Frage von
Dr. M.E. aus Giessen: >> Eine 26-jährige Patientin mit einem Typ-1
Diabetes mellitus seit 1997 und seit 2000 mit einer Insulinpumpe eingestellt,
leidet zudem an seit 1999 bekannter Multipler Sklerose (MS). Wegen
Unverträglichkeit der Interferon-Therapie ist sie seitens der betreuenden
Neurologen auf Glatiramer (Copaxone®) eingestellt worden (20 mg
einmal täglich s.c.). Auffallend in den BZ-Tagesprofilen sind nun wiederholte
niedrige BZ-Werte um 30-50 mg/dl an mehreren Tagen in der Woche, nicht zu
festen Zeiten, für deren Auftreten keine Erklärung hinsichtlich der
Therapiealgorithmen zu finden ist. Zu diskutieren wäre eine mögliche Interaktion
mit Glatiramer. In der verfügbaren Literatur habe ich hierzu keine
Informationen gefunden. Sind Ihnen vielleicht Erkenntnisse zu dieser Frage
bekannt? <<
Antwort:
>> Die vorgestellte Patientin leidet an der seltenen Kombination von
Typ-1-Diabetes und MS, beides Erkrankungen, bei denen die Störung des
T-lymphozytären Systems mit einer T-Helfer-1(TH1-)-Dominanz als pathogenetisch
angenommen wird. Während für Typ-1-Diabetes immunmodulatorische Therapien
bislang nur im Rahmen von Studien durchgeführt wurden, sind bei MS mit
Interferon beta als auch mit Glatiramer zwei immunmodulatorische
Therapieprinzipien zugelassen.
Glatiramer ist ein zufällig generiertes Polymer aus
Glutaminsäure, Lysin, Alanin und Tyrosin, das zur Therapie der schubförmig
remittierenden MS eingesetzt wird (1-3). Obwohl der Wirkmechanismus nur
teilweise bekannt ist, kann davon ausgegangen werden, dass Glatiramer eine
polyklonale Expansion der TH2-Zellen induziert, welche die TH1-Antwort hemmt.
Eine Verschiebung des TH1/TH2-Gleichgewichts mit TH2-führender
Zytokinproduktion wird unter Glatiramer-Therapie beobachtet und als Erklärung
des Therapieerfolges bei MS herangezogen (4, 5). Glatiramer behandelte T-Lymphozyten
können mit Myelin-Antigenen, die für die MS relevant sind, interagieren, so
dass ein direkter Effekt in der primären Antigenpräsentation vermutet wird.
Diese Immunmodulation ist in der peripheren Zirkulation nachweisbar. Dabei wird
angenommen, dass genügend Zellen die Blut-Hirn-Schranke passieren, um diesen
Effekt auch intrazerebral zu erzielen (4, 5). Ob dies auch auf die
T-Lymphozyten mit anderen Reaktivitäten wirkt (z.B. gegen Inselzell-Antigene)
kann gegenwärtig nur vermutet werden, da weder tierexperimentelle noch Daten am
Menschen existieren. Ob es unter einer Glatiramer-Therapie möglicherweise
passager zu einer Verbesserung der Insulin-Restsekretion kommt, kann nur
spekuliert werden. Neben einer immunologischen kommt aber eine metabolische
Erklärung der Wirklichkeit wahrscheinlich näher: Glatiramer führt zu einer
Sekretion von einem Hirn-spezifischen neurotrophischen Faktor (Brain derived
neurotrophic factor = BDNF) aus Lymphozyten, von dem man weiß, dass er einen
indirekten Einfluss auf Energiehaushalt, Zuckerspiegel und Essverhalten im
Tierversuch hat. In mehreren Tiermodellen wirkt BDNF anorektisch,
antidiabetisch, auch durch Modulation der Glukagonsekretion (6-8).
Neben der immunologischen bzw. metabolischen
Erklärung ist abschließend noch auf die als UAW angegebene Vasodilatation hinzuweisen,
die auch zu einer stärkeren Insulinwirkung der Pumpenträgerin beitragen kann.
Pragmatisch empfehlen wir kontinuierliche
Glukosemessungen, um die zeitlichen und anderen Zusammenhänge der Hypoglykämien
zu erfassen. Ergänzend sollte die Beta-Zell-Restsekretion untersucht werden,
auch wenn nach acht Jahren Diabetesdauer eine Veränderung unwahrscheinlich ist.
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Literatur
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AMB 1998, 32, 9.
-
AMB 2003, 37, 1.
-
AMB 2004, 38, 1.
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Allie, R., et al.: Arch. Neurol.
2005, 62, 889.
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Karandikar, N.J., und Racke, M.K.:
Arch. Neurol. 2005, 62, 858.
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Hanyu, O., et al.:
Diabetes Obes. Metab.2003, 5, 27.
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Nakagawa, T., et al.:
Diabetes Metab. Res. Rev. 2002, 18, 185.
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Nakagawa, T., et al.:
Diabetes 2000, 49, 436.
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