Richtlinien zu Diagnostik und Therapie
von Erkrankungen sollten ”Evidenz-basiert” sein. Daß man Evidenz
unterschiedlich bewerten oder klinische Studien für mehr oder weniger
mangelhaft halten kann, zeigt ein Vergleich der neuen therapeutischen
Richtlinien für den Diabetes mellitus Typ 2 (DM2). Erstens gibt es die
Nationale Versorgungs-Leitlinie (NL), die von der Bundesärztekammer, der
Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), der Deutschen
Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), der Deutschen Diabetes-Gesellschaft
(DDG) und anderen Fachgremien in 1. Auflage im Mai 2002 herausgegeben worden
ist (1). Zweitens ist eine spezielle Leitlinie der AkdÄ im Druck (2). Drittens
gibt es eine Leitlinie des Koordinierungsausschusses nach § 137 e SBG V (3). Dieser
Ausschuß ist mit Vertretern der Krankenkassen, der medizinischen
”Leistungserbringer” und mit 3 ”unparteiischen” Mitgliedern besetzt.
Diabetologische Expertise kam überwiegend von einem einzigen Berater aus Köln.
Der Koordinierungsausschuß soll ”Disease-Management-Programme” (DMP) für
spezielle Erkrankungen (hier DM2) erarbeiten. Patienten mit den betreffenden
Einschlußkriterien können dann bei den Krankenversicherungen angemeldet werden.
Der behandelnde Arzt muß sich an die Therapierichtlinien des betreffenden
Programms halten, wird von den Kassen in dieser Hinsicht auch kontrolliert und
entsprechend fallbezogen bezahlt. Nicht präzise formuliert ist, wann er seinen
Patienten an einen Diabetologen oder an ein (spezielles?) Krankenhaus
überweisen soll (oder muß?). Klingt ganz schön, beinhaltet aber eine
bürokratische Einschränkung der ärztlichen Therapiefreiheit. Denn wer
entscheidet wohl im Konfliktfall? Ganz sicher zunächst Nichtärzte am
Schreibtisch der Krankenkasse!
Hier können nur die Empfehlungen zur
medikamentösen Blutzuckersenkung, zur antihypertensiven und ”renoprotektiven”
Therapie bei DM2 abgehandelt werden, also zu Themen, zu denen sich der
ARZNEIMITTELBRIEF in den letzten Jahren bereits in vielen Einzelmitteilungen
kritisch geäußert hat (4-12).
In allen Leitlinien wird
selbstverständlich die Notwendigkeit der Ernährungsumstellung, der vermehrten
körperlichen Aktivität, der Gewichtsreduktion als Basistherapie des DM2 sowie
die systematische Schulung und Ernährungsberatung in den Vordergrund gestellt.
Blutzuckersenkung: Die NL empfiehlt bei HbA1C-Werten
> 7% drei Monate nach Beginn der Basistherapie den Beginn der medikamentösen
Therapie mit Glibenclamid (Euglucon u.v.a.) oder, bei Übergewicht, mit
Metformin (Glucophage u.v.a.). Ist nach nochmals drei Monaten unter dieser
Therapie der HbA1C-Wert weiter > 7%, wird ein zweites orales
Antidiabetikum empfohlen, und zwar bei vorheriger Sulfonylharnstoff
(SH)-Therapie (in alphabetischer Reihenfolge) ein Alpha-Glukosidase-Hemmer
(z.B. Acarbose = Glucobay) oder ein Glitazon (z.B. Pioglitazon = Actos oder
Rosiglitazon = Avandia). Eine im Mai 2002 erschienene Richtlinie der DDG (13)
enthielt an dieser Stelle noch Metformin. Bei Vorbehandlung mit Metformin wird
(in alphabetischer Reihenfolge) die Zweittherapie mit Acarbose oder Glinid
(z.B. Repaglinid = NovoNorm oder Nateglinid = Starlix) oder Glitazon oder SH
empfohlen. In einer fett gedruckten Note des Therapieschemas der NL ist
vermerkt: ”Die Kombination von Glibenclamid und Metformin wird zur Zeit häufig
angewendet. Neuere Studien (gemeint ist UKPDS 33; 10) ergeben Hinweise auf
negative Auswirkungen dieser Kombinationstherapie auf die Gesamtmortalität und
die Diabetes-bezogene Mortalität”. Bei nach drei Monaten weiterhin auf über 7%
erhöhten HbA1C-Werten wird empfohlen, abends ein Verzögerungsinsulin
in das Therapieschema einzubeziehen oder auf eine reine Insulintherapie
überzugehen.
