (1, 2). Ein medizinischer Standard existiert deshalb für diese Krankheitssituationen derzeit nicht.

Pomalidomid (Imnovid®) in Kombination mit Dexamethason wurde im Februar 2013 von der Food and Drug Administration (FDA) und im August 2013 von der European Medicines Agency (EMA) für die Behandlung des rezidivierten oder refraktären MM zugelassen. Die Anwendung von Pomalidomid ist beschränkt auf Patienten, die mindestens zwei vorausgegangene Therapien, darunter mit Lenalidomid (Revlimid®) und Bortezomib (Velcade®) („double-refractory“ MM; 2), erhalten und unter der letzten Therapie einen Progress gezeigt haben (3). Die Zulassung von Pomalidomid durch die EMA basiert auf den Ergebnissen einer multizentrischen (93 Zentren!), randomisierten, offenen Phase-III-Studie (MM-003), die kürzlich in Lancet Oncology publiziert wurde (4). Pomalidomid ist ein „immunomodulatory drug“ (IMiD) der dritten Generation, das auch antiproliferative, pro-apoptotische und antiangiogenetische Effekte hat, dessen genauer Wirkmechanismus bei MM jedoch noch nicht klar ist (2, 5). Aufgrund positiver Ergebnisse in Phase-I/II-Studien mit Pomalidomid bei Patienten mit refraktärem oder rezidiviertem MM (Übersicht in 2) erhofft man sich eine stärkere Wirksamkeit in vivo im Vergleich zu den anderen IMiDs, Thalidomid und Lenalidomid. In der Zulassungsstudie MM-003, deren Nachbeobachtung noch nicht abgeschlossen ist, wurden Wirksamkeit und Sicherheit von Pomalidomid in Kombination mit niedrig dosiertem Dexamethason (LD-Dex) verglichen mit hochdosiertem Dexamethason (HD-Dex) bei Patienten mit „double-refractory“ MM. Primärer Endpunkt war das progressionsfreie Überleben (PFS) und sekundäre Endpunkte u.a. Gesamtüberleben (OS), Ansprechrate, Zeit bis zum Progress, Sicherheit sowie Lebensqualität (4). Die Randomisierung erfolgte im Verhältnis von 2:1 und insgesamt erhielten in der Interventionsgruppe 302 Patienten Pomalidomid (4 mg oral an den Tagen 1-21) plus LD-Dex (40 mg/d oral an den Tagen 1, 8, 15, 22) und in der Kontroll-Gruppe 153 Patienten HD-Dex (40 mg oral an den Tagen 1-4, 9-12 und 17-20). Die Therapiezyklen wurden alle 28 Tage wiederholt bis zum Progress oder inakzeptabler Toxizität. Die Planung der MM-003-Studie erfolgte durch die klinischen Prüfer in Kooperation mit dem pharmazeutischen Unternehmer (pU; Celgene, USA). Knapp ein Drittel (31%) der intensiv vorbehandelten Patienten zeigten ein Ansprechen auf Pomalidomid plus LD-Dex und 10% auf HD-Dex. Nach einer medianen Beobachtungsdauer von zehn Monaten waren sowohl PFS (4,0 vs. 1,9 Monate) als auch OS (12,7 vs. 8,1 Monate) signifikant länger bei Patienten, die mit Pomalidomid plus LD-Dex behandelt wurden. Etwa 70% der Patienten hatten zuvor eine ASCT, knapp 60% Thalidomid und fast alle Dexamethason erhalten. Drei Viertel der Patienten waren refraktär gegenüber Lenalidomid und Bortezomib. Etwa 50% der Patienten aus der Kontroll-Gruppe waren zum Zeitpunkt der finalen Analyse infolge Krankheitsprogress in die Interventionsgruppe gewechselt („cross-over“) und hatten Pomalidomid erhalten. Häufigste unerwünschte Ereignisse der Grade 3 und 4 – bewertet entsprechend der „Common Terminology Criteria for Adverse Events“ (Version 4.0) – waren in der Interventions- und Kontroll-Gruppe neben Infektionen (30% vs. 24%) Neutropenie (48% vs. 16%), Anämie (33% vs. 37%) und Thrombozytopenie (22% vs. 26%). Eine periphere Neuropathie trat häufiger auf bei Patienten unter Pomalidomid plus LD-Dex (15% vs. 11%); schwerwiegend (Grad ≥ 3) war sie jedoch nur bei 1% der Patienten. Unter entsprechender Prophylaxe traten thromboembolische Komplikationen (tiefe Beinvenenthrombosen, Lungenembolien) nur selten auf (2% vs. 1%). Der Aussagewert der Ergebnisse zur Sicherheit von Pomalidomid plus LD-Dex ist jedoch begrenzt aufgrund der noch kurzen medianen Nachbeobachtung (18,1 Wochen), relativ geringen Patientenzahl und unterschiedlichen Dosierung von Dexamethason in den beiden Therapiearmen.

