Der Teil 2 dieser
Übersicht, in der beispielhaft Rituximab und Folinsäure besprochen werden, und
das gemeinsame Literaturverzeichnis von Teil 1 und Teil 2 erscheinen in der
nächsten Ausgabe.
Zusammenfassung:
Die Kosten der innovativen Medikamente in der Hämatologie und Onkologie sind
hoch. Es ist daher unbedingt erforderlich, daß sie nur bei Indikationen
angewandt werden, die anerkannt und/oder zugelassen sind oder im Rahmen
kontrollierter Studien. Eine Therapie mit Erythropoietin darf bei
Tumor-assoziierten Anämien nur eingeleitet werden, wenn andere Ursachen der
Anämie ausgeschlossen sind. Die derzeit empfohlene Dosis beträgt 3 mal 150
I.E./kg Körpergewicht und Woche. Ist diese Dosis wirkungslos, kann sie
versuchsweise verdoppelt werden. Sichere Hinweise auf eine
Dosis/Wirkungs-Beziehung gibt es allerdings nicht. Eindeutige Aussagen zur
Kosteneffektivität dieser Therapie und zum Einfluß auf die ”Lebensqualität”
fehlen.
Immunglobuline
werden bei der Idiopathischen thrombozytopenischen Purpura nach den
Empfehlungen der amerikanischen Gesellschaft für Hämatologie nur bei schweren
lebensbedrohlichen Blutungen eingesetzt. Bei Multiplem Myelom bzw. Chronischer
lymphatischer Leukämie empfiehlt die europäische Arzneimittelbehörde
Immunglobuline bei schwerer Hypogammaglobulinämie und wiederholten Infektionen.
Einleitung:
Jährlich erkranken etwa 340000 Patienten in Deutschland neu an soliden Tumoren
oder hämatologischen Neoplasien. Für etwa die Hälfte dieser Patienten stehen
derzeit keine kurativen Therapiestrategien zur Verfügung; es muß deshalb weiter
nach effektiveren und besser verträglichen Therapien gesucht werden. In den
letzten Jahren sind mehrere neue Substanzen, z.T. mit sehr spezifischen
molekularen Angriffspunkten (z.B. monoklonale Antikörper, Inhibitoren der
Signaltransduktion und der Angiogenese), in die Tumortherapie eingeführt
worden. Sie haben das Spektrum der therapeutischen Möglichkeiten erweitert und
auch die Wirksamkeit bereits bestehender Therapien für einige, allerdings seltene
Tumorerkrankungen verbessert.
In Deutschland ist
1999 der Umsatz onkologischer Spezialpräparate gegenüber 1998 um 6,0%
gestiegen; insgesamt wurden ca. 700 Mio. € ausgegeben. Die entsprechenden
Zahlen für das Jahr 2000 gegenüber 1999 sind 8,8% und 756 Mio. € (1). Zu diesen
Spezialpräparaten werden neben den Zytostatika auch verschiedene (Anti-)Hormone
und die im Rahmen supportiver Therapiekonzepte verabreichten Arzneimittel (z.B.
Antiemetika, hämatopoetische Wachstumsfaktoren, Bisphosphonate) gerechnet. Auch
die Verordnungen und der Umsatz von Immuntherapeutika (u.a. Interferone,
Immunglobuline), die ebenfalls bei Tumorerkrankungen eingesetzt werden, sind in
den vergangenen Jahren stetig stark gestiegen (1). Eine aktuelle strategische
Studie (51) schätzt den europäischen Markt für
Krebsmedikamente auf einen Umsatz von 5,8 Mrd. € für das Jahr 2003, wobei
Zytostatika etwa 53%, Hormonpräparate 40% und Zytokine 7% ausmachen werden.
Vor diesem
Hintergrund und wegen zunehmender Sparzwänge in unserem Gesundheitssystem mit
bevorstehenden Entscheidungen zur Rationierung ist es auch in der Behandlung
von Tumorerkrankungen außerordentlich wichtig, etablierte und neu eingeführte
Therapiestrategien hinsichtlich Effektivität, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit
in kontrollierten klinischen Studien zu überprüfen. Ziel dieser Studien ist es
auch, überflüssige oder unwirksame Arzneimittel zu identifizieren und dadurch
eine gute, wirtschaftliche Aspekte berücksichtigende onkologische Versorgung zu
realisieren. Leider stehen diesen Zielen zahlreiche Hürden im Wege:
Qualitätsdefizite klinischer Studien oder Metaanalysen, z.T. sehr aggressive
Marketingstrategien der Pharmaindustrie nach Zulassung kostenintensiver
onkologischer Spezialpräparate sowie unkritischer Einsatz neuer Arzneimittel
außerhalb klinischer Studien und zugelassener Anwendungsgebiete
(”Off-label-Verordnungen”; 2, 3).
