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Fragwürdige Anwendungsbeobachtung bei onkologischen Patienten

Wir haben im vergangenen Jahr unsere Leser auf die Zunahme von Anwendungsbeobachtungen (AWB) hingewiesen. Häufig werden sie nicht mit dem Ziel, Erkenntnisse bei der Anwendung zugelassener Arzneimittel zu sammeln, sondern aus Marketingabsichten durchgeführt (AMB 1996, 30, 83). Für eine besonders fragwürdige AWB zum Präparat Thymophysin (Thymuspeptidfraktion vom Kalb) bei onkologischen Patienten mit Kachexie und Lymphozytopenie nach Chemotherapie sollen jetzt Onkologen gewonnen werden. Der Einsatz dieses Thymuspeptidgemisches wird mit den Ergebnissen einer randomisierten Studie begründet, in der der Einfluß von G-CSF bzw. von G-CSF plus Thymostimulin (TS) auf die Hämatotoxizität nach Chemotherapie mit Mitoxantron bei Patientinnen mit fortgeschrittenem Mammakarzinom untersucht wurde (Sanchiz, F., und Milla, A.: Eur. J. Cancer 1996, 32A, 52). In dieser Studie wurde bei einer geringen Patientenzahl in beiden Behandlungsgruppen (jeweils n = 27) eine ungewöhnliche Wirksamkeit der Kombinationstherapie sowohl hinsichtlich der Verkürzung der Grad-IV-Neutropenie-Dauer (G-CSF plus TS: im Median 2 Tage versus G-CSF: im Median 10 Tage) als auch hinsichtlich der Inzidenz von neutropenischem Fieber (bei 22% der mit G-CSF plus TS und bei 59% der mit G-CSF behandelten Patienten) beobachtet. Auch das Auftreten von klinisch und bakteriologisch gesicherten Infektionen (G-CSF plus TS: 15% versus G-CSF: 59%) konnte durch die Kombinationstherapie vermindert werden. Hinweise, inwieweit die unter Anwendungsgebiete für Thymophysin genannten Symptome (Kachexie, Malnutrition, Tumoranorexie) günstig beeinflußt werden, finden sich nicht. Bemerkenswert und vermutlich Folge einer Patientenselektion ist insbesondere das Ausmaß der Hämatotoxizität sowie die Häufigkeit von neutropenischem Fieber und Infektionen in der ausschließlich mit G-CSF behandelten Gruppe. Trotz der Abnahme der Hämatotoxizität und der deshalb geringeren Komplikationen nach kombinierter Gabe von G-CSF plus TS waren die Ansprechraten nach einem Zyklus Chemotherapie mit Mitoxantron unbefriedigend (nur eine partielle Remission bei insgesamt 54 behandelten Patienten). Ein Nutzen von Thymuspeptidgemischen in der Therapie onkologischer Erkrankungen ist bisher nicht belegt (vgl. AMB 1997, 31, 33). Ebensowenig ist der Nutzen eines prophylaktischen Einsatzes von G-CSF zur Reduktion der Neutropenie-assoziierten Morbidität bei Patienten mit soliden Tumoren unter milder myelosuppressiver Therapie gesichert (vgl. AMB 1995, 29, 21). Welcher Erkenntnisgewinn aus einer AWB mit Thymophysin plus G-CSF bei onkologischen Patienten unter myelosuppressiver Therapie resultieren soll, bleibt deshalb unklar.

Fazit: Wir empfehlen unseren Lesern, nicht an derartigen unseriösen AWB teilzunehmen. Bezeichnenderweise wird den Onkologen, die an der genannten AWB interessiert sind, das Ausfüllen eines Fragebogens mit einer Flasche Ihringer Wein honoriert. Es kommt der Verdacht auf, daß hier nicht „in vino veritas“, sondern Benebelung das Leitmotiv ist. Wie wird wohl das Honorar für die Teilnahme an der AWB aussehen angesichts der Beilagen eines Vademecums der Rebsorten vom Kaiserstuhl und Markgräfler Land?