Im
Oktober ist der Arzneiverordnungs-Report 2002 erschienen (1). Er gibt wie immer
einen in den Medien viel beachteten Überblick über das Verordnungsverhalten der
deutschen Ärzte im Vorjahr. 3,5 Millionen kassenärztliche Rezepte des Jahres
2001 wurden ausgewertet. Der Anteil der umstrittenen Arzneimittel an den
Verordnungen ist gesunken. Das Einsparpotential hier beträgt aber noch 1,2
Milliarden EUR. Es werden auch mehr Generika verschrieben, aber immer noch zu
wenig. Das Einsparvolumen hier ist 1,5 Milliarden EUR. Die Entwicklung geht
also in die richtige Richtung, ist aber noch nicht abgeschlossen.
Besonders
interessant und aufschlußreich ist die Analyse der Verordnungspraxis 2001 von
Präparaten, die erst im Jahre 2000 auf den Markt gekommen sind. Man sollte
erwarten, daß sich überwiegend die Arzneimittel durchsetzen, die einen echten
therapeutischen Fortschritt darstellen. Wenn dies nicht so ist, müssen wir uns
fragen: "Was führt dazu, daß nicht die effektivste Arzneimitteltherapie
gewählt wird?" und: "Warum wird zu wenig Wert gelegt auf den
Quotienten Kosten pro Wirkung?"
In Tab.
1 sind die Arzneimittel aufgelistet, die im Jahre 2000 neu zugelassen und im
Jahre 2001 mehr als 20000 mal verordnet worden sind. In der letzten Spalte
findet sich eine Bewertung in vier verschiedene Kategorien, die der
Arzneiverordnungs-Report seit Jahren praktiziert:
A =
Innovative Struktur bzw. neuartiges Wirkprinzip mit therapeutischer Relevanz,
B =
Verbesserung pharmakodynamischer oder pharmakokinetischer Eigenschaften bereits
bekannter Wirkprinzipien,
C =
Analogpräparate mit marginalen oder keinen Unterschieden zu bereits
eingeführten Präparaten,
D =
Nicht ausreichend gesichertes Wirkprinzip oder unklarer therapeutischer
Stellenwert.
Diese
Klassifizierung hat Tradition und hat sich bewährt. Ein anderer anschaulicher
Versuch, bloße ”Neuerung” von ”therapeutischem Fortschritt” begrifflich
abzugrenzen, stammt von der International Society of Drug Bulletins (ISDB), die
im November 2001 eine "Erklärung über den therapeutischen Fortschritt beim
Gebrauch von Medikamenten" verabschiedet hat (2). Danach müssen vom
therapeutischen Fortschritt abgegrenzt werden: Umsatzorientierte Neuerungen (me
too!) und Neuerungen im Herstellungsprozeß (z.B. Gentechnologie). Der
therapeutische Fortschritt ist demgegenüber (frei übersetzt) die Zunahme des
Quotienten aus Wirkung und Anwendungs-Komfort (z.B. niedermolekulare Heparine)
dividiert durch Nebenwirkungshäufigkeit und Preis.
Betrachtet
man unter diesen Gesichtspunkten die in Tab. 1 aufgeführten Arzneimittel,
stellt man fest, daß sich vor allem Analogpräparate, also am Umsatz orientierte
Neuerungen, durchgesetzt haben (z.B. der Protonenpumpenhemmer Esomeprazol =
Nexium). Einen tabellarischen Vergleich der Protonenpumpenhemmer haben wir im
Mai 2001 gebracht (3) und dargestellt, daß ihre Wirkung in vergleichbaren
Dosierungen identisch ist und somit der Preis über die Verordnung entscheiden
kann. Omeprazol als Generikum ist das preisgünstigste Medikament, aber die
umsatzorientierte Neuerung hat sich durchgesetzt.
Celecoxib
(Celebrex) wurde 692300 mal verordnet und Rofecoxib (Vioxx) 1627300 mal! Das
ist ein kometengleicher Aufstieg dieser Substanzen in der Beliebtheitsskala von
Medikamenten, die zur Behandlung von Gelenkschmerzen eingesetzt werden. Dabei
ist das Nebenwirkungsspektrum beider Präparate nicht ganz klar. Im
Beobachtungszeitraum der Zulassungsstudien - er betrug nur sechs Monate - war
die Zahl gastrointestinaler Blutungen zwar geringer als bei den zum Vergleich herangezogenen
NSAID, im weiteren Verlauf der Nachbeobachtung, über den in den Studien nicht
mehr berichtet wurde, verwischte sich allerdings diese Differenz (4). Bei den
Patienten, die weiter Azetylsalizylsäure (ASS) zur Prophylaxe
thromboembolischer Ereignisse einnehmen mußten, war die Blutungshäufigkeit kaum
geringer. Bei den Patienten, die keine ASS einnahmen, gab es aber mehr
Schlaganfälle und Herzinfarkte. Darüber hinaus muß unter der Behandlung die
Neigung zu Hypertonie und Herzinsuffizienz bedacht werden (5, 6). Warum werden
trotzdem die Coxibe weltweit mit einem Milliarden-Umsatz verordnet?
Auch
Insulin glargin (Lantus; 7) und die Glitazone (Rosiglitazon = Avandia;
Pioglitazon = Actos; 8) wurden im Jahre 2000 neu zugelassen und von Anfang an
sehr häufig verordnet, obwohl sie teurer sind als die zugelassenen
Vergleichspräparate und ein bedenkliches Spektrum unerwünschter Wirkungen (UAW)
haben. Beim Insulin glargin sind es Netzhautblutungen, die vermehrt beobachtet
wurden (9). Bei Retinopathie sollte es daher nur bei zwingender Indikation
verwandt werden. Besonders verwundert aber die Verordnungshäufigkeit der
Glitazone. Sie senken zwar den Blutzucker (Surrogat-Parameter), aber wie sind
sie klinisch zu bewerten, wenn nicht bekannt ist, ob auch die Komplikationen
des Diabetes seltener auftreten und die UAW (Herzinsuffizienz, Ödeme) so
schwerwiegend sind, daß sich manche Fachleute fragen, wie die Substanzen
überhaupt zugelassen werden konnten. Auch wir hatten nach einer eingehenden
Sichtung der Literatur von einer Verordnung außerhalb kontrollierter Studien
dringend abgeraten, nicht nur aus Preisgründen (8, 10).
Von den
18 neuen Wirkstoffen des Jahres 2000, die im Jahre 2001 mehr als 20000 mal
verordnet wurden, sind - wie die genannten Beispiele - elf in die
Bewertungs-Gruppe C eingestuft worden, d.h. umsatzorientierte Neuerungen, kein
therapeutischer Fortschritt. Würde hier kritischer verordnet, ergäbe sich nach
den Berechnungen des Arzneiverordnungs-Reports ein Einsparpotential von 1,48
Milliarden EUR!
Demgegenüber
gibt es dreimal eine klare A-Beurteilung (neuartiges Wirkprinzip mit
therapeutischer Relevanz), nämlich für Etanercept (Enbrel), Levetiracetam
(Keppra) und Trastuzumab (Herceptin). Etanercept ist ein Antagonist des
Tumornekrosefaktors, der wie Infliximab in der Rheumatherapie eingesetzt werden
kann. Levetiracetam ist ein Antiepileptikum mit neuem Wirkprinzip und
Trastuzumab ein monoklonaler Antikörper zur Immuntherapie des metastasierten
Mammakarzinoms. Es gibt also auch bemerkenswerten Fortschritt auf dem
Arzneimittelmarkt, der sich durchsetzt. Aber die dafür geforderten Preise sind
fast unerschwinglich. Sehr strenge Indikationsstellungen sind erforderlich und
harte Diskussionen über die Preisgestaltung (14).
Auch der "Arzneimittelskandal" um Cerivastatin
(Lipobay/Zenas) schlägt sich im Report nieder. Cerivastatin war erst 1997
zugelassen worden. Myopathien und Rhabdomyolysen waren als Risiko der Therapie
mit Statinen wohl bekannt. Cerivastatin schien sich von den Mitbewerbern aber
durch günstige pharmakokinetische Daten auszuzeichnen. 2001 gab es bis zum
August 107 Millionen verordnete Tagesdosen in Deutschland mit einem Umsatz von
etwa 110 Millionen EUR. Dann wurde es wegen erhöhter Inzidenz von Myopathien in
den USA weltweit vom Hersteller vom Markt genommen (11). Die Nachanalyse ergab
ein erhöhtes Risiko bei hoher Dosierung (0,8 mg) und auch in Kombination mit
Gemfibrozil sowie Clopidogrel. Der ”Skandal" ist die logische Folge
unseres Zulassungs-Systems, das Arzneimittel zu rasch auf den Markt läßt.
Andererseits aber ist er ein ”Erfolg” des Spontanerfassungssystems von UAW, das
zwar unzuverlässig ist, aber eine zentrale und - wie man sieht - wirksame Rolle
spielen kann.
Bupropion
(Zyban) ist im Jahr 2000 zur Raucherentwöhnung eingeführt worden und hat sich
nicht durchgesetzt. Hier hatte es nicht nur Warnungen von Fachleuten gegeben
(z.B. 12, 13), sondern auch eine laute Kampagne in den Medien mit Hinweisen auf
die bedrohlichen UAW im Vergleich zur Nikotinersatz-Therapie. Mit
wohlgesonnenen starken Partnern kann also Kritik auch etwas bewirken.
Im Jahre 2001 sind 33 Arzneistoffe in Deutschland neu in
die Therapie eingeführt worden (s. Tab. 2). Fünfzehnmal wurde die Bewertung
"A" vergeben, nur neunmal die Bewertung "C". Im Vergleich
zum Vorjahr ist dieses Votum positiver. Wir werden sehen, ob dies auch zu
rationaler und wirtschaftlicher Verordnung führt oder ob wieder die
"Me-too"-Präparate, die Nachahmer-Päparate, einen hohen Anteil der
Arzneimittel-Kosten verschlingen. Erste Anzeichen sprechen dafür. Von den sechs
am häufigsten verordneten Arzneimitteln, die im Jahre 2001 zugelassen worden
sind, hatten vier die Bewertung "C".
