Die
American Society of Clincal Oncology (ASCO) hat in diesem Jahr (1) ihre Empfehlungen
zum klinischen Einsatz von Granulozyten-Kolonien-stimulierenden Faktoren aktualisiert
(G-CSF: Filgrastim = Neupogen®, Pegfilgrastim = Neulasta®,
Lenograstim = Granocyte®; GM-CSF: in Deutschland kein Präparat mehr
zugelassen). Diese evidenzbasierten Therapieempfehlungen sind erstmals 1994
erschienen (2). Die jetzt aktualisierten Empfehlungen berücksichtigen klinische
Studien, die zwischen 1999 und 2005 publiziert wurden. Wir sind in den letzten
Jahren regelmäßig auf die klinischen Anwendungsgebiete von G-CSF eingegangen
und haben auf gesicherte bzw. fragwürdige Indikationen, aber auch auf klinische
Situationen hingewiesen, in denen der Nutzen von G-CSF nicht belegt ist (3-7). Leider
haben diese Empfehlungen bisher nur geringen Einfluss auf das
Verordnungsverhalten im klinischen Alltag. Die Update-Publikation der ASCO ist
in insgesamt 13 Abschnitte unterteilt, in denen spezielle Empfehlungen gegeben
wurden, u.a. zur prophylaktischen und therapeutischen Gabe von G-CSF, zur
Mobilisierung hämatopoetischer Progenitorzellen vor autologer Blutstammzell-Transplantation,
zum Gebrauch bei akuten Leukämien und zur Gabe bei Patienten unter
Strahlentherapie (± begleitende Chemotherapie). Erstmals wurden Themen wie die
Gabe von G-CSF bei älteren Patienten oder bei unbeabsichtigter
Körperbestrahlung mit lebensbedrohend hoher Dosis behandelt. Wir gehen im
Folgenden kurz auf die Empfehlungen zur primären bzw. sekundären Prophylaxe
mit G-CSF und auf den therapeutischen Einsatz von G-CSF ein.
In
den früheren Empfehlungen der ASCO wurde der primäre Einsatz von G-CSF oder
GM-CSF bei Patienten empfohlen, bei denen Neutropenie-assoziierte febrile
Komplikationen nach Chemo- und/oder Strahlentherapie mit einer
Wahrscheinlichkeit > 40% zu erwarten sind (2, 4). In den aktuellen
Empfehlungen wird vorgeschlagen, dass eine primäre Prophylaxe mit G-CSF bei
Patienten nach Chemotherapie durchgeführt wird, bei denen febrile Neutropenien
mit einer Wahrscheinlichkeit von > 20% auftreten (1). In einer umfangreichen
und informativen Tabelle werden häufig eingesetzte Chemotherapie-Schemata bei
soliden Tumoren bzw. hämatologischen Neoplasien gelistet und das Risiko dieser
Schemata für das Auftreten einer febrilen Neutropenie angegeben. Wichtig ist,
dass bei einer Entscheidung für oder gegen eine primäre Prophylaxe mit G-CSF
nicht nur das verabreichte Chemotherapie-Schema, sondern auch individuelle
Risikofaktoren für infektiöse Komplikationen infolge länger andauernder
Neutropenie (z.B. Alter, Anamnese, Allgemeinzustand, Begleiterkrankungen) und
das Therapieziel (z.B. kurativ oder palliativ, Lebensverlängerung,
Symptomkontrolle) berücksichtigt werden. Leider fehlen weiterhin valide
klinische Modelle, die voraussagen, welche Patienten eine febrile Neutropenie
entwickeln und somit von einer prophylaktischen G-CSF-Gabe profitieren. Klinische
Studien sowie Metaanalysen ergaben, dass im Rahmen der primären Prophylaxe durch
die Gabe von G-CSF schwere bzw. febrile Neutropenien und Infektionen signifikant
vermindert werden (1). Ein positiver Einfluss der primären Prophylaxe auf den
Verlauf der Tumorerkrankung (z.B. Ansprechrate, Überleben) konnte jedoch nicht überzeugend
gezeigt werden, und die Ergebnisse zur Reduktion der Infektions-bedingten
Letalität sind widersprüchlich.
Prospektive Studien zur sekundären
Prophylaxe mit G-CSF sind seit den letzten Empfehlungen der ASCO im Jahre 2000 nicht
publiziert worden. Eine sekundäre Prophylaxe mit G-CSF wird deshalb weiterhin
für Patienten empfohlen, die bei vorausgegangener Chemotherapie (ohne primäre
Prophylaxe) eine neutropenische Komplikation erlitten haben und bei denen eine
Reduktion der Zytostatika-Dosis Therapieansprechen und erkrankungsfreies bzw.
Gesamtüberleben beeinträchtigen könnten. Bei Erkrankungen mit z.B. palliativer
Zielsetzung oder dem Ziel einer Symptomkontrolle sollte jedoch eine
Dosisreduktion oder eine Verzögerung der Chemotherapie anstelle der Gabe von
G-CSF erwogen werden. Aussagen zum Nutzen einer sekundären Prophylaxe
hinsichtlich Überleben, „Lebensqualität” oder Kostenreduktion sind weiterhin
nicht möglich. Randomisierte Studien zu diesen Fragen sind deshalb dringend
erforderlich.
Wie in den vorausgegangenen Empfehlungen der ASCO
wird von der therapeutischen Gabe von G-CSF bei Patienten mit afebriler
Neutropenie abgeraten (4, 8). Auch eine routinemäßige Gabe von G-CSF zusätzlich
zur antibiotischen Therapie bei Patienten mit Fieber und Neutropenie wird nicht
empfohlen (9). Bei Patienten mit febriler Neutropenie und hohem Risiko für
Infektions-assoziierte Komplikationen (z.B. lang anhaltende, d.h. > 10 Tage,
und schwere, d.h. < 0,1 x 109/l Neutropenie, Alter > 65 Jahre,
Pneumonie, invasive Pilzinfektion, Hypotonie, Hinweise für Multiorganversagen)
sollte jedoch eine therapeutische Gabe von G-CSF erwogen werden.
Bei Chemotherapie-Schemata
mit erhöhter Dosisintensität oder Dosisdichte (Verkürzung der Intervalle zwischen den Therapiezyklen) wird
die Gabe von G-CSF empