Zusammenfassung:
NSAID-assoziierte Läsionen des Dünn- und Dickdarms sind wahrscheinlich weitaus
häufiger als klinisch vermutet. Neben Diarrhö und okkulten Blutverlusten können
Erosionen, Ulzerationen, Blutungen, Strikturen und Perforationen des unteren Intestinaltrakts
auftreten. Vorbestehende chronisch entzündliche Darmerkrankungen können
exazerbieren. Im Gegensatz zu den geläufigen NSAID-induzierten Läsionen des
oberen Gastrointestinaltrakts ist für diese Komplikationen keine medikamentöse
Prophylaxe bekannt. Ob Zyklooxygenase(COX-2)-2-Hemmer im Hinblick auf diese
unerwünschte Arzneimittelwirkung günstiger sind, ist bislang nicht geklärt. Bei
unklarer Eisenmangel-Anämie, unklarer chronischer Diarrhö oder sonstigen
unklaren gastrointestinalen Beschwerden sollte differentialdiagnostisch
frühzeitig an die Möglichkeit einer NSAID-Enteropathie gedacht werden.
Nichtsteroidale
Antirheumatika (NSAID) einschließlich der Azetylsalizylsäure (ASS) gehören zu
den am häufigsten verordneten Arzneimitteln. So gibt es in den USA ca. 13 Mio.
NSAID-Daueranwender und mehr als 100 Mio. NSAID-Verschreibungen pro Jahr.
Weltweit nehmen täglich ca. 30 Millionen Menschen NSAID ein; jährlich werden
ca. 40 Millionen Einzeldosen ASS verschrieben. Das Nebenwirkungsspektrum dieser
Substanzen am oberen Gastrointestinaltrakt reicht von dyspeptischen Beschwerden
ohne morphologisches Korrelat über eine C-Gastritis (chemisch-toxisch
induzierte Gastritis) bis hin zu nicht selten asymptomatischen gastroduodenalen
Ulzera mit potenziell lebensbedrohlichen Komplikationen, wie z.B. der oberen
gastrointestinalen Blutung und der (klinisch ebenfalls häufig atypisch
imponierenden) Perforation. Das Auftreten peptischer Gastroduodenalulzera als
typische Nebenwirkung einer länger dauernden Behandlung mit NSAID ist allgemein
bekannt und gut untersucht (s.a. AMB 1999, 33, 1). Gemäß der populären
Zehnerregel erleidet unter einer NSAID-Dauertherapie jeder 10. Patient ein
peptisches Ulkus, hiervon jeder 10. eine Ulkuskomplikation, an der wiederum
jeder 10. stirbt. Die "Adjusted odds ratio" für eine
gastrointestinale Blutung unter NSAID beträgt zwischen 1,88 und 3,10 gegenüber
Kontrollen (1-3). In Großbritannien werden jährlich 1200-3000 Todesfälle/Jahr als Folge NSAID-induzierter gastroduodenaler
Ulzera (ohne ASS) geschätzt (4); unter amerikanischen Patienten mit
Rheumatoider Arthritis werden jährlich 2600-10000 NSAID-assoziierte Todesfälle
angenommen (5). In den USA liegt die Zahl NSAID-assoziierter Komplikationen als
Todesursache damit zwischen den Todesfällen an Ovarial- und Zervixkarzinomen
(6, 7) bzw. in der gleichen Größenordnung wie Todesfälle an AIDS (8).
Die Mechanismen
dieser Schleimhautschädigungen werden einerseits auf die
Substanzgruppen-typische Hemmung der Zyklooxygenase (COX) als Schlüsselenzym
der Prostaglandinsynthese, vor allem der Zyklooxygenase-1 (COX-1),
zurückgeführt. Darüber hinaus spielen aber auch substanzspezifische
Charakteristika wie pKa-Wert und Metabolisierungs- und
Exkretionswege der einzelnen Wirkstoffe eine pathogenetische Rolle. Dies
spiegelt sich darin wider, daß das substanzspezifische Verhältnis von COX-2- zu
COX-1-Hemmung nicht in direktem Zusammenhang mit der Häufigkeit
gastrointestinaler Schleimhautschädigungen steht (9, 10). Weitere
Risikofaktoren für das Auftreten oberer gastrointestinaler Komplikationen unter
einer NSAID-Therapie sind Alter des Patienten,
Ulkusanamnese, Helicobacter-pylori-Besiedlung, NSAID-Dosierung, Therapiedauer
sowie eine Komedikation mit Antikoagulanzien und Kortikosteroiden; die
Verabreichungsform ist demgegenüber von untergeordneter Bedeutung (11). Eine
signifikante Reduktion dieser Komplikationen kann durch die gleichzeitige Gabe
von Misoprostol, einem aus der Ulkustherapie bekannten künstlichen
Prostaglandin, oder von Protonenpumpen-Inhibitoren erreicht werden (s.a. AMB 1999, 33, 1). Für die beiden derzeit zugelassenen COX-2-Hemmer Celecoxib
(Celebrex) und Rofecoxib (Vioxx) wurde eine signifikante Reduktion
unerwünschter gastrointestinaler Nebenwirkungen gegenüber den klassischen NSAID
angegeben; diese Daten entstammen jedoch den beiden großen Herstellerstudien
CLASS und VIGOR. Wegen methodischer Mängel und unseriöser
Datenveröffentlichungen ist die CLASS-Studie aber erheblich zu kritisieren (19;
s.a.AMB 1999, 33, 1 und 2000, 34, 73).
