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Essentielle Thrombozythämie (ET): Leukämogenes Risiko nach Behandlung mit Hydroxycarbamid

Hydroxycarbamid (= Hydroxyurea; Litalir, Syrea) ist ein Antimetabolit, der vorwiegend die DNS-Synthese durch spezifische Hemmung der Ribonukleosiddiphosphat-Reduktase inhibiert, aber auch DNS-Reparaturvorgänge beeinflußt. Diese Substanz wird heute aufgrund der gut steuerbaren und nach Absetzen rasch reversiblen Myelosuppression häufig als primäre medikamentöse Therapie bei chronischen myeloproliferativen Syndromen eingesetzt (s. AMB 1994, 28, 9; 1997, 31, 7). Zur Frage der leukämogenen Potenz von Hydroxycarbamid ist kürzlich eine wichtige Publikation erschienen, in der die lnzidenz akuter myeloischer Leukämien (AML) und myelodysplastischer Syndrome (MDS) bei insgesamt 357 Patienten mit ET nach myelosuppressiver Behandlung analysiert wurde (Sterkers, Y., et al.: Blood 1998, 91, 616). Die Behandlung dieser Patienten erfolgte zwischen 1970 und 1991 in zwei französischen Kliniken, wobei als primäre Therapie bis 1980 Busulfan oder radioaktiver Phosphor (32P) und nach 1980 vorwiegend Hydroxycarbamid verabreicht wurde. Bei Patienten, die auf Hydroxycarbamid nicht ausreichend ansprachen (Thrombozyten = 500/nl), wurde Hydroxycarbamid durch Pipobroman (in Deutschland nicht zugelassen) ersetzt. Nach einer medianen Beobachtungsdauer von 98 Monaten war bei 17 Patienten eine Transformation der ET in eine AML oder ein MDS aufgetreten. Von diesen 17 Patienten waren 14 mit Hydroxycarbamid (Hydroxycarbamid alleine: n =7, Hydroxycarbamid und andere myelosuppressive Behandlungsstrategien: n = 7) behandelt worden, und 3 Patienten hatten 32P oder Busulfan erhalten. Das mediane Intervall zwischen der Diagnose der ET und dem Auftreten der AML oder des MDS betrug 84 Monate. Bei 7 von 13 zytogenetisch auswertbaren Patienten mit Transformation der ET in AML oder MDS fand sich eine Deletion am kurzen Arm des Chromosoms 17 (17p) sowie typische morphologische Veränderungen (Dysgranulopoese) und eine p53-Mutation. Diese Veränderungen, heute als 17p–Syndrom bezeichnet, werden bei MDS und AML beobachtet, und etwa 30% der Patienten mit 17p–Syndrom hatten zuvor wegen einer anderen Neoplasie eine Chemotherapie erhalten. Die lnzidenz der Progression in eine AML oder ein MDS in Abhängigkeit von der myelosuppressiven Behandlung ist in Tab. 1 zusammengefaßt. Die leukämogene Potenz einer alleinigen Gabe von 32P, Busulfan, Hydroxycarbamid oder Pipobroman unterschied sich in dieser Studie nicht signifikant. Eine Progression wurde jedoch nach Gabe von Hydroxycarbamid in Kombination mit anderen Substanzen (14%) signifikant häufiger (p = 0,01) als nach alleiniger Gabe von Hydroxycarbamid (3,5%) beobachtet. Bei 31 der 357 erfolgte keine myelosuppressive Therapie, und in dieser Gruppe traten keine AML oder MDS auf. Die Ergebnisse dieser Studie unterscheiden sich von den Auswertungen einer italienischen Untersuchung zur Wirksamkeit von Hydroxycarbamid hinsichtlich der Prophylaxe thrombotischer Komplikationen bei Patienten mit ET (s. AMB 1996, 86, 86). In dieser Studie war bei keinem der 56 mit Hydroxycarbamid behandelten Patienten während des Beobachtungszeitraumes (maximal 42 Monate) eine maligne Transformation in eine akute Leukämie aufgetreten.

Fazit: Auch Hydroxycarbamid wirkt bei der Behandlung von Patienten mit essentieller Thrombozythämie (ET) leukämogen, und die im Rahmen der Progression der ET beobachteten AML und MDS sind häufig mit einem 17p–Syndrom assoziiert. Die Gabe von Hydroxycarbamid erhöht vermutlich die leukämogene Potenz anderer myelosuppresiver Therapien bei ET. Die Ergebnisse dieser Studie müssen in weiteren Untersuchungen bestätigt werden, mahnen jedoch bereits heute zur Vorsicht bei der Verabreichung von Hydroxycarbamid bei Patienten mit asymptomatischer ET.

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