Neben einer Beseitigung
der Mängel bei Durchführung und Auswertung klinischer Studien in der Onkologie
ist es deshalb wichtig,
·
die
unabhängigen Informationsmöglichkeiten über neue Therapiestrategien in der
Onkologie zu nutzen und zu verbessern,
·
unabhängige,
evidenzbasierte Empfehlungen für den Einsatz kostenintensiver Arzneimittel zu
erarbeiten,
·
die
durch die Pharmaindustrie gelenkte ärztliche Fortbildung einzuschränken,
·
neue
Arzneimittel in der Onkologie systematisch pharmakoökonomisch zu evaluieren,
wobei Interessenkonflikte vermieden werden müssen (2-4).
An vier Beispielen
(Erythropoietin, i.v. Immunglobuline, Rituximab, hochdosierte Folinsäure)
sollen im folgenden einige Qualitätsdefizite klinischer Studien aufgezeigt, die
Kosten dieser Therapiestrategien in der Hämatologie bzw. internistischen
Onkologie verdeutlicht und Empfehlungen für den rationalen und wirtschaftlichen
Einsatz diskutiert werden.
Rekombinantes Erythropoietin zur
Behandlung der Tumor-assoziierten Anämie
Bei vielen
Tumorpatienten kommt es infolge der malignen Grunderkrankung oder der
myelosuppressiven Chemo- und/oder Strahlentherapie zu Anämien, deren
Pathogenese dementsprechend multifaktoriell ist. Neben einer verminderten
Erythropoese im Knochenmark (Myelosuppression), einem Mangel an nutritiven
Faktoren (Eisen, Folsäure, Vitamin B12), okkulten Blutverlusten und
einem verstärkten peripheren Abbau von Erythrozyten infolge Hämolyse ist
insbesondere die ”Anemia of chronic disease” pathophysiologisch von Bedeutung
(5). Diese häufige Anämieform bei chronischen (entzündlichen) oder
Tumorerkrankungen resultiert aus einer inadäquaten Produktion von
Erythropoietin (EPO), einer Hemmung der Proliferation erythroider
Vorläuferzellen und einer Störung der Eisenverwertung. Inflammatorische
Zytokine (z.B. Interleukin-1, Tumor-Nekrose-Faktor) sind wesentlich an der
Pathogenese beteiligt. Verschiedene Zytostatika, insbesondere platinhaltige,
die zu einer verminderten Produktion von EPO führen, können eine Tumoranämie
auslösen oder verstärken (6). Als Therapieoptionen stehen neben der Beseitigung
des Mangels nutritiver Faktoren in erster Linie die Gabe von Erythrozytenkonzentraten
und/oder rekombinantem (rh) EPO zur Verfügung. In den letzten Jahren sind bei
Patienten mit hämatologischen Neoplasien und soliden Tumoren zahlreiche
unkontrollierte und kontrollierte Studien durchgeführt worden, die gezeigt
haben, daß durch Gabe von rhEPO die Hämoglobinkonzentration gesteigert und der
Bedarf an Transfusionen reduziert werden kann (7). Dies hat zu einer
beträchtlichen Zunahme der Verordnungen von rhEPO für
onkologische Indikationen geführt. Allerdings kamen Kosten-/Effektivitäts-Analysen
zu widersprüchlichen Ergebnissen, und unabhängige Empfehlungen für einen
rationalen, wirtschaftlichen Einsatz von rhEPO wurden erst kürzlich publiziert
(8). Man schätzt, daß heute etwa ein Drittel aller Tumorpatienten mit
deutlicher Anämie (Hb < 10,0 g/dl) mit rhEPO behandelt werden.
Wirkungsmechanismus: Das Gen für EPO,
ein vorwiegend in peritubulären Zellen der Nierenrinde produziertes Hormon,
wurde 1985 kloniert und danach die rekombinante Form des Hormons hergestellt.
Primärer Stimulus für die endogene Produktion von EPO ist die Gewebehypoxie.
Die Erythrozytenmasse wird unter physiologischen Bedingungen in erster Linie
durch eine Modulation der EPO-Konzentration im Blut reguliert (9). EPO bindet
an seinen Rezeptor auf erythroiden Progenitorzellen und stimuliert ihre
Proliferation, Differenzierung und Resistenz gegenüber dem programmierten
Zelltod (Apoptose). Daraus resultiert eine Expansion erythroider
Progenitorzellen (BFU-E und CFU-E), eine vorzeitige Freisetzung reifer
Normoblasten aus dem Knochenmark und eine Erhöhung des pro einzelnen
Erythrozyten synthetisierten Hämoglobins.
Anwendungsgebiete
und klinische Studien: Neben den seit mehreren Jahren etablierten
Anwendungsgebieten (renale Anämie, Unterstützung der autologen Blutgewinnung)
kann Epoetin alfa (Erypo) seit Mitte des Jahres 2000 entsprechend einer
Indikationserweiterung ”zur Behandlung der Anämie und Reduktion des
Transfusionsbedarfs bei Erwachsenen mit soliden Tumoren, malignen Lymphomen und
Multiplem Myelom, die eine Chemotherapie erhalten und bei denen das Risiko
einer Transfusion auf Grund des Allgemeinzustands (z.B. kardiovaskulärer
Status, vorbestehende Anämie zu Beginn der
Chemotherapie) besteht”, verordnet werden (vgl. AMB2000, 34, 77 und
2001, 35, 55a). Für Epoetin beta (NeoRecormon) erfolgte Anfang
2001 eine Erweiterung des Anwendungsgebiets - bisher: Vorbeugung und Behandlung
der Anämie bei erwachsenen Patienten mit soliden Tumoren unter platinhaltiger
Chemotherapie - ”zur Behandlung der Anämie bei Patienten mit Multiplem Myelom,
niedrig-malignem Non-Hodgkin-Lymphom oder chronischer lymphatischer Leukämie,
die einen relativen Erythropoietinmangel aufweisen und eine antitumorale
Therapie erhalten”.
Eine Metaanalyse
aus dem Jahr 1999, die bis Mai 1996 publizierte klinische Studien zur
Wirksamkeit von rhEPO bei Tumorpatienten berücksichtigte, ergab, daß etwa 79%
der Patienten mit Plasmozytom, 40% der Patienten mit soliden Tumoren, jedoch
nur 13% der Patienten mit myelodysplastischem Syndrom auf die Gabe von rhEPO
ansprechen (10). Als Ansprechen wurde ein Anstieg des Hämatokrit-Wertes um
6%-Punkte bzw. des Hämoglobin(Hb)-Werts um 2,0 g/dl gewertet. Wichtige
Zusatzinformationen ergab eine neuere Metaanalyse zur Wirksamkeit der
rhEPO-Behandlung bei Patienten mit Tumortherapie-assoziierter Anämie (7). Diese
Metaanalyse berücksichtigte ausschließlich randomisierte, kontrollierte Studien
(n = 22), die bis 1999 publiziert worden waren mit insgesamt 1927 Patienten
(auswertbar: 1838 = 95%). Ziel der Metaanalyse war es, die Wirksamkeit von
rhEPO auf die Transfusionshäufigkeit und auf die ”Lebensqualität” quantitativ
zu erfassen. Darüber hinaus sollte ermittelt werden,
ob ein Beginn der Gabe von rhEPO schon bei höheren Hb-Werten die
Therapieergebnisse günstig beeinflußt. Alle bisher durchgeführten klinischen
Studien verglichen die Behandlung mit rhEPO (zusätzliche Transfusion, falls
erforderlich) mit der alleinigen Gabe von Erythrozytenkonzentraten. Angaben zum
Einfluß von rhEPO auf die Transfusionshäufigkeit fanden sich in 14 Studien und
statistisch signifikante Unterschiede zu Gunsten der mit rhEPO behandelten
Patientengruppe in 6 Studien. Klinische Studien, die höheren
Qualitätsansprüchen genügen (d.h. doppeltblinde Studien mit < 10%
Patientenausschlüssen) zeigten einen signifikant geringeren Effekt von rhEPO