Weit weniger bekannt
als die Schädigungen des oberen Gastrointestinaltrakts sind Läsionen des Dünn-
und Dickdarms durch NSAID (s.a. AMB 1996, 30, 79). Dies hat vor allem
methodische Gründe, da insbesondere der Dünndarm nicht routinemäßig und wenn,
dann häufig nicht vollständig endoskopisch untersucht werden kann. Häufigstes
Symptom der NSAID-Enteropathie ist eine Eisenmangel-Anämie; weitere bekannte
NSAID-Schäden des unteren Intestinaltrakts sind Diarrhö, Hypalbuminämie,
Erosionen, Ulzerationen, Perforationen, Membranbildung und Strikturen des Dünn-
und Dickdarms, Rezidive bzw. Exazerbationen chronisch entzündlicher
Darmerkrankungen sowie Divertikelperforationen (12); darüber hinaus existieren
mehrere kasuistische Mitteilungen über schwere Malassimilations-Syndrome als Folge
einer NSAID-Dauertherapie (13). Die Inzidenz dieser Veränderungen ist nicht
genau bekannt. Intestinoskopische Studien, Untersuchungen zum
Leukozytennachweis im Stuhl sowie Sektionsserien zeigen jedoch eine erhebliche
Prävalenz solcher Läsionen. So fanden sich in einer Sektionsserie von 713
Patienten, von denen 249 in den letzten 6 Monaten vor ihrem Tod NSAID
eingenommen hatten, bei 8,4% Dünndarm-Ulzerationen, unter den Nichtanwendern
hingegen lediglich bei 0,6%; drei der Daueranwender waren an einer Dünndarmperforation
gestorben (14). In einer intestinoskopischen Studie fanden sich bei 41% der
untersuchten NSAID-Anwender Mukosaläsionen des Dünndarms (15). Der Nachweis von
Leukozyten mittels 111In-Markierung oder Bestimmung von Calprotectin
im Stuhl als indirekter Parameter mukosaler Läsionen des Gastrointestinaltrakts
gelang bei 44-75% aller Patienten unter einer NSAID-Therapie (16).
Zur Visualisierung
des Dünndarms standen bislang drei aufwendige endoskopische Verfahren zur
Verfügung:
1.
Die
Push- oder Vorschub-Enteroskopie, bei der - quasi in Verlängerung der
Gastroskopie oder der Koloskopie - ein besonders langes, ggf. zusätzlich
versteiftes, flexibles Endoskop transoral oder transanal so weit wie möglich in
den Dünndarm vorgeschoben wird. Mit dieser Methode gelingt es nur in
Ausnahmefällen, den gesamten Dünndarm einzusehen. Eine Variante des Verfahrens
besteht in der intraoperativen Enteroskopie über eine chirurgisch angelegte
Jejunostomie. Die verwendeten Endoskope erlauben neben der Betrachtung der
Schleimhaut auch Biopsien und therapeutische Eingriffe, wie z.B. lokale
Blutstillungsverfahren,
2.
die
Sonden- oder Durchzugs-Enteroskopie, bei der eine Leitsonde verschluckt wird,
die später anal austritt und mit der dann das Endoskop durch den Dünndarm
gezogen wird,
3.
die
Ballonsonden-Enteroskopie, bei der ein dünnes Endoskop, das an seiner Spitze
einen insufflierbaren Ballon trägt, transnasal eingeführt und durch die
Peristaltik durch den Dünndarm befördert wird. Seit kurzem steht mit der
Kapselenteroskopie eine neue Methode zur Verfügung. Hierbei wird eine Kapsel
verschluckt, die wie ein Videoendoskop einen CCD-Chip, Blitzdioden, einen
Sender und zwei Knopfbatterien enthält und im Halbsekundentakt Bilder aus dem
Verdauungstrakt an ein am Körper des Patienten befestigtes Empfangs- und
Aufzeichnungsgerät sendet. Die Auswertung des Bildmaterials erfolgt ähnlich wie
z.B. beim Langzeit-EKG nachträglich am PC.
