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“So long and thank you for all the serotonin”

so lautet – in Anspielung auf Douglas Adams’ legendäre Science-Fiction-Komödie Hitchhiker’s Guide to the Galaxy – der Schlusssatz eines lesenswerten, provokanten Editorials des britischen Psychiaters und kritischen Psychopharmakologen David Healy zum Thema Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI; 1). Der Autor hat sich in der Vergangenheit wiederholt kritisch zur Geschichte der Pharmakologie (2) und Themen wie Ghostwriting (vgl. 3) und Publikationsbias (vgl. 4) geäußert. In seinem Editorial stellt er das Konzept des extrazellulären Serotoninmangels als alleinige Ursache von Depressionen in Frage. Dieser „Serotonin-Mythos“ sei in den 1980er Jahren von Ärzten, Patienten, Pharmaindustrie und Komplementärmedizin dankbar angenommen worden, da er eine mechanistische und scheinbar einfache Erklärung für die Entstehung von Depression liefere. Ursprünglich – in den 1960er Jahren – seien die SSRI erfolglos auf der Suche nach einer Indikation (arterielle Hypertonie, Adipositas) gewesen, bevor sie als die „besseren“ Antidepressiva und Anxiolytika im Vergleich zu den älteren trizyklischen Antidepressiva und Benzodiazepinen vermarktet worden seien. Diese und andere Arzneimittel, denen kein so populäres Wirkprinzip zugrunde lag, die aber kostengünstiger und für viele Störungen auch wirksamer seien, seien dadurch „marginalisiert“ worden. Serotonin spiele – so wie andere Neurotransmitter (Noradrenalin, Dopamin, Glutamat) und Kortisol auch – eine Rolle bei vielen psychischen Störungen; SSRI hätten aber keine nachgewiesene Wirkung bei „Depressionen mit stark erhöhtem Suizidrisiko“ und bei Patienten mit Impulskontroll-Störungen. Zum Schluss stellt der Autor wichtige Grundsatzfragen: Werden durch eine plausible (aber mythische) Darstellung eines biologischen Wirkprinzips und einer Behandlung negative Studiendaten beiseite geschoben? Und umgekehrt: Machen es klinische Studiendaten, die als Nachweis einer Wirksamkeit vermarktet werden, leichter, eine mythische Darstellung biologischer Vorgänge zu akzeptieren? Im Gegensatz zu technischen Produkten würden viele Arzneimittel nicht von Jahr zu Jahr besser und sie könnten auch dann zu Blockbustern werden, wenn sie weniger wirksam und weniger sicher seien als ihre Vorgänger.

Wir haben uns in den vergangenen Jahren in mehreren Hauptartikeln mit der Pharmakotherapie von Depressionen bzw. Angststörungen befasst (5-7): 2010 wurden SSRI aufgrund von Metaanalysen und Berichten des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in Übereinstimmung mit deutschen und britischen Leitlinien als Mittel erster Wahl bei mittelschweren und schweren Depressionen empfohlen (5). Dies gilt auch für die Gruppe der chronischen Angststörungen – falls eine längerfristige medikamentöse Behandlung erforderlich ist (6). Gleichzeitig wiesen wir auf den hohen Stellenwert flankierender Maßnahmen wie Psycho- und Verhaltenstherapie sowie Hilfe zur Selbsthilfe in der Behandlung von Depressionen und ganz besonders von Angststörungen hin. Vor allem bei älteren Patienten empfahlen wir Zurückhaltung mit Antidepressiva, da sie mit deutlich erhöhter Letalität und Morbidität assoziiert sind und zwar SSRI zum Teil noch stärker als Trizyklische Antidepressiva, wie eine große britische Beobachtungsstudie ergab (6).

Unsere Position hat sich nicht geändert. Wir glauben, dass Antidepressiva zu häufig und sehr oft zu lange verschrieben werden. Randomisierte kontrollierte Absetzstudien („withdrawal studies“) sind dringend erforderlich. Dass „mythische“ Erklärungsmodelle oft die Evidenz verdrängen, kann man in vielen Bereichen der Pharmakotherapie beobachten, seien es verschreibungspflichtige Wirkstoffe oder nicht (siehe z.B. Frequenzsenkung mit Ivabradin; 8). Das mahnende, wenn auch provokante Statement des britischen Kollegen halten wir für bedenkenswert – kritische Stimmen aus der Psychiatrie wünscht man sich häufiger.

Fazit: Antidepressiva werden, insbesondere bei älteren Patienten, zu großzügig verschrieben. Indikation, Wahl des Wirkstoffs und Dauer der Therapie sollten wesentlich differenzierter erfolgen als dies in der Regel der Fall ist. Auch aus der Psychiatrie kommen zu diesem Thema erfreulicherweise kritische Stimmen.

Literatur

  1. http://www.bmj.com/content/350/bmj.h1771 Link zur Quelle
  2. Healy,D.: Let them eat Prozac: The unhealthy relationshipbetween the pharmaceutical industry and depression (medicine, culture, andhistory). New York University Press. New York and London, 2004.
  3. AMB 2012, 36,22c Link zur Quelle . AMB 2012, 46, 59. Link zur Quelle
  4. AMB2014, 48, 32DB01 Link zur Quelle . AMB 2010, 44, 39a Link zur Quelle. AMB 2008, 42, 79. Link zur Quelle
  5. AMB2010, 44, 33. Link zur Quelle
  6. AMB2011, 45, 89. Link zur Quelle
  7. AMB2014, 48, 76. Link zur Quelle