auf die Transfusionshäufigkeit (Odds ratio: 0,45; Odds ratio = relative
Wahrscheinlichkeit, daß mit rhEPO behandelte Patienten transfundiert werden im
Vergleich zur Kontroll-Gruppe) als Studien mit schlechterer Qualität (Odds
ratio: 0,14). Die basierend auf den Ergebnissen der Studien mit besserer
Qualität ermittelte ”Number Needed to Treat” (NNT) beträgt 5,2 und bedeutet,
daß etwa fünf Patienten mit rhEPO behandelt werden müssen, um während einer Beobachtungsdauer von 12 Wochen bei einem
anämischen Patienten mit einem Hb-Wert £ 10g/dl
eine Transfusion zu vermeiden. Insgesamt wurde in neun klinischen Studien der
Einfluß von rhEPO auf die ”Lebensqualität” analysiert, wobei jedoch nur in sieben
Studien statistische Vergleiche zwischen Kontroll- und rhEPO-Arm durchgeführt
wurden. Ein statistisch signifikanter Unterschied zu Gunsten des rhEPO-Armes
fand sich nur in zwei klinischen Studien, in denen Patienten mit mittleren
Hb-Ausgangswerten von 10,0 g/dl oder weniger behandelt wurden. Eine Metaanalyse
hinsichtlich des Einflusses von rhEPO auf die ”Lebensqualität” war nicht
möglich, da in den Studien unterschiedliche Meßinstrumente zur Ermittlung der
”Lebensqualität” benutzt wurden. Überzeugende Evidenz, daß rhEPO die Häufigkeit
von Transfusionen vermindert, resultiert aus klinischen Studien, in denen
Patienten mit mittleren Hb-Werten von 10,0 g/dl oder weniger eingeschlossen
wurden. Ausreichende Evidenz zur Beantwortung der Frage, ob ein Beginn der
rhEPO-Gabe bei Hb-Werten > 10,0 g/dl mehr Patienten eine Transfusion erspart
oder die ”Lebensqualität” verbessert, liegt nicht vor. Prädiktive Faktoren für
das Ansprechen auf die Therapie mit rhEPO (z.B. die endogene EPO-Konzentration
im Serum vor Therapiebeginn bzw. das Verhältnis der gemessenen zur an Hand des
Hb-Werts vorhergesagten EPO-Konzentration im Serum) wurden in den
kontrollierten klinischen Studien nicht ermittelt, allerdings auch nicht
systematisch analysiert.
Die Metaanalyse der
randomisierten klinischen Studien deckte zahlreiche Mängel auf u.a. im Design
sowie in der Analyse und der Interpretation der Ergebnisse. Zukünftige Studien
sollten deshalb die kürzlich revidierten CONSORT (Consolidated Standards
of Reporting Trials)-Empfehlungen beachten (11; s.a. AMB 2001, 35, 46), den Grenzwert für die Transfusion von
Erythrozytenkonzentraten genauer festlegen und Patienten prospektiv
hinsichtlich relevanter klinischer Merkmale (z.B. Tumortyp, vorausgegangene
Behandlung, verabreichtes Therapieregime, prädiktive Faktoren für das
Therapieansprechen) stratifizieren.
Unerwünschte
Arzneimittelwirkungen: RhEPO wird meistens gut vertragen. Sehr selten wurden
Grippe-ähnliche Symptome nach Erstinjektion, Hautausschlag, Hypertonie,
Kopfschmerzen, thromboembolische Komplikationen, Knochen- oder Muskelschmerzen und Reaktionen an der Injektionsstelle
beschrieben. Das Auftreten einer Hypertonie steht vermutlich im
Zusammenhang mit dem Anstieg des Hb-Werts. Deshalb sollten Hb-Werte > 14,0
g/dl unter der Therapie mit rhEPO vermieden werden. Ob
eine transfusionsbedürftige isolierte Erythroblastopenie (erworbene
”Pure Red-Cell Aplasia”), wie sie nach rhEPO-Behandlung bei Patienten mit
chronischer Niereninsuffizienz sehr selten beobachtet wurde (Bildung
neutralisierender Antikörper gegen rhEPO), auch bei Patienten mit Tumoranämie
auftreten kann, ist nicht bekannt (49).