Für Pomalidomid, zugelassen als Orphan Drug (OD; 6), gilt wie für viele andere als ODs zugelassene onkologische Wirkstoffe (7), dass die in den Zulassungsstudien erhobene Evidenz hinsichtlich Wirksamkeit und Sicherheit begrenzt ist. Kritisiert werden muss vor allem die Auswahl von HD-Dex in der Kontroll-Gruppe, die vom pU damit begründet wurde, dass bereits in früheren Studien beim MM HD-Dex als Vergleich benutzt wurde und keine Daten zu LD-Dex vorlagen. Bereits vor Beginn der Rekrutierung von Patienten für die MM-003-Studie (März 2011) waren jedoch Ergebnisse einer randomisierten, kontrollierten Studie an insgesamt 445 Patienten mit neu diagnostiziertem MM publiziert worden. Sie zeigten ein signifikant schlechteres OS im Therapiearm Lenalidomid plus HD-Dex im Vergleich zu Lenalidomid plus LD-Dex (8). Diese Studie wurde vorzeitig abgebrochen aufgrund früher Todesfälle und schwerwiegender Komplikationen wie thromboembolische Ereignisse und Infektionen. Der Verzicht auf eine Verblindung in der MM-003-Studie ist mit einem hohen Verzerrungspotenzial assoziiert, insbesondere für die Bewertung des PFS und des in palliativen Behandlungssituationen besonders wichtigen, patientenrelevanten Endpunkts „Patient-Reported Outcomes“ (PRO). Aussagekräftige Ergebnisse zu den von der EMA für die Zulassung onkologischer Wirkstoffe heute geforderten PROs finden sich nicht in der Publikation der MM-003-Studie (4).

Für ODs wie Pomalidomid gilt der medizinische Zusatznutzen bereits durch die Zulassung als belegt (10). Im Rahmen der frühen Nutzenbewertung bewertet das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in diesen Fällen nur die Anzahl der GKV-Patienten in der Zielpopulation und die Kosten der Therapie für die GKV. Das Ausmaß des Zusatznutzens von Pomalidomid wird derzeit vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) beurteilt, vor allem auf der Basis der zur Zulassung eingereichten Unterlagen, der für die Zulassung relevanten Studie MM-003 und des Dossiers des pU. Grundsätzlich haben Patienten mit seltenen Leiden denselben Anspruch auf Qualität, Unbedenklichkeit und Wirksamkeit von zugelassenen Arzneimitteln (11). Dieser Anspruch wurde und wird jedoch bei ODs zur Behandlung onkologischer Erkrankungen häufig nicht durchgesetzt – wie auch das Beispiel Pomalidomid verdeutlicht (7).

Fazit: Pomalidomid ist eine weitere Therapieoption für Patienten mit rezidiviertem oder refraktärem Multiplen Myelom (MM), die auf vorausgegangene Therapien mit Bortezomib und Lenalidomid nicht mehr angesprochen haben. Aufgrund der bei Orphan Drugs leider häufigen Mängel in Design und Durchführung der zulassungsrelevanten klinischen Studie(n) ist der therapeutische Stellenwert von Pomalidomid derzeit nicht sicher zu beurteilen. Die Ergebnisse der Nachbeobachtung der in der MM-003-Studie behandelten Patienten müssen ebenso abgewartet werden wie die Resultate weiterer klinischer Studien (5) mit besser geeigneter aktiver Vergleichstherapie. Nach den Berechnungen des IQWiG betragen die „Jahrestherapiekosten“ von Pomalidomid 147.525 € pro Patient. Die Ergebnisse der MM-003-Studie sprechen dafür, dass Patienten mit rezidiviertem oder refraktärem MM nur selten länger als 4-6 Monate mit Pomalidomid behandelt werden, da dann bereits wieder ein Progress der Erkrankung eingetreten ist. Aber auch etwa 70.000 € pro Patient sind ein stolzer Preis für eine eher marginale Verbesserung der Prognose bei Patienten mit fortgeschrittenem MM.

Literatur

  1. DeutscheGesellschaft für Hämatologie und medizinische Onkologie e. V.(DGHO): Link zur Quelle
  2. Lee,H.C. et al.: Am. Soc. Clin. Oncol. Educ. Book 2013, 302. Link zur Quelle
  3. Celgene EuropeLtd.: Fachinformation „Imnovid® 1 mg/2 mg/3 mg/4 mgHartkapseln“. Stand: August 2013.
  4. Miguel,J.S., et al.: Lancet Oncol. 2013, 14, 1055. Link zur Quelle
  5. LudwigBoltzmann Institute – Health Technology Assessment: Horizon Scanning inOncology. Nr. 39 – Pomalidomide (Imnovid/Pomalyst®) for the ≥3rd-linetherapy of patients with relapsed and refractory multiple myeloma: Link zur Quelle . Wien, Stand August 2013.
  6. AMB2008, 42, 73. Link zur Quelle
  7. Kesselheim,A.S., et al.: JAMA 2011, 305, 2320. Link zur Quelle
  8. Rajkumar,S.V. et al.: Lancet Oncol. 2010, 11, 29. Link zur Quelle
  9. Psaty,B.M., und Prentice, R.L.: JAMA 2010, 304, 793. Link zur Quelle
  10. AMB 2010, 44, 89. Link zur Quelle
  11. http://eur-lex.europa.eu/… Link zur Quelle