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Selektive „Darmsterilisation“ bei intensivpflichtigen Patienten – Kostenanstieg, aber keine Senkung der Morbidität und Letalität

Unter bestimmten Umständen können Bakterien der normalen Darmflora die Mukosa-Barriere im lntestinaltrakt überwinden und mesenteriale Lymphknoten sowie andere Organe infizieren (sogenannte bakterielle Translokation). Die bakterielle Translokation wird als relevanter Pathomechanismus angesehen, der zusätzlich Morbidität und Letalität bei kritisch Kranken bedingt. Vor diesem Hintergrund wurde für Patienten auf lntensivstationen eine prophylaktische Therapie mit Antibiotika (die sogenannte selektive Darmsterilisation) propagiert. In verschiedenen Studien konnte unter Einbeziehung historischer Kontroll-Gruppen eine signifikante Senkung bronchopulmonaler Infektionen gezeigt werden. Kontrollierte Studien unter Einbeziehung heterogener Patienten brachten widersprüchliche Ergebnisse. Obwohl sich in allen Studien ein Trend zur Reduktion von Infektionen fand, war ein positiver Einfluß auf die Letalität nur in zwei Studien nachzuweisen.

Vor diesem Hintergrund wurde durch Lingnau, W., et al. (J. Trauma 1997, 42, 687) der Effekt einer selektiven intestinalen Dekontamination in einem homogenen Kollektiv polytraumatisierter Patienten untersucht (u.a. Alter > 18 Jahre, mechanische Ventilation > 48 Stunden, Dauer des Aufenthalts auf der lntensivstation für mehr als drei Tage, keine primären Infektionen oder antibiotische Vorbehandlung). Unter Einschluß von 310 Patienten aus einem Kollektiv von 357 wurde die Wirkung einer täglichen enteralen Applikation von Polymyxin (4 x 100 mg), Tobramycin (4 x 80 mg) und Amphotericin B (4 x 500 mg) bzw. Polymyxin, Ciprofloxacin (4 x 50 mg) und Amphotericin B im Vergleich zu Plazebo untersucht. Die Antibiotika wurden dabei während des gesamten Aufenthaltes (im Mittel 20 Tage) auf der Intensivstation gegeben. Zielkriterien waren dabei die Häufigkeit von: Pneumonie, Septikämie, multiplen Organversagen und Tod. Zusätzlich wurden bakteriologische Untersuchungen von Trachealsekret, Urin sowie von oropharyngealen und rektalen Abstrichen dreimal pro Woche während des Aufenthaltes auf der lntensivstation durchgeführt.

Es zeigte sich, daß in beiden Gruppen aktiv behandelter Patienten der Nachweis gramnegativer Erreger in oropharyngealen und rektalen Abstrichen signifikant seltener war als in der Plazebo-Gruppe. Einen positiven Einfluß auf die Zielkriterien fand sich jedoch zu keinem Zeitpunkt. Eine prophylaktische „Darmsterilisation“ bei polytraumatisierten, intensivpflichtigen Patienten hat außer einer Kostensteigerung offenbar keinen klinisch relevanten Effekt. In diesem Zusammenhang muß auf Untersuchungen hingewiesen werden, in denen eine vorausgegangene antibiotische Therapie sogar als Risikofaktor für die Letalität bei Patienten mit nosokomialer Pneumonie identifiziert wurde.

Zusammenfassend erscheint somit eine prophylaktische antibiotische Therapie zur Vermeidung der bakteriellen Translokation nur bei Patienten mit bestimmten Erkrankungen, für die in klinischen Studien ein Vorteil beschrieben wurde, indiziert. So war bei Patienten mit Leberzirrhose und oberer gastrointestinaler Blutung, die prophylaktisch Gyrasehemmer oder nichtabsorbierbare Antibiotika erhalten hatten, die Zahl der Infektionen niedriger. Aber auch bei diesen Patienten fand sich nur tendenziell eine niedrigere Letalität.

Fazit: Eine generelle „selektive Darmsterilisation“ bei intensivpflichtigen Patienten ist nicht indiziert.