Kolonläsionen
können zwar bei der routinemäßigen Koloskopie entdeckt werden, werden jedoch
meist als ischämische Kolitis, chronisch entzündliche Darmerkrankung oder
"unspezifische" Kolitis verkannt. Eine Membranbildung kann
endoskopisch unter Umständen mit normalen zirkulären Kolonfalten verwechselt
werden.
Die Mechanismen der
intestinalen Schleimhautschädigung durch NSAID sind nur teilweise aufgeklärt.
Im Tierversuch fanden sich Einflüsse durch die bakterielle Besiedlung des
Intestinums (keimfreie Tiere entwickelten keine NSAID-Enteropathie, eine
Antibiotikabehandlung verhinderte die Entwicklung von Läsionen) und die
enterohepatische Rezirkulation der Substanzen (so konnte die Entwicklung von
Dünndarmläsionen durch eine äußere Galleableitung verhindert werden). Auf
zellulärer Ebene bewirken NSAID eine Entkoppelung der oxydativen Phosphorylierung
in den Mitochondrien und somit eine Energieverarmung der Zelle. Die klassischen
Risikofaktoren für Läsionen des oberen Gastrointestinaltrakts sind auf den
unteren Gastrointestinaltrakt nicht ohne weiteres übertragbar. So haben Alter,
Geschlecht, Grunderkrankung, Dosis, Begleitmedikation (Kortikosteroide,
Second-line-Antirheumatika, "Magenschutz"-Präparate wie
Protonenpumpen-Inhibitoren) keinen Einfluß auf Häufigkeit und Schweregrad der
NSAID-Enteropathie (16) Für Misoprostol, das am oberen Gastrointestinaltrakt
protektiv wirkt (s. AMB 1999, 33, 1), existieren widersprüchliche
Angaben. Während die meisten Autoren keine Schutzwirkung dieser Substanz am
unteren Gastrointestinaltrakt fanden, berichtet eine retrospektive Studie über
eine Verbesserung des Hämoglobinwerts bei mit Misoprostol behandelten
Patienten, die unter NSAID-Therapie eine Eisenmangelanämie aufwiesen (13). Für
das einzelne Antirheumatikum scheint keine Korrelation zwischen der Inzidenz
oberer und unterer gastrointestinaler Läsionen zu bestehen. Ob die Gruppe der
COX-2-Hemmer hinsichtlich der Entero- und Kolopathie Vorteile bietet, ist
bislang ungeklärt; erste diesbezügliche Daten sind widersprüchlich. So findet
sich einerseits in der großen Herstellerstudie für Celecoxib eine gegenüber klassischen
NSAID praktisch identische Diarrhö-Inzidenz von 9,4% vs. 9,8% (17); im
Rattenmodell hingegen fanden sich unter Celecoxib weniger Dünndarmläsionen im
Vergleich mit Indometacin (18). Für den Menschen fehlen zu dieser Frage bislang
Untersuchungen unter Einsatz bildgebender Verfahren. Es steht zu erwarten, daß
die neue Technik der Kapselenteroskopie in den nächsten Jahren unser Wissen um
die Häufigkeit NSAID-assoziierter Schäden des unteren Intestinaltrakts
erheblich bereichern wird.
In Unkenntnis der
pathogenetischen Mechanismen ist vor allem eine kritische Anwendung von NSAID
bei Schmerzzuständen angezeigt. Insbesondere bei Abwesenheit entzündlicher
Prozesse sollten therapeutische Alternativen wie Paracetamol, Metamizol, Opiode
oder nicht-medikamentöse Maßnahmen ausgeschöpft werden. Ob die neue
Substanzgruppe der selektiven COX-2-Hemmer die in sie gesetzten Hoffnungen
hinsichtlich der Verträglichkeit am unteren Intestinaltrakt erfüllen kann,
bleibt bis zum Vorliegen entsprechender klinischer Studien offen.
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