Zusammenfassung: Die Überschätzung der Wirksamkeit
von Neuraminidase-Inhibitoren (Oseltamivir, Zanamivir) in der Prophylaxe und
Therapie von Influenza-Erkrankungen kann zu einer Vernachlässigung der üblichen
organisatorischen und hygienischen Maßnahmen führen und somit die Ausbreitung
des Virus begünstigen. Eine pharmakotherapeutische Lösung einer Grippeepidemie
oder -pandemie ist nicht in Sicht. Andere Maßnahmen, z.B. Planung von
Quarantänezonen, Entwicklung und Anwendung von Impfstoffen sowie ein Überdenken
der Massentierhaltung als ständiger potenzieller Herd für neue humanpathogene
Viren, müssen in die Überlegungen zu Präventionsmaßnahmen einbezogen werden. Das
Robert-Koch-Institut bearbeitet den nationalen Pandemieplan für alle möglichen
Szenarien.
Die Diskussion um eine neue Grippepandemie,
möglicherweise verursacht durch ein Vogelgrippe-Virus (H5N1, H7N7 oder H7N3),
hat die Diskussion um die medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten solcher
Erkrankungen angeregt. Immerhin haben verschiedene Regierungen für sehr viel
Geld die Substanz Oseltamivir (Tamiflu®) einlagern lassen. Auch
Privathaushalte haben sich mit diesem Medikament vorsorglich eingedeckt. Eine
rationale Grundlage für dieses Handeln gibt es bisher nicht. Für Oseltamivir
wird eine Umsatzsteigerung von 110 Mio. US-$ im Jahr 2003 auf über 700 Mio.
US-$ bis Ende 2005 prognostiziert (14).
Jefferson, T., et al. haben in einem im Lancet
publizierten Review alle verfügbaren klinischen Daten zur Anwendung von Medikamenten
gegen Influenza zusammengetragen und kritisch ausgewertet (1). Der Hauptautor
hat seine Verbindungen zur Pharmaindustrie offen angegeben. Hieraus geht
hervor, dass er von 1998-2004 Aktien von GlaxoSmithKline (Hersteller von
Zanamivir = Relenza®) und Beraterverträge mit Sanofi-Synthelabo 2002
sowie 1997-1999 mit Roche (einer der Hersteller von Oseltamivir) hatte. Die
hier vorgestellte Studie wurde von der britischen Regierung, Cochrane Review
Incentive Scheme und Cochrane Vaccines Fields, finanziell unterstützt. Diese
Sponsoren hatten keinen Einfluss auf das Studiendesign.
Die Autoren haben verschiedene Datenbanken (Ovid
Medline, WebSpirs Embase, Cochrane Library) nach der Thematik durchsucht und
mit den Autoren sowie den Firmen Kontakt aufgenommen, um zusätzlich auch nicht
publizierte Informationen zu bekommen. In die sehr aufwändige Analyse wurden
Studien aufgenommen, die die prophylaktische oder therapeutische Wirksamkeit
von M2-Ionenkanal-Blockern (Amantadin und Rimantadin) oder Neuraminidase-Inhibitoren
(Zanamivir und Oseltamivir) untersucht haben. Die Vorgehensweise wird sehr
genau und transparent dargestellt. Insgesamt wurden nach Überprüfung der Ein-
und Ausschlusskriterien 53 Studien (19 zu Neuraminidase-Inhibitoren und 34 zu
M2-Ionenkanal-Blockern) berücksichtigt.
M2-Ionenkanal-Blocker (Amantadin und Rimantadin): Prophylaxe: Die Prophylaxe-Analyse ergab, dass
Amantadin 61% von Influenza-A-Erkrankungen und 25% von Influenza-ähnlichen
Erkrankungen verhindern konnte (beides war signifikant). Die Effektivität von
Amantadin war nur in der Gruppe mit Influenza-Ungeimpften, aber nicht bei
Influenza-Geimpften nachweisbar. Als UAW traten Übelkeit, Schlafstörungen und
Halluzinationen auf. Die Ergebnisse mit Rimantadin waren insgesamt ähnlich wie
die mit Amantadin (1).
Therapie: Die
Analyse ergab, dass Amantadin und Rimantadin die Dauer des Fiebers gegenüber
Plazebo verkürzen (1). Allerdings zeigte die Analyse auch, dass Amantadin und
Rimantadin die nasale Freisetzung oder die Persistenz von Influenza-A-Viren im
oberen Respirationstrakt nicht beeinflussen (1). Darüber hinaus war eine
Standardtherapie mit antiinflammatorischen Substanzen oder Antibiotika
hinsichtlich der Verkürzung der Fieberperiode gleichwertig (2, 3). Eine
systematische Untersuchung zur Resistenzentwicklung wurde in keiner Studie durchgeführt.
Informationen aus einer Studie deuten darauf hin, dass 10-27% der Patienten,
die mit Amantadin behandelt wurden, in den ersten fünf Tagen nach
Behandlungsbeginn Amantadin-resistente Influenza-A-Viren freisetzen (4).
Neuraminidase-Inhibitoren (Oseltamivir und Zanamivir): Prophylaxe: Oseltamivir 75 mg täglich oral als
Prophylaxe bietet einen 61%igen Schutz gegen eine symptomatische Influenza-A-Infektion
(1). Die Erhöhung der Dosis auf 150 mg/d zeigt eine Effektivität von 73% (5).
Die Inhalation von Zanamivir hat eine ähnliche Wirksamkeit (1). Asymptomatische
Infektionen werden nicht verhindert (1).
Postexpositionsprophylaxe: In einer Arbeit wird die Effektivität der
Postexpositionsprophylaxe durch Oseltamivir (zweimal 75 mg/d) mit 58,5% für
Haushaltskontakte und mit 68%-89% für Individualkontakte mit einem
Indexpatienten angegeben (6, 7). Keine Studie geht genauer auf die Entwicklung
von Resistenzen ein.
Therapie: Die
Analyse zur Therapie von Influenza-A-Patienten (alle wurden innerhalb von 48 h
nach Beginn der Symptome behandelt) ergab, dass die Wahrscheinlichkeit, die
Symptome durch diese Behandlung zu mildern, um 24% größer war als in der Plazebo-Gruppe.
Die Ergebnisse waren für beide Neuraminidase-Inhibitoren ähnlich (1, s.a. 15,
16). Vier Studien haben auch die Zeitspanne vom Beginn der Erkrankung bis zur
Rückkehr zur normalen täglichen Aktivität berücksichtigt. Das Ergebnis lag in
drei Studien gerade unterhalb der Signifikanz und in einer ergab sich ein
gerade signifikanter Wert für die behandelte Gruppe. Die Häufigkeit von
Komplikationen (Bronchitis, Pneumonie) wird durch die Behandlung gesenkt, wie
und warum bleibt unklar. Die Therapie mit Neuraminidase-Inhibitoren senkte zwar
die Viruskonzentration im Nasalsekret, aber mit keiner Dosis wurde die nasale
Ausscheidung von Viren verhindert. Schwere UAW wurden unter Behandlung mit
Neuraminidase-Inhibitoren nicht beobachtet (1).
Vogelgrippe-Virus (H5N1, H7N7 oder H7N3): Die Daten zur Behandlung dieser Infektionen sind begrenzt.
Bei den an H5N1 erkrankten Menschen in Südostasien hatte die Behandlung mit
Oseltamivir keinen Effekt auf die Letalität. Dies könnte unter anderem an einem
zu späten Therapiebeginn oder auch an sehr hohen initialen Viruskonzentrationen
liegen. Resistenzen traten bei 16% (7 von 43 behandelten Kindern) und bei 25%
(2 von 8 Vietnamesen zwischen 8-35 Jahren) unter Oseltamivir auf (8, 9, 10).
Bei einem Erkrankungsausbruch mit Vogelgrippe-Viren
(A/H7N7) in einer niederländischen Einrichtung mit Massenhaltung von Geflügel wurden
85 der 453 Mitarbeiter symptomatisch. Unter anderen Maßnahmen wurde auch eine
Postexpositionsprophylaxe mit Oseltamivir (75 mg/d) gestartet. Eine Infektion
wurde bei einem von 38 Mitarbeitern registriert, die das Medikament eingenommen
hatten, und bei 5 von 52, die es nicht eingenommen hatten. Der Unterschied war
statistisch nicht signifikant. Dies könnte an der niedrigen Zahl liegen. Ein
ähnlicher Ausbruch in Kanada mit A/H7N3 konnte hinsichtlich der Wirksamkeit in
Prophylaxe und Therapie mit Oseltamivir auch keine schlüssigen Erkenntnisse
liefern (11).
Weder M2-Ionenkanal-Blocker noch Neuraminidase-Inhibitoren
sollten zur Prophylaxe und Therapie der saisonalen Influenza A eingesetzt
werden, weil sie die Virusausscheidung nicht verhindern und auch
asymptomatische Verläufe nicht vermindern. Hinzu kommt eine rasche
Resistenzentwicklung (s.a. 17). Die jährlich bereitgestellten Impfstoffe sind wesentlich
effektiver. Bei Influenza A haben die M2-Ionenkanal-Blocker keinen Vorteil
gegenüber einer symptomatischen Therapie.
Die Wirksamkeit der Neuraminidase-Inhibitoren in der
Therapie der Influenza A ist gering und liegt im Wesentlichen in einer
statistisch marginalen Verkürzung der Krankheitsdauer. Bei bestimmten
klinischen Indikationen, die am besten durch einen Infektiologen gestellt
werden, kann eine frühzeitige Therapie mit Neuraminidase-Inhibitoren sinnvoll
sein. Ansonsten sollten diese Medikamente im Zusammenhang mit anderen Maßnahmen
für größere Epidemien oder Pandemien reserviert bleiben. Für die Wirksamkeit
von Neuraminidase-Inhibitoren bei Vogelgrippe (H5N1, H7N7 oder H7N3) gibt es
bisher keine Evidenz. Auf die Mitteilung der Arzneimittelkommission der
deutschen Ärzteschaft, der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung
zu saisonaler Influenza, Vogelgrippe und potenzieller Influenzaepidemie wird
ausdrücklich hingewiesen (12). Sie beschäftigt sich vor allem mit den
Einsatzmöglichkeiten antiviraler Arzneimittel. Das Robert-Koch-Institut
bearbeitet den nationalen Pandemieplan für alle möglichen Szenarien (13).
Literatur
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Jefferson, T., et al.:
Lancet 2006, 367, 303.
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Younkin, S.W., et al.:
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Kokyuki Gakkai Zasshi 2000, 38, 897.
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rimantadine. In: Nicholson, K.G., Webster, R.G., Hay, A.J. (Hrsgb.): Textbook
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Blackwell Science 1998. S. 457.
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Hayden, F.G., et al.: N.
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Hayden, F.G., et al.: J.
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Welliver, R., et al.:
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Engl. J. Med 2005, 353, 2667.
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Kiso, M., et al.: Lancet
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Tweed, S.A., et al.:
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Dtsch. Ärztebl. 2005, 102,
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- Robert-Koch-Institut: Bundesgesundheitsblatt, Gesundheitsforschung,
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- Enserink, M.: Science 2005, 309, 871.
- AMB 2000, 34, 3.
- AMB 2003, 37, 62a.
- AMB 2004, 38, 87a.
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