Die im Druck befindliche Leitlinie der
AkdÄ wendet einen resriktiveren Evidenzbegriff an und markiert die Pharmaka,
die besonders gut in ihrer Wirkung auf Symptomatik und Komplikationen belegt
sind: Sulfonylharnstoffe, Metformin und Insulin. Aber auch die Medikamente der
zweiten Wahl werden kritisch wertend besprochen und die Warnung vor der
Kombination SH plus Metformin hinterfragt. Es gibt ein umfangreiches
Literaturverzeichnis.
Der Koordinierungsausschuß ist
weniger ausführlich. Er empfiehlt nach unzureichender Wirkung der Basistherapie
die Behandlung mit Insulin oder Sulfonylharnstoffen oder einem Biguanid, wobei
nur noch Metformin in Frage kommt. Die Ausschließlichkeit dieser Empfehlung
wird jedoch durch folgende Aussage eingeschränkt: ”Vorrangig sollen
unter Berücksichtigung der Kontraindikationen und der Patientenpräferenzen
Medikamente zur Blutzuckersenkung verwendet werden, deren positiver Effekt und
deren Sicherheit im Hinblick auf die Erreichung ... (erwünschter) Therapieziele
in prospektiven randomisierten kontrollierten Langzeit-Studien nachgewiesen
wurde”. Auf dieses Kriterium wird selbstverständlich in allen Empfehlungen
großer Wert gelegt.
Positiv ist zu bewerten, daß unter den
oralen Antidiabetika Sulfonylharnstoffe und Metformin die erste Therapiestufe
sein sollen. In der NL ist nicht ganz verständlich, warum Acarbose, Glinide und
Glitazone bei der Kombinationstherapie besser bewertet werden als die
Kombination von Sulfonylharnstoffen mit Metformin. Zwar liegen zu dieser
Kombination Meldungen über negative Trends hinsichtlich der Letalität aus einer
UKPDS-Studie (10) vor, die Risiken bei der Kombination von Therapiestufe 1 mit
den neuen Medikamenten sind aber überhaupt noch nicht bekannt. Über den sehr
zweifelhaften Nutzen von Glitazonen haben wir erst in diesem Jahr ausführlich
berichtet (11). Aus unserer Sicht gibt es nur sehr wenige Patienten mit DM2,
denen nach Versagen einer Therapie mit SH, Metformin oder einer Kombination
dieser Substanzen eine (wie immer geartete) Therapie mit Insulin erspart
bleibt, wenn man es mit dem Therapieziel der Euglykämie-nahen Einstellung bei
jüngeren Patienten ernst nimmt. Insofern favorisieren wir mehr die Empfehlungen
des Koordinierungsauschusses und die wertende Darstellung der AkdÄ. Jedoch
besteht der Eindruck, daß der Koordinierungsausschuß in seinen Empfehlungen die
Therapiekosten (alle empfohlenen Medikamente sind kostengünstiger als die neuen
oralen Antidiabetika) sehr in den Vordergrund gestellt hat. Hat ein Arzt einen
Patienten in ein "Disease-Management-Programm" eingeschleust, sollten
ihm die Krankenkassen keinesfalls einen Regreß-Strick daraus drehen, wenn er
einem Diabetiker ausnahmsweise mit guter Begründung eines der neueren, in
seiner Langzeitwirkung auf Morbidität und Letalität noch nicht zu beurteilenden
Medikamente verschrieben hat.
Den jetzt vorliegenden Empfehlungen des
Koordinierungsausschusses ging ein vorbereitendes Symposium in Frankfurt/Main
voraus, bei dem offenbar empfohlen wurde, sich bei DM2-Patienten mit dem
Erreichen von HbA1C-Werten in der Größenordnung von 8,5-9% zu
begnügen und nur bei den angeblich sehr wenigen jüngeren Patienten eine
normnahe Blutzuckereinstellung anzustreben. Auch diese Tendenz läßt wieder den
Verdacht zu, daß das DMP für DM2 der Kostensenkung dienen sollte, obwohl die
Empfehlung durch frühere UKPDS-Studien teilweise belegt werden kann (10). Nach
Intervention der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (14) und anderer Institutionen
wurden diese restriktiven Empfehlungen aber wieder fallengelassen. Es liegen
nämlich auch Studien vor, die zeigen, daß eine nachhaltige Verbesserung der
Blutzucker- und HbA1-Situation das Ausmaß von diabetischen
Folgeerkrankungen reduziert. Immerhin bleibt festzuhalten, daß bei sehr alten
DM2-Patienten die Symptomfreiheit oft ein ausreichendes Ziel der
Blutzuckereinstellung ist.
