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Pharma-Wildwest in Indien

Chandra Gulhati, eine indische Kollegin, prangerte jüngst im British Medical Journal die Marketing-Praktiken der indischen Pharmaindustrie an (1). Seit den frühen 1970er Jahren wächst die indische Pharmaindustrie unaufhaltsam. Damals hatte die indische Regierung den Patentschutz für ausländische Medikamente aufgehoben, um die dringend notwendige Versorgung der armen Bevölkerung zu gewährleisten. Seither dürfen indische Firmen ohne Genehmigung der Patentinhaber Generika für den heimischen Markt herstellen. Zugleich erhielten besonders kleinere Pharmahersteller erhebliche staatliche Fördermittel. Als Konsequenz dieser Maßnahmen gibt es heute in Indien über 17000 Hersteller pharmazeutischer Produkte und über 40000 eingeführte Marken, die in einem schweren Konkurrenzkampf miteinander stehen. So ist z.B. Omeprazol unter 140 und Cefadroxil unter 120 verschiedenen Markennamen erhältlich. Der Kampf um die Marktanteile wird rücksichtslos geführt, und die staatlichen Kontrollmechanismen sind dem unübersichtlichen Geschehen längst nicht mehr gewachsen. So werden Kontraindikationen oft gar nicht beachtet und UAW verschwiegen. Nimesulid, ein nicht steroidales Antiphlogistikum, oder Metoclopramid sind in Europa wegen schwerer UAW bei Kindern unter 12 bzw. 18 Jahren verboten. In Indien gibt es keine diesbezüglichen Beschränkungen, und einige Hersteller bewerben die Substanzen sogar für die Anwendung bei Kindern. Auch kann es passieren, daß völlig neue Indikationen kreiert werden. So wurde der Aromatase-Inhibitor Letrozol (Femara®), hierzulande zur Behandlung des fortgeschrittenen Mammakarzinoms zugelassen, in Indien bei 430 jungen Frauen ohne fundierte wissenschaftliche Begleitung im Rahmen einer Anwendungsbeobachtung als Ovulationsstimulanz eingesetzt. Auch werden teilweise abenteuerliche Kombinationspräparate ohne jegliche wissenschaftliche Evaluation erdacht und hergestellt (z.B. Norfloxazin plus Tinidazol plus Loperamid oder Propranolol plus Diazepam).

Gefördert werden diese Auswüchse durch das Fehlen jeglicher unabhängiger Arzneimittelinformation. Die Ärztinnen und Ärzte und die Patienten sind der Werbung schutzlos ausgeliefert, und vielerorts sind die Werbebroschüren sogar die einzige Information. Meist wird aber gar nicht informiert. Von 1200 zufällig ausgewählten Medikamenten hatten gerade einmal 316 einen Beipackzettel.

Frau Gulhati faßt das Verhalten der indischen Pharmaindustrie mit drei C zusammen: Convince, Confuse, Corrupt. Das könnte übersetzt werden: Überzeuge, wenn möglich, verwirre, wenn nötig und besteche, wenn nichts anderes funktioniert.

Literatur

  1. Gulhati, C.M.: Brit. Med. J. 2004, 328, 778.