Im Rahmen der Diskussion um die PROSPER-Studie haben wir
zur besseren quantitativen Vergleichbarkeit verschiedener Medikamente für die
kardiovaskuläre Prävention die Number needed to treat (NNT) aus den wichtigen
Studien in diesem Bereich dargestellt (1).
Dr. U.P. aus Berlin schreibt uns hierzu: >>
Ihre tabellarische Gegenüberstellung von NNT in verschiedenen Studien finde ich
verdienstvoll. In der Tat meine ich aber auch, daß man sich über die
Finanzierbarkeit der medizinischen Versorgung verstärkt Gedanken machen muß,
eben auch in Bezug darauf, ab welcher NNT eine medizinische Indikation
vorliegt, die eine Bezahlung von Medikamenten durch die Solidargemeinschaft bei
knappen Ressourcen rechtfertigt. Bislang hat sich darüber offenbar noch niemand
öffentlich Gedanken gemacht, auch der sonst mutige ARZNEIMITTELBRIEF nicht. Für
eine realistische Entscheidungsfindung wäre der bisher regelmäßig
vernachlässigte Vergleich von medikamentösen Interventionen mit Studien zur
Lifestyle
Antwort:
>> In der Tat wäre der Vergleich der NNT aus Lifestyle- und
Medikamenten-Studien eine wichtige Voraussetzung für Therapieentscheidungen und
prinzipielle Weichenstellungen im Gesundheitssystem. Ein Vergleich der NNT ist
jedoch derzeit nur ansatzweise möglich, da Lifestyle-Studien aufgrund der
geringeren Drittmittel-Ressourcen in der Regel kleinere Patientenzahlen haben
als die großen Medikamentenstudien. Hierdurch können nicht immer
kardiovaskuläre Endpunkte wie Gesamtletalität oder Häufigkeit von
Myokardinfarkten ausreichend analysiert werden, sondern es muß auf apparative
Endpunkte wie z.B. Koronardurchmesser und Endothelfunktion zurückgegriffen
werden. In Tab. 1 haben wir dennoch versucht, die wesentlichen
Lifestyle-Studien und ihre NNT zusammenzustellen, soweit sie aus den
Originaldaten zu errechnen sind. Die Studien können unterschieden werden in die
Einzelbereiche Ernährung, Streßreduktion und körperliche Bewegung sowie in
multifaktorielle Lifestyle-Studien.
Ernährung:
Insbesondere für die Ernährung liegen durch die bekannte Lyon Diet Heart Study
(mediterrane, fleischarme Kost; 2) und die erst kürzlich publizierte
Indo-Mediterranean Diet Heart Studie (3) klare Zahlen vor. In dieser Studie
wurde die Zusammensetzung der mediterranen Kost mit ihrem hohen Anteil
pflanzlicher Omega-3-Fettsäuren (Alpha-Linolensäure), mit viel Obst,
Blattgemüse und Hülsenfrüchten erfolgreich auf indische Verhältnisse
übertragen. Speziell für die Fischöle belegen viele epidemiologische Studien,
aber auch die GISSI-Prevenzione-Studie (4), einen Nutzen auf die Häufigkeit
kardiovaskulärer Ereignisse, insbesondere hinsichtlich Plötzlichem Herztod und
kardialem Tod. In der GISSI- Prevenzione-Studie wurden die Fischöle in Kapseln
gegeben; eine entsprechende Zufuhr durch die Nahrung ist jedoch einfach.
Reduktion von Streß: Für den Bereich Streßreduktion und
Entspannungsverfahren kann auf die Ergebnisse einer Studie von Blumenthal et
al. (5) bei Patienten mit belastungs- und streßinduzierter Angina pectoris
zurückgegriffen werden.