Blutdrucksenkung und Nephroprotektion: Die Normalisierung des Blutdrucks ist bei
DM2 genau so wichtig wie die normnahe Einstellung des Blutzuckers (9). Die NL
empfiehlt zur Blutdrucksenkung (Ziel-RR: < 130/< 80 mm Hg) in erster
Linie ACE-Hemmer, bei diabetischer Nephropathie ACE-Hemmer oder
Angiotensin-II-(Typ 1)-Rezeptor-Blocker. Zu weiteren Kombinationen (in erster
Linie wohl mit Diuretika) finden sich keine Empfehlungen.
Der Koordinierungsausschuß empfiehlt bei
erhöhtem Blutdruck eine Senkung der Werte auf < 140/90 mm Hg mittels
Basistherapie (wenig Kochsalz, Gewichtsabnahme, viel Bewegung) und als
Medikamente in erster Linie Thiazid- oder Kombinations-Diuretika,
kardioselektive Betarezeptoren-Blocker oder ACE-Hemmer (Captopril, Enalapril,
Ramipril). Hinsichtlich Nephroprotektion werden ACE-Hemmer, gestützt auf die
Ergebnisse einer UKPDS-Studie (9), im Vergleich mit einem Beta-Blocker
(Atenolol) als nicht vorrangig empfehlenswert eingestuft.
Angiotensin-II-(Typ1)-Rezeptor-Blocker werden zur antihypertensiven und
nephroprotektiven Therapie als nicht gleichrangig mit ACE-Hemmern angesehen.
Hier halten wir die Empfehlungen der NL
für überzeugender. Wenn Diabetiker nicht ohnehin aus kardialer Indikation (z.B.
Zustand nach Herzinfarkt) Beta-Blocker nehmen sollten, ist für die
Blutdrucksenkung und zur Retardierung einer Nephropathie ein lange bewährter
ACE-Hemmer mit abgelaufener Patentfrist (z.B. Enalapril) wohl das Mittel der
ersten Wahl. Bei ACE-Hemmer-typischen Nebenwirkungen (Husten und
Angioneurotisches Ödem, die als UAW oft lange verkannt werden) sollte ein
Angiotensin-II-(Typ1)-Rezeptor-Blocker verwendet werden. Wir sind der Ansicht,
daß die renoprotektive Wirkung der UAW-armen Angiotensin-II-Rezeptor-Blocker
gesichert ist (12).
Die angeführten Beispiele zeigen, daß
auch ”Evidenz-basierte” Leitlinien dem Ermessen der an ihrer Erarbeitung
Beteiligten großen Spielraum lassen. Die Verantwortung der betreffenden
Gremienmitglieder und Gutachter ist erheblich. Sie sollten daher versuchen,
ihre Köpfe frei zu halten von Abhängigkeiten von Interessenverbänden, wie
Pharmaindustrie oder Versicherungen. Ganz wird das wohl nie gelingen, aber viel
spricht doch für eine schlanke Behandlungsweise, die sich mit der Therapie der
ersten Wahl begnügt, weil mehr Aufwand und Kosten wahrscheinlich nicht mehr
Wohlbefinden und Gesundheit für den Patienten bringen. "Wer immer strebend
sich bemüht”...
Literatur
-
Z. ärztl. Fortbild.
Qualitätssicherung 2002, 96 Suppl. II, 1 und Nationale
Versorgungs-Leitlinie Diabetes mellitus Typ 2: Diabetes und Stoffwechsel 2002, 11,
185.
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Arzneiversorgung in
der Praxis (AVP) 2002, Sonderheft.
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www.bmgesundheit.de (► Rechtsvorschriften ►
Gesetzliche Krankenversicherung ► 4. Verordnung Risikostrukturausgleich)
-
AMB 1995, 29,
29.
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AMB 1996, 30,
81.
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AMB 1997, 31, 23b.
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AMB 1997, 31, 72b.
-
AMB 1997, 31, 96.
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AMB 1998, 32, 76a.
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AMB 1998, 32, 81.
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AMB 2002, 36, 17.
-
AMB 2002, 36, 1.
-
Häring, H.U., und
Matthaei, S.: Diabetes und Stoffwechsel 2002, 11, 9.
-
Vorstand der DDG:
Diabetes und Stoffwechsel 2002, 11, 122.
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