Wie
kommt es, daß die Mehrzahl der Ärzte und Apotheker offenbar evidenzbasierte
Richtlinien und therapeutischen Fortschritt nicht zur Grundlage ihrer
Entscheidungen macht? Weil sie dazu verführt werden, Neuerung für Fortschritt
zu halten. So jedenfalls argumentiert die ISDB in ihrer "Deklaration zu
Fortschritten in der medikamentösen Therapie". Der Arzneiverordnungs-Report
läßt erkennen, daß es viele Möglichkeiten zu einer effektiveren Therapie gibt.
Bei der Konzeption der Zulassungsstudien - meist von den
Herstellern bezahlt - werden häufig die CONSORT-Qualitäts-Kriterien (15) nicht
beachtet und dadurch Wirksamkeit und Bedeutung eines neuen Arzneimittels
überzeichnet. So sind z.B. Art und Zahl der Test-Personen oft unzureichend;
darüber hinaus wird häufig gegen Plazebo oder auf Äquipotenz und nicht auf
Überlegenheit gegenüber einem bereits erprobten Therapieprinzip getestet; nicht
selten werden im Sinne gewünschter Ergebnisse "geeignete"
Vergleichs-Dosierungen und Endpunkte gewählt u.s.w. Nicht alle
Studienergebnisse werden veröffentlicht, sondern überwiegend die positiven.
Die europäische Arzneimittelbehörde (EMEA) ist nicht der
Generaldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz zugeordnet, sondern der
Generaldirektion Wirtschaft. Das läßt erkennen, woher dort der Wind bläst. Das
Profil der UAW von Arzneimitteln kann nach der immer kürzeren Erprobungsphase
vor der Zulassung schlichtweg nicht bekannt sein. Es gibt auch keine
Verpflichtung, neue Medikamente als solche zu kennzeichnen, damit auch die
Patienten Bescheid wissen und sich an der Meldung von Nebenwirkungen beteiligen
können. Ebenso gibt es für Behörden und Industrie keine Auflagen, nach der
Zulassung die Häufigkeit von UAW systematisch zu erfassen und zu
veröffentlichen. So wird es immer wieder zu überraschenden Rücknahmen der
Zulassung kommen müssen.
Die
Marketingstrategen der pharmazeutischen Industrie lassen keine Methode aus, die
ihnen geeignet scheint, Ärzte und Patienten zu höheren Umsätzen ihrer
Arzneimittel zu veranlassen. Die Organisatoren von Zulassungsstudien, oft
Leiter universitärer Einrichtungen, werden - im kommerziellen Sinne erfolgreich
- als Meinungsbildner eingesetzt. Hochglanzbroschüren werden unaufgefordert
verteilt und verordnenden Ärzten Vorteile vermittelt. Auch die Medien sehen
ihre Vorteile bei diesen Vorgängen, und im Bemühen, ihre Einnahmen durch
Werbeanzeigen der Pharmaindustrie zu mehren, bleibt oft nicht ohne Einfluß auf
die Meinung in den Redaktionen.
DER
ARZNEIMITTELBRIEF will als unabhängiges Informationsblatt seine Leser auch im
Neuen Jahr dabei unterstützen, effektive und dem echten therapeutischen
Fortschritt verpflichtete Pharmakotherapie zu betreiben, indem er
·
kritisch über neue Entwicklungen informiert,
·
die Methoden aufzeigt, mit denen bewußt die Grenzen zwischen
Information und Werbung verwischt werden,
·
gegen die Verführungskünste der Umsatzstrategen immunisiert,
·
die Aufmerksamkeit schärft, UAW alter und neuer Arzneimittel zu
erkennen und zu melden,
·
die Motivation stärkt, in der Gesundheitspolitik die Interessen
des Kommerz in Grenzen zu halten.
Literatur
- Schwabe, U., und
Paffrath, D.: Arzneiverordnungs-Report 2002. Springer, Berlin, Heidelberg, New
York.
- www.isdbweb.org/
- AMB 2001, 35, 39b.
- Gottlieb, S.:
Brit. Med. J. 2001, 323, 301; s.a. AMB 2002, 36, 41.
- AMB 2001, 35, 38a.
- Prescrire International
2001, 10, 83.
- AMB 2002, 36, 9.
- AMB 2002, 36, 17.
- Arzneimittelkommission
der deutschen Ärzteschaft: Dtsch. Ärztebl. 2002, 99, C680.
- AMB 2002, 36, 73.
- AMB 2001, 35, 70.
- AMB 2000, 34, 25.
- AMB 2001, 35, 43.
- AMB 2002, 36, 33 und 65.
- AMB 2001, 35, 46.
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