Kosten: Eine Therapie von
acht Wochen mit rhEPO in der derzeit empfohlenen Dosierung (3 mal 150 I.E./kg
Körpergewicht und Woche s.c.; bei ungenügendem Anstieg der Retikulozyten bzw.
des Hb-Werts Steigerung der Dosis auf 3 mal 300 I.E./kg Körpergewicht und Woche
s.c.) kostet bei einem 70 kg schweren Patienten ca. 4910 € bzw. bei
Dosissteigerung nach 4 Wochen ca. 7415 € (Grundlage der Berechnung: Preise in
der Roten Liste 2001). Bei s.c. Applikation können auf Grund der günstigen
Pharmakokinetik gegenüber der i.v. Gabe 23-52% der Dosis gespart werden. Der
Arzneiverordnungs-Report 2001 ergibt für 2000 deutlich gestiegene Verordnungen
(Definierte Tagesdosen = DDD, Änderung gegenüber 1999: +12,3%; Umsatz +24,1%;
1) von Epoetin alfa und beta, wobei genaue Angaben zur Zahl der Verordnungen
für die onkologischen Indikationen nicht vorliegen. In Österreich zählte rhEPO
1998 zu den wachstumsstärksten Arzneimittelgruppen, und der Umsatz von rhEPO
für onkologische Indikationen wird auf 50-64 Mio. € geschätzt (C. Wild,
TA-Datenbank-Nachrichten). In den USA beträgt der Umsatz von rhEPO für
onkologische Indikationen bei ca. 200000 jährlich behandelten Patienten etwa
2,5 Mrd. $, in Deutschland 220 Mio. € (1, 13).
Empfehlung zur
rationalen Verordnung: RhEPO ist für die Behandlung der Tumor-assoziierten
Anämie (Hb ≤ 10,5 g/dl) bei Patienten
mit malignen Lymphomen, Plasmozytom oder soliden Tumoren, die vor Beginn der Chemotherapie
oder nach dem ersten Therapiezyklus eine Anämie haben, ein geeignetes, jedoch
teures Arzneimittel, das zum Anstieg des Hb-Werts führen und den Bedarf an
Erythrozytenkonzentraten reduzieren kann. Die Metaanalyse der bisher
vorliegenden kontrollierten klinischen Studien zur Therapie der
Tumortherapie-assoziierten Anämie mit rhEPO ergab, daß etwa fünf Patienten mit
rhEPO behandelt werden müssen, um einem Patienten eine Transfusion zu ersparen
(7; s.a. AMB 2002, 36, 12). Eine Therapie mit rhEPO bei Tumorpatienten
darf nur begonnen werden, wenn andere Ursachen für die Anämie (z.B. Mangel an
nutritiven Faktoren wie Eisen, Vitamin B12, Folsäure) ausgeschlossen
worden sind. Die derzeit empfohlene Dosierung von rhEPO beträgt 3 mal 150
I.E./kg Körpergewicht und Woche. Bei ungenügendem Anstieg der Retikulozyten
bzw. des Hb-Werts kann eine Steigerung der Dosis auf 3 mal 300 I.E./kg
Körpergewicht und Woche versucht werden, wobei Evidenz für eine
Dosis-Wirkungs-Beziehung bei Tumorpatienten nicht vorliegt. Randomisierte
klinische Studien zur Wirksamkeit der zumindest in den USA bereits häufig
verabreichten Dosis von einmal 40000 I.E./Woche und ggf. Erhöhung der Dosis
nach 4-6 Wochen liegen nicht vor. Eindeutige Aussagen zum Einfluß von rhEPO auf
die ”Lebensqualität” von Tumorpatienten und
Kosten-/Effektivitäts-Analysen dieser Therapie sind anhand der
vorliegenden Studien nicht möglich. Diese Fragen sollten ebenso wie die
Definition prädiktiver Faktoren in weiteren prospektiven kontrollierten
Therapiestudien untersucht werden.
Intravenöse Immunglobuline in der
Hämatologie
Intravenös
verabreichbare Immunglobuline (IVIG) sind in den letzten 10-15 Jahren neben den
etablierten Anwendungsgebieten (Substitution bei primären oder sekundären
Antikörpermangel-Syndromen) zunehmend häufig zur Behandlung von Erkrankungen
mit vermuteter autoimmuner Ursache (z.B. idiopathische thrombozytopenische
Purpura, autoimmunhämolytische Anämie, Hemmkörperhämophilie,
Guillain-Barré-Syndrom, Multiple Sklerose, Dermatomyositis, Systemischer Lupus
erythematodes, Rheumatoide Arthritis) und bei Sepsis eingesetzt worden. So ist
z.B. der Verbrauch von IVIG in den Niederlanden (15 Mio. Einwohner) von 150 kg
im Jahr 1990 auf 250 kg im Jahr 1995 (14) gestiegen, und in Deutschland betrug
der Umsatz im Jahr 2000 98 Mio. € (+22% gegenüber 1999; 1, 15). Da mehr als 50%
der Verordnungen von IVIG die sog. ”Off-Label-Therapie” betreffen und für viele
Erkrankungen außerhalb der zugelassenen Indikationen gesicherte Erkenntnisse
zur Wirksamkeit aus kontrollierten klinischen Studien nicht vorliegen, sind in
den vergangenen Jahren zahlreiche Empfehlungen zum Einsatz von IVIG in
prophylaktischer und in therapeutischer Absicht herausgegeben worden (16-19).
