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Erythropoietin: Behandlung der Anämie bei allen Patienten mit soliden Tumoren, malignen Lymphomen und Plasmozytom?

Im Mai dieses Jahres hat Janssen-Cilag in einem Brief unter dem wenig differenzierten Motto „All Chemo“ die Ärzte darüber informiert, daß Epoetin alfa (Erypo) vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine Indikationserweiterung erhalten hat. Ab sofort kann Epoetin alfa verordnet werden „zur Behandlung der Anämie und Reduktion des Transfusionsbedarfes bei Erwachsenen mit soliden Tumoren, malignen Lymphomen und multiplem Myelom, die eine Chemotherapie erhalten, und bei denen das Risiko einer Transfusion aufgrund des Allgemeinzustandes (z.B. kardiovaskulärer Status, vorbestehende Anämie zu Beginn der Chemotherapie) besteht“ (1). Diese Indikationserweiterung beruht nach Angaben von Janssen-Cilag auf den Ergebnissen einer europäischen doppeltblinden, randomisierten, plazebokontrollierten, multizentrischen Studie, in der die Transfusionsbedürftigkeit von Patienten mit hämatologischen Neoplasien oder soliden Tumoren nach nichtplatinhaltiger Chemotherapie untersucht wurde und in der Patienten mit Epoetin alfa oder Plazebo behandelt wurden. Die Ergebnisse dieser Studie liegen leider nur als Abstract vor (2). Bisher war rekombinantes Erythropoietin (rhEPO) in der Onkologie nur zur Behandlung von Patienten zugelassen, die eine platinhaltige Chemotherapie erhalten hatten.

Die Pathogenese der Anämie bei Tumorerkrankungen ist multifaktoriell (3, 4). Neben einem verstärkten peripheren Abbau oder Verlust von Erythrozyten und einer verminderten Produktion im Knochenmark kommt insbesondere der „Anemia of chronic disease“ eine wesentliche Bedeutung zu. Diese häufige Anämieform bei chronischen (entzündlichen) oder Tumorerkrankungen resultiert aus einer inadäquaten Produktion von EPO, einer Hemmung der Proliferation erythroider Vorläuferzellen und Störungen in der Eisenverwertung. Inflammatorische Zytokine (z.B. Interleukin-1, Tumor-Nekrose-Faktor) sind wesentlich an der Pathogenese beteiligt. Darüber hinaus kann eine Anämie bei Tumorpatienten durch verschiedene Zytostatika (insbesondere platinhaltige), die zu einer verminderten Produktion von EPO führen, verursacht oder auch verstärkt werden. Vor diesem Hintergrund sind in den letzten Jahren verschiedene Studien bei hämatologischen Neoplasien und soliden Tumoren durchgeführt worden (4, 5; vgl. AMB 1996, 30, 46 und 1998, 32, 55a), die zeigten, daß bei einem Teil der Patienten durch Gabe von rhEPO die Anämie korrigiert und der Bedarf an Transfusionen reduziert werden kann. Eine kürzlich erschienene Metaanalyse zur Wirksamkeit von EPO bei chronischem Nierenversagen und bei Tumorerkrankungen ergab, daß etwa 79% der Patienten mit Plasmozytom, 40% der Patienten mit soliden Tumoren, jedoch nur 13% der Patienten mit myelodysplastischem Syndrom (vgl. AMB 1998, 32, 77) von einer Therapie mit rhEPO profitieren (6). Leider haben die bisher durchgeführten kontrollierten klinischen Studien zum Stellenwert des rhEPO verschiedene Schwachpunkte (vgl. AMB 1998, 32, 55a) und verstoßen häufig gegen ein Grundprinzip randomisierter klinischer Therapiestudien, und zwar das der identischen Wahrscheinlichkeit der therapeutischen Wirksamkeit der geprüften Therapiearme („The uncertainty principle“; 7, 8). Auch eine sichere Beurteilung der Verbesserung der Lebensqualität durch rhEPO und Kosten-Nutzen-Analysen können anhand der bisher durchgeführten klinischen Studien nicht erfolgen (3, 9). Angesichts der hohen Therapiekosten und der, allerdings seltenen, unerwünschten Arzneimittelwirkungen des rhEPO ist es außerordentlich wichtig, Faktoren zu kennen, die das Ansprechen auf rhEPO ungünstig beeinflussen. Hierzu zählen u.a. Komplikationen der Chemotherapie (z.B. Entzündungen, Infektionen, Blutungen), funktionelle Eisendefizite und vermutlich auch die Art der vorausgegangenen oder parallel mit rhEPO verabreichten Chemotherapie (4). Wichtig sind auch prädiktive Modelle bzw. Algorithmen, mit deren frühzeitig Patienten identifiziert werden können, die von einer langdauernden Therapie mit rhEPO nicht profitieren (3-5; vgl. AMB 1996, 30, 46). Als wichtiger prognostischer Faktor für den Erfolg einer Therapie mit rhEPO, insbesondere bei Patienten mit malignen Lymphomen oder Plasmozytom, hatte sich in früheren Studien ein bezogen auf das Ausmaß der Anämie relativer EPO-Mangel erwiesen (vgl. AMB 1996, 30, 46). Ob dieser Parameter auch bei Patienten mit soliden Tumoren prädiktiven Wert besitzt, ist umstritten (5, 10). Neben der EPO-Konzentration im Serum sind insbesondere ein Anstieg des Hämoglobin (Hb)-Wertes (³ 0,5-1,0 g/dl), der Retikulozyten (³ 40000/µl) sowie der Konzentration des löslichen Transferrin-Rezeptors (sTFR; ³ 25%), gemessen 2-4 Wochen nach Therapiebeginn, informative Parameter, die mit einem Ansprechen auf rhEPO korrelieren (4). Leider werden diese Parameter im klinischen Alltag bei der Verordnung von rhEPO nicht immer ausreichend beachtet; sie sind auch in der Fachinformation zur Dosierung, Art und Dauer der Anwendung von Epoetin alfa (1) nur z.T. berücksichtigt worden. Es wird dort empfohlen, alle Patienten mit Tumoren, die eine Chemotherapie erhalten und deren Hb-Wert £ 10,5 g/dl beträgt, zunächst 4 Wochen lang in der Dosierung 150 I.E./kg dreimal/Woche und bei ungenügendem Anstieg der Retikulozyten und des Hb-Wertes weitere 4 Wochen in der Dosierung 300 I.E./kg dreimal/Woche zu behandeln. Diese Empfehlung beruht nicht auf Ergebnissen kontrollierter randomisierter Studien und bedeutet, daß etwa 40-60% der Patienten mit soliden Tumoren und 20-50% der Patienten mit Plasmozytom oder malignen Lymphomen in jedem Fall acht Wochen lang eine kostspielige Therapie erhalten (Kosten ca. 9350 DM bzw. 14000 DM bezogen auf einen 70 kg schweren Patienten), von der sie nicht profitieren!

