Beobachtungsstudien ergaben, dass 50% der Patienten
nach einem ersten epileptischen Anfall (meist Grand mal) in den nächsten fünf
Jahren keinen weiteren Anfall erleiden. Nach zwei oder mehr initialen Anfällen
nimmt diese Wahrscheinlichkeit auf ca. 30% ab. Behandelt man nach einem ersten
Anfall sofort mit Antiepileptika, dann werden viele Patienten umsonst behandelt
und zusätzlich den unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) der Antiepileptika
ausgesetzt.
Vor diesem Hintergrund führten A. Marson et al. aus
Großbritannien (1) eine vom Medical Research Council finanzierte pragmatische Multicenter-Studie
über fünf Jahre bei 1443 Patienten durch, in der die Kurz- und
Langzeitergebnisse einer sofortigen bzw. verzögerten antiepileptischen Therapie
(überwiegend mit Carbamazepin und Valproat) verglichen wurde. Die Studie war
offen, wurde aber von einer Zentrale aus randomisiert nach den Gesichtspunkten
der geografischen Region und der Zahl der Anfälle vor Randomisierung (ein
Anfall bzw. zwei oder mehr bei neu diagnostizierter Epilepsie). Von
ursprünglich 1847 angesprochenen Patienten lehnten 404 oder deren Eltern die
Gruppenzuteilung nach dem Zufallsprinzip ab. Die Patienten mussten älter als
einen Monat sein, es durfte sich nicht um Fieberkrämpfe gehandelt haben, und
sie durften nicht bereits für längere Zeit mit Antiepileptika behandelt worden
sein. In der Gruppe mit verzögerter (zum Teil auch gar keiner) Behandlung
entschied der behandelnde Studienarzt aufgrund des weiteren Verlaufs über die
Indikation einer Behandlung. Die Wahl der Medikamente war dem Arzt
freigestellt.
Haupt-Endpunkte der Studie waren die Häufigkeit von
Anfällen nach definierten Zeitabständen und die Zahl der Patienten, die
zwischen dem ersten und dritten Jahr bzw. zwischen dem dritten und fünften Jahr
nach Randomisierung anfallsfrei waren. Sekundäre Endpunkte waren UAW und die
mittels Fragebogen bei einem Teil der Patienten erfragte Lebensqualität (QOL).
Die Verteilungskurve des Lebensalters der Patienten
zeigte einen Häufigkeitsgipfel zwischen dem 10. und 30. Lebensjahr. Im ersten Jahr
nach Randomisierung hatten, wie zu erwarten, die sofort behandelten Patienten
(Gruppe 1) etwas seltener weitere Anfälle als die verzögert oder gar nicht
behandelten (Gruppe 2). Danach verliefen die Kurven (kumulative Wahrscheinlichkeit
von Anfällen versus Zeit in Jahren) parallel. Bei Patienten mit nur einem
Anfall vor Randomisierung war diese Wahrscheinlichkeit nach fünf Jahren ca. 40%
(Gruppe 1) bzw. knapp 50% (Gruppe 2). Bei zwei oder mehr Anfällen vor
Randomisierung war diese Wahrscheinlichkeit nach fünf Jahren ca. 55% in Gruppe
1 und ca. 65% in Gruppe 2. In Gruppe 1 wurde die Zeit bis zu einem bzw. einem
zweiten weiteren Anfall signifikant verzögert, und in dieser Gruppe wurde eine
2-jährige Anfallfreiheit signifikant (p = 0,023) früher erreicht als in Gruppe
2. Im Zeitraum drei bis fünf Jahre nach Randomisierung waren jedoch gleich
viele Patienten in den beiden Gruppen (76% bzw. 77%) anfallsfrei.
UAW waren mit 39% häufiger in Gruppe 1 als Gruppe 2
(31%), z.B. Depression und Angst, Müdigkeit, Schläfrigkeit, Magen-Darm- und
Hautsymptome. Die Zahl der vermutlich durch das Anfallsleiden arbeitslosen
Patienten war in beiden Gruppen gleich. Etwas mehr Patienten der Gruppe 2 waren
mit der Art ihrer Behandlung innerhalb der Studie zufrieden, und mehr Patienten
der Gruppe 1 als der Gruppe 2 gaben nach zwei Jahren an, sie wären lieber der
anderen Gruppe zugeteilt worden. Die Number Needed to Treat (NNT) für die
Verhinderung eines zweiten Anfalls durch sofortige Behandlung war bei Patienten
mit nur einem Anfall vor Randomisierung ca. 14; bei Patienten mit zwei
oder mehr Anfällen vor Randomisierung war die NNT ca. 5. Insgesamt führte
die verzögerte Behandlung nicht zu einer erkennbaren Verschlechterung des
neurologischen oder mentalen Status im Vergleich mit Gruppe 1.
Die Autoren ziehen den Schluss, dass die sofortige
Behandlung erstmalig aufgetretener epileptischer Anfälle die Häufigkeit weiterer
Anfälle in den nächsten ein bis zwei Jahren verringert ohne aber einen Einfluss
zu haben auf die Remissionsrate nach drei bis fünf Jahren. Die Verringerung der
Anfälle nach sofortigem Therapiebeginn wird mit mehr Kosten und UAW erkauft. Ein
lesenswerter Kommentar von Epilepsie-Spezialisten aus Australien zu diesem
Artikel (2) stimmt der Meinung von Marson et al. zu, dass eine nicht sofort
eingeleitete Therapie bei neu aufgetretener Epilepsie eine vernünftige Option
ist. Individuelle Anamnesen sowie Befunde und Wünsche der Patienten (ggf. der
Eltern) sollten berücksichtigt werden. Bei alten Menschen sei in der Regel
wegen der größeren Verletzungsgefahr die sofortige Therapie indiziert.
Fazit: Diese
bemerkenswerte pragmatische Studie von Marson et al. ergab, dass die Langzeitprognose
von Patienten, die nach Auftreten eines epileptischen Anfalls nicht sofort antikonvulsiv
behandelt werden, nicht schlechter ist als die sofort behandelter Patienten. Letztere
haben in den nächsten zwei Jahren etwas seltener Anfälle, müssen aber mehr UAW
in Kauf nehmen.
Literatur
-
Marson, A., et al. (MRC
MESS study group): Lancet 2005, 365, 2007.
-
McIntosh, A.M., und
Berkovic, S.F.: Lancet 2005, 365, 1985.
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