Anhand einer systematischen Auswertung der in der englischen Fachliteratur
zwischen 1981 und 1997 publizierten Arbeiten konnte kürzlich gezeigt werden,
daß IVIG alleine in der Hämatologie bei 28 unterschiedlichen Erkrankungen
eingesetzt wurden (14). Für die meisten dieser Erkrankungen liegen keine
kontrollierten klinischen Studien vor. Konsensus-Erklärungen für die
”Off-Label-Therapie” raten entweder von einer IVIG-Gabe ab (z.B. bei
aplastischer Anämie oder mikroangiopathischer hämolytischer Anämie) oder
empfehlen den Einsatz nur nach Versagen der Standardtherapie bzw. bei
Kontraindikationen für die Standardtherapie (z.B. bei
autoimmunhämolytischer Anämie; 20). Am Beispiel der idiopathischen
thrombozytopenischen Purpura (ITP), der chronischen lymphatischen
Leukämie (CLL) und des Multiplen Myeloms soll die vorliegende Evidenz für die
Gabe von IVIG und Empfehlungen für den rationalen Einsatz kurz diskutiert
werden.
Wirkungsmechanismus: IVIG-Präparationen
enthalten > 97% intakte polyspezifische IgG-Moleküle mit einer Verteilung
der IgG-Subklassen ähnlich wie im normalen Serum. Daneben finden sich in IVIG
Spuren von IgA und IgM, löslichen CD4-, CD8- und HLA-Molekülen, verschiedene
Zytokine sowie Antikörper gegen eine große Zahl von Zytokinen, deren
physiologische und klinische Relevanz jedoch noch unklar ist (21). Die Halbwertszeit der IVIG beträgt ungefähr
drei Wochen; ihr Wirkungsmechanismus ist komplex
und nur z.T. bekannt. Er umfaßt neben der Substitution von IgG-Antikörpern
(z.B. im Rahmen sekundärer Antikörpermangel-Syndrome bei CLL oder Multiplem
Myelom), die Blockade von Fc-Rezeptoren, die Hemmung der Komplementaktivierung,
die Zufuhr anti-idiotypischer Antikörper, Anti-Zytokineffekte, die Modulation
von B- und T-Zell-Aktivierung und die verstärkte Clearance von Autoantikörpern
(21). Diese Aktivitäten spiegeln die Funktionen zirkulierender Immunglobuline
für die Homöostase des normalen Immunsystems wider.
Anwendungsgebiete
und klinische Studien: Im Jahre 1996 sind von der American Society of
Hematology (ASH) evidenzbasierte Richtlinien zur Diagnostik und Therapie der
ITP bei Kindern, Erwachsenen, Schwangeren und Neugeborenen (von Müttern mit
ITP) publiziert worden (22; s.a. AMB 1997, 31, 38 und 53a). Die
Erarbeitung dieser Richtlinien, die u.a. auf einer gründlichen Literatursuche
aus den Jahren 1966-1994 basierte, wurde durch die
Tatsache erschwert, daß für fast alle klinisch relevanten Aspekte die Evidenz
der Kategorie I (d.h. aus randomisierten klinischen Studien) fehlte und
Empfehlungen häufig nur auf der Basis von Evidenz der Kategorie V (d.h. kleine
Fallstudien ohne Kontroll-Gruppe) gegeben werden konnten. Die meisten Studien
wählten zudem als primären Endpunkt den Surrogatmarker ”Anstieg der
Thrombozyten” an Stelle klinisch relevanter Endpunkte, wie z.B. Häufigkeit von
Blutungskomplikationen, Rezidive, Entwicklung einer chronischen ITP oder Letalität (50). Von acht bis 1997 publizierten
randomisierten Studien zur Wirksamkeit von IVIG bei ITP wurden sieben bei
Kindern mit neu diagnostizierter, unbehandelter ITP durchgeführt (14). Während