Körperliche Bewegung: Alle monofaktoriellen Studien zur Bewegungstherapie
wurden vor der Ära der medikamentösen Sekundärprävention durchgeführt. Neben
einer Fülle epidemiologischer Studien belegen viele randomisierte Studien den
Nutzen regelmäßiger körperlicher Bewegung auf Endothelfunktion,
Koronarstenosen, Stoffwechsel und ”Lebensqualität”. Allerdings liegen keine
aktuellen reinen Bewegungsstudien vor, die kardiovaskuläre Ereignisse bei
Koronarpatienten als Endpunkt definiert haben und damit die Berechnung von NNT
ermöglichen.
Multifaktorielle Programme: Für die Beurteilung intensiver multifaktorieller
Lebensstil-Programme sind immer noch die Ergebnisse des Lifestyle Heart Trials
(6) von 1990 und 1998 und der SCRIP-Stanford Studie (7) von 1994 maßgeblich. In
beiden Studien wurden Bewegung, Entspannungsmaßnahmen und Ernährungstherapie
intensiv kombiniert. Allerdings wurde zu dieser Zeit noch großer Wert auf eine
stark fettreduzierte Ernährung gelegt. Ergebnisse von Studien mit
multifaktorieller Therapie und mediterraner Kostform werden in Kürze erwartet.
Mit den genannten Einschränkungen wird aus der
Gegenüberstellung von NNT aus medikamentösen und Lifestyle-Studien am Beispiel
Herzinfarkt (s. Tab. 2) deutlich, daß die NNT der Lifestyle-Studien relativ
niedrig sind. Kernproblem der Prävention durch Änderungen des Lebensstils
bleibt jedoch die mangelnde Umsetzung und die fehlende gesundheitspolitische
Förderung, nicht aber ihre Wirksamkeit. Durch das Veranschaulichen der NNT im
Arzt-Patienten-Gespräch kann die Compliance der Patienten sicher verbessert
werden. Eine rationale Diskussion über die Verteilung der Ressourcen zwischen
den beiden wirksamen Prinzipien Medikamente bzw. Einflußnahme durch Änderungen
des Lebensstils erscheint für die Behandlung der Koronaren Herzkrankheit, aber
auch für die arterielle Hypertonie und den Diabetes mellitus dringend geboten.
Wie individuell jedoch die Entscheidung für oder gegen eine Therapie - selbst
bei klarer Evidenz für ihre Wirksamkeit - getroffen werden muß, soll die Abb. 1
verdeutlichen. Das praktische Umsetzen von Studienergebnissen ist eine
ärztliche Kunst. <<
Literatur
-
Shepherd, J., et al. (PROSPER = PROspective Study
of Pravastatin in the Elderly at Risk): Lancet 2002, 360, 1623; s.a.
AMB 2002, 36, 91 und 2003, 37, 15.
-
de Lorgeril, M., et al. (Lyon Diet Heart Study): Circulation
1999, 99, 779; s.a AMB 1999, 33, 74 und 2003, 37, 8.
-
Singh, R.B., et al.
(Indo-Mediterranean Diet Heart Study): Lancet 2002, 360, 1455; s.a.
AMB 2003, 37, 8.
-
Marchioli, R., et al.
(GISSI Prevenzione = Gruppo Italiano per lo Studio della Sopravvivenza
nell’Infarto miocardico): Lancet 1999, 354, 447.
-
Blumenthal, J.A., et al.: Arch. Intern. Med. 1997, 157, 2213.
-
Ornish, D., et al.:
JAMA 1998, 280, 2001.
-
Haskell, W.L., et al.
(SCRIP = Stanford Coronary Risk Intervention Project):
Circulation 1994, 89, 975.
-
HPS (Heart Protection
Study): Lancet 2002, 360, 7; s.a. AMB 2002, 36, 69 und 2003, 37, 15.
-
Yusuf, S., et al. (HOPE = Heart Outcomes Prevention
Evaluation): N. Engl. J. Med. 2000, 342, 145; s.a.
AMB 2000, 34, 14 und 2003, 37, 15.
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