Seit mehr als 10 Jahren wird in einer sehr kontroversen
und differenzierten wissenschaftlichen Diskussion die Meinung vertreten, dass selektive
Serotonin-Wiederaufnahme(Reuptake)-Inhibitoren (SSRI) die Suizidalität
depressiver Patienten fördern (5, 6, 7, 8). In einem Heft des British Medical
Journal erschienen kürzlich drei Artikel und ein zusammenfassender Kommentar zu
diesem Thema (1, 2, 3, 4).
D. Ferguson et al. aus Kanada und Wales (1) werteten
alle verfügbaren in Medline- und Cochrane-Register erfassten
randomisiert-kontrollierten Studien von mehr als einer Woche Dauer aus, in
denen SSRI bei Depression und anderen Indikationen mit Plazebo oder anderen Antidepressiva
im Hinblick auf Suizide und Suizidversuche verglichen wurden. Die meisten
Studien waren in erster Linie auf antidepressive Effektivität angelegt und von
relativ kurzer Dauer. Insgesamt wurden 702 Studien mit ca. 70000 Patienten ausgewertet.
Im Vergleich mit Plazebo war die Odds ratio (OR) für Suizidversuche bei
SSRI-Anwendern mit 2,28 (Konfidenz-Intervall = CI: 1,14-4,55) signifikant erhöht,
nicht aber im Vergleich mit Anwendern trizyklischer Antidepressiva (OR: 0,88;
CI: 0,54-1,42). Die Zahl berichteter vollendeter Suizide war in diesen Studien
extrem gering und bei Benutzern von SSRI nicht häufiger als bei mit Plazebo
oder mit anderen Medikamenten Behandelten.
C. Martinez et al. aus London und Edinburgh (2)
untersuchten in der General Practice Research Database des britischen Medical
Health Service die angegebenen Suizide und Suizidversuche bzw. Selbstverletzungen
(non fatal self harm) bei ca. 146000 Personen zwischen 10 und 90 Jahren, denen
erstmals Antidepressiva verordnet worden waren und verglichen die Endpunkte mit
denen von etwa 20 pro Patient nach Alter, Geschlecht usw. „gematchten”
Kontrollpatienten (ohne Verordnung von Antidepressiva). Nach Verordnung von
SSRI war im Vergleich mit trizyklischen Antidepressiva die OR für Selbstverletzung
0,99 (CI: 0,86-1,14) und für vollendeten Suizid 0,57 (CI: 0,26-1,25). Bei
Jugendlichen unter 18 Jahren war die Tendenz zur Selbstverletzung nach Einnahme
von SSRI etwas höher als nach Trizyklika (OR: 1,59; CI: 1,01-2,5), während in
dieser Altersgruppe keine vollendeten Suizide registriert wurden.
D. Gunnell et al. aus Bristol und London (3) werteten
die der britischen Gesundheitsbehörde MHRA (Medicines and Healthcare products
Regulatory Agency) nach Aufforderung von Pharmafirmen eingesandten Unterlagen
über plazebokontrollierte Studien zur Anwendung von SSRI bei Depression
und anderen Indikationen in einer Metaanalyse aus. Über 40000 Erwachsene
nahmen an den Studien teil, die hinsichtlich einzelner Vertreter der
SSRI-Gruppe aufgeschlüsselt sind. Mit 16 Suiziden insgesamt, 172 Episoden von
Selbstverletzung und 177 berichteten Episoden von Suizidgedanken war die Zahl
der Endpunkte bei diesen ebenfalls meist kurzzeitigen Studien gering. Die OR
hinsichtlich Suizid war mit 0,85 (CI: 0,2-3,4) bei Benutzern von SSRI nicht
erhöht, hinsichtlich Selbstverletzung (OR: 1,57; CI: 0,99-2,55) tendenziell
erhöht und hinsichtlich suizidaler Gedanken nicht signifikant erniedrigt (OR:
0,77; CI: 0,37-1,55). Wegen der geringen Zahl von Endpunkten betonen die
Autoren, dass selbst bei der hier eingeschlossenen großen Patientenzahl die
„statistische Power” dieser Auswertung zu gering ist, um ein erhöhtes oder
erniedrigtes Risiko für Suizid bei Anwendung von SSRI im Vergleich mit Plazebo
auszuschließen.