für Kinder Evidenz der Kategorie I hinsichtlich eines rascheren Anstiegs der
Thrombozyten nach IVIG vorliegt, findet sich in der Literatur für Erwachsene
mit ITP keine Evidenz für die Wirksamkeit einer initialen Gabe von IVIG. Auch
für die klinisch häufig durchgeführte Gabe bei Patienten, die gegenüber der
initialen Behandlung mit Kortikosteroiden refraktär waren, liegt nur Evidenz
der Kategorie V vor. Dementsprechend konnten evidenzbasierte Richtlinien für
die Gabe von IVIG bei Erwachsenen mit ITP nicht formuliert werden. Es wurden
daher nur Empfehlungen ausgesprochen, die auf der (subjektiven) Meinung der dem
Komitee angehörenden Hämatologen basieren (22). Auch für die Beantwortung der
wegen der Kosten wichtigen Frage nach der Dosierung der IVIG bei ITP existieren
nur wenige randomisierte Studien mit kleinen Patientenzahlen, die keine
endgültige Aussage erlauben. Nachdem ursprünglich eine Dosierung von 0,4 g/kg
Körpergewicht/d über fünf Tage bzw. von 1 g/kg/d an zwei aufeinander folgenden
Tagen empfohlen wurde, ergaben randomisierte Studien keinen Vorteil der
zweimaligen Gabe von 1 g/kg/d gegenüber der einmaligen Gabe dieser Dosis (23);
es fand sich jedoch ein Vorteil einer einmaligen Dosis von 1 g/kg/d gegenüber
0,5 g/kg/d (24).
Patienten mit CLL
oder Multiplem Myelom haben neben Störungen der zellulär vermittelten Immunität
und neben unspezifischen Defekten der Monozyten, NK-Zellen und
Komplementaktivierung häufig eine Hypogammaglobulinämie, die sie für z.T.
lebensbedrohliche bakterielle Infektionen anfällig macht. Die
Hypogammaglobulinämie kann durch Therapiemaßnahmen (z.B. Kortikosteroide,
alkylierende Zytostatika, Purin-Analoga, monoklonale Antikörper,
Hochdosis-Chemotherapie) noch verstärkt werden. Darüber hinaus haben
insbesondere Patienten mit CLL häufiger Autoimmunopathien, wie z.B.
autoimmunhämolytische Anämien (AIHA) und ITP (25). Es war deshalb naheliegend,
den Wert der IVIG als Substitution bei Hypogammaglobulinämie zur
Infektionsprophylaxe und Behandlung der autoimmun bedingten Zytopenien zu
untersuchen. Bei Patienten mit CLL und Hypogammaglobulinämie und/oder häufigen
bakteriellen Infektionen wurden bisher vier randomisierte Studien (IVIG versus
Plazebo oder versus keine Therapie) durchgeführt, die alle eine Reduktion
schwerer bakterieller Infektionen nach IVIG ergaben (14). Eine weitere
randomisierte Studie verglich zwei unterschiedliche Dosierungen der IVIG (0,25
g/kg versus 0,5 g/kg jeweils alle vier Wochen); die höhere Dosierung brachte
keinen Vorteil (26). Die Wirksamkeit einer prophylaktischen antibiotischen
Therapie bei Patienten mit CLL wurde bisher nicht mit der von IVIG verglichen.
Bei Patienten mit Multiplem Myelom konnten IVIG in einer doppeltblinden
randomisierten Studie bakterielle Infektionen reduzieren, wobei insbesondere
Patienten mit schlechtem Ansprechen auf eine Pneumovax-Vakzinierung und guter
Knochenmarkfunktion profitierten (27). Kontrollierte klinische Studien zum
Einsatz von IVIG bei Patienten mit CLL und AIHA
oder ITP liegen nicht vor. Ein Therapieversuch mit IVIG sollte deshalb nur nach
Versagen der Standardtherapie bzw. bei schwerer Blutungsneigung erfolgen.