Fazit: Bei Patienten mit malignen Lymphomen, Plasmozytom oder soliden Tumoren, die vor Beginn der Chemotherapie oder nach dem ersten Therapiezyklus eine Anämie haben (Hb-Wert £ 10,5 g/dl), kann rhEPO zur Korrektur der Anämie und Reduktion des Transfusionsbedarfs versucht werden. Eine Therapie mit rhEPO darf nur begonnen werden, wenn andere Ursachen für die Anämie ausgeschlossen wurden. Da nur ein Teil der Patienten von dieser Therapie profitiert, sollten prädiktive Faktoren für das Ansprechen vor und frühzeitig (2-4 Wochen) nach Beginn der rhEPO-Gabe überprüft werden. Weitere prospektive kontrollierte Therapiestudien mit rhEPO sind dringend erforderlich, um die prädiktiven Faktoren genauer zu definieren und um weitere Fragen wie z.B. Verbesserung der „Lebensqualität“ bzw. Kosten-Nutzen-Relation beantworten zu können. Wie für andere hämatopoetische Wachstumsfaktoren (vgl. AMB 1998, 32, 1) sollten auch für rhEPO Empfehlungen für den rationalen und rationellen Einsatz bei Tumorerkrankungen rasch erarbeitet werden.

Literatur

1. Fachinformation von Janssen-Cilag zu Erypo/Erypo FS, Februar 2000.
2. Littlewood, T.J., et al.: Proc. Am. Soc. Clin. Oncol. 1999, 18, 574a.
3. Cazzola, M., et al.: Blood 1997, 89, 4248.
4. Beguin, Y.: Semin. Oncol. 1998, 25 Suppl. 7, 27.
5. Jilani, S.M., und Glaspy, J.A.: Semin. Oncol. 1998, 25, 571.
6. Marsh, W.A., und Rascati, K.L.: Clin. Ther. 1999, 21, 1443.
7. Djulbegovic, B., et al.: Blood 1999, 10 Suppl.1, 399a.
8. Marquis, D.: N. Engl. J. Med. 1999, 341, 691.
9. Barosi, G., et al.: Br. J. Cancer 1998, 78, 781.
10. Goodnough, L.T., et al.: Blood 2000, 96, 823.