Die Kommentatoren A. Cipriani et al. aus Verona und
Oxford (4) fügen weitere methodische Bedenken hinzu. Prospektiv-randomisierte
plazebokontrollierte oder Vergleichs-Studien seien nicht darauf angelegt,
irgendwann im Verlauf einer langwierigen Erkrankung auftretende Ereignisse (wie
Suizide oder Suizidversuche) repräsentativ zu erfassen. Fall-Kontroll-Studien
könnten wiederum unterschiedliche Indikationen für verglichene Medikamente
(z.B. SSRI bei mehr zur Suizidalität neigenden Patienten) nicht erfassen. Diese
Autoren gehen davon aus, dass ca. 15% der Patienten mit (schwererer) unipolarer
Depression Suizide verüben. Im Vergleich mit dieser Annahme war die Suizidrate
in den drei referierten Publikationen verschwindend gering. Cipriani et al.
sehen zurzeit keine Evidenz für ein erhöhtes Suizidrisiko bei Erwachsenen nach
Behandlung mit SSRI verglichen mit trizyklischen Antidepressiva. Sie empfehlen,
Wirksamkeit und Risiken bei Einsatz dieser Medikamente sorgsam abzuwägen und
depressive Patienten und deren Angehörige nach Beginn einer antidepressiven
medikamentösen Therapie auf die Möglichkeit erhöhter Suizidalität hinzuweisen,
da der Besserung der Depressivität unter Therapie oft eine Besserung der
Inaktivität und eine gewisse Agitiertheit und damit eine Beseitigung der
Hemmschwelle für Selbstverletzungen vorausgeht. Bei Kindern und Jugendlichen
mit Depression schätzen die Kommentatoren, anders als bei Erwachsenen, die Bilanz
zwischen Nutzen und Risiko negativ ein und empfehlen, wenn möglich, von der
Verordnung von Antidepressiva Abstand zu nehmen.
Die hier referierten Studien ergeben keinen Hinweis
auf ein erhöhtes Suizidrisiko bei Erwachsenen mit unipolarer Depression,
die mit SSRI behandelt wurden, im Vergleich mit trizyklischen Antidepressiva. Können
sich behandelnde Ärzte nach den aufregenden Diskussionen in der Vergangenheit
nun beruhigt zurücklehnen? Nein! Im Vergleich mit Plazebo scheinen in diesen
Studien beide Substanzgruppen die Suizidalität und die Neigung zur
Selbstverletzung zu erhöhen. Diese Ereignisse waren zwar insgesamt selten, denn
suizidale Patienten wurden von den Untersuchungen ausgeschlossen.
Antidepressiva sollten aber die Suizidalität vermindern (wie die Lithiumsalze).
Bei Kindern und Jugendlichen sind - nach den Fachinformationen - Sertralin
(Gladem®, Zoloft®) und Fluoxetin (Fluctin®
u.v.a.) nicht empfohlen, Paroxetin (Seroxat® u.v.a.) ist
kontraindiziert. Warum sollten sich die Gehirne von Kindern und Jugendlichen in
ihrer Reaktion auf Antidepressiva anders verhalten als die von Erwachsenen? Die
hier vorgestellten Studien sind bezüglich der Häufigkeit spezieller UAW einzelner
Antidepressiva unbefriedigend. Ein unabhängig organisiertes, vollständiges
Register der antidepressiven Therapie wäre dringend erforderlich oder eine
gemeinsame Auswertung der umfangreichen Datensätze, die bei den
Herstellerfirmen zu den einzelnen Substanzen vorliegen, aber nicht freigegeben
werden. Die besonders gefährliche Phase unmittelbar nach Absetzen von
Antidepressiva wurde in den drei besprochenen Arbeiten nicht gesondert
untersucht. Dem deutschen Spontanerfassungssystem sind bis 23.8.2004 insgesamt 111
suizidale Handlungen im Zusammenhang mit trizyklischen Antidepressiva und 337
im Zusammenhang mit SSRI gemeldet worden.
Fazit: Die
drei Studien im British Medical Journal können die Frage nach der Häufigkeit
von UAW einzelner Antidepressiva nicht beantworten. Antidepressiva dürfen generell
nur mit großer Zurückhaltung und unter guter Kontrolle verordnet werden.
Literatur
-
Fergusson, D., et al.: Brit.
Med. J. 2005, 330, 396.
-
Martinez, C., et al.: Brit.
Med. J. 2005, 330, 389.
-
Gunnell, D., et al.: Brit.
Med. J. 2005, 330, 385.
-
Cipriani, A., et al.: Brit.
Med. J. 2005, 330, 373.
-
Healy, D.: Psychother.
Psychosom. 2003, 72, 71.
-
Müller-Oerlinghausen, B., und
Berghöfer, A.: J. Clin. Psychiatry 1999, 60 Suppl. 2, 94.
-
Mitteilung der
Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: Deutsches Ärzteblatt 2004, 101, 2134.
-
AMB 2004, 38, 39.
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