Unerwünschte
Arzneimittelwirkungen: Bei den UAW von IVIG muß zwischen häufigen
Allgemeinreaktionen (Fieber, Schüttelfrost, gastrointestinale Beschwerden,
Kopf-, Glieder-, Rückenschmerzen, Dyspnoe, Bronchospasmus), seltenen echten
allergischen Reaktionen (Atemnot, Schwindel, Kreislaufkollaps bis hin zur
Bewußtlosigkeit) und schweren, fast ausschließlich bei Patienten mit
angeborenem selektivem IgA-Mangel auftretenden anaphylaktischen Reaktionen
unterschieden werden (17, 28). Die Allgemeinreaktionen treten in Abhängigkeit
von der verabreichten Einzeldosis und der Infusionsgeschwindigkeit bei 2-6% der
Patienten auf und werden häufiger bei Patienten mit Antikörpermangel-Syndromen
beobachtet (28). Für die Allgemeinreaktionen werden u.a. eine rasche Bildung
von Antigen-Antikörper-Komplexen mit Überforderung nachgeordneter
Abbaumechanismen und eine dosisabhängige Ausschüttung endogener Kinine und/oder
Mediatoren verantwortlich gemacht. In den letzten
Jahren häufen sich Berichte über UAW einer hochdosierten IVIG-Therapie
an den Nieren (Auslösung eines akuten Nierenversagens; 29). Als Risikofaktoren
gelten eine vorbestehende Einschränkung der Nierenfunktion, Diabetes mellitus
und höheres Lebensalter. Die Pathogenese der durch IVIG ausgelösten
Nierenschädigung ist unklar. Diskutiert werden u.a. eine osmotisch bedingte
Schädigung der proximalen Nierentubuli durch den Zusatz stabilisierender Stoffe
(z.B. Saccharose) und ischämische Störungen. Die für IVIG üblichen
Reinigungsschritte über die Cohn-Fraktionierung hinaus gelten als sicher im
Hinblick auf die Virusinaktivierung gegenüber Hepatitis B und C und HIV. Heute
dürfen nur noch IVIG zugelassen werden, für deren Herstellung Plasma von Anti-HBV-,
Anti-HCV- und HIV-negativen Spendern verwendet wurde.
Kosten: Die Behandlung mit
IVIG ist sehr teuer, insbesondere bei längerer oder hochdosierter Gabe (z.B.
bei ITP). Die Apotheken-Verkaufspreise (Grundlage: Rote Liste 2001) schwanken
für 1,0 g der verschiedenen 7S-IVIG-Präparate zwischen 74 und 113 €.
Demgegenüber liegen die Kosten für 1,0 g in Krankenhausapotheken bei ca. 26 €.
Eine einmalige Substitution von IVIG (0,4 g/kg Körpergewicht) bei einem 70 kg
schweren Patienten (z.B. mit CLL) kostet dementsprechend im ambulanten Bereich
ca. 2140 € und stationär ca. 716 €. Diese Substitution muß bei entsprechender
Indikation (s.o.) alle 3-4 Wochen wiederholt werden. Die Behandlung der ITP mit
IVIG (1,0 g/kg) bei einem 70 kg schweren Patienten
kostet ambulant ca. 5370 € und stationär 1790 €. Diese Zahlen
verdeutlichen die Notwendigkeit, die Indikation für IVIG stets genau zu prüfen
und die Dosierung entsprechend den aktuellen Richtlinien vorzunehmen (16-19,
22).
Empfehlung zur
rationalen Verordnung: Die Empfehlungen zur Gabe von IVIG bei ITP orientieren
sich derzeit an den Richtlinien der ASH (22; s.a. AMB 1997, 31, 38und 53b). Eine Untersuchung in Großbritannien zur Behandlung der akuten ITP bei
Kindern hat die Schwierigkeiten bei der Umsetzung dieser Richtlinien in die
klinische Praxis eindrucksvoll verdeutlicht
(30). In dieser Auswertung erhielten 94 von insgesamt 356 Kindern mit
Thrombozytenwerten < 20/nl IVIG als initiale Therapie, obwohl hierfür keine
Indikation (z.B. Blutungsneigung) vorlag. Es darf vermutet werden, daß auch
Erwachsene mit ITP zu häufig bzw. in zu hoher Dosierung IVIG erhalten und
hierdurch erhebliche Kosten verursacht werden. Die von der Europäischen
Arzneimittelagentur (EMEA) ausgesprochene Empfehlung, Patienten mit Multiplem Myelom
und CLL mit schwerer sekundärer Hypogammaglobuliämie und wiederholten
Infektionen mit IVIG (Dosis: 0,2-0,4 g/kg alle 3-4 Wochen) zu substituieren
(31), wird nur durch wenige randomisierte Studien mit kleinen Patientenzahlen
gestützt. Alternative, kostengünstigere Therapiestrategien (z.B.
prophylaktische Gabe von Antibiotika) sind bisher leider nicht in
kontrollierten klinischen Studien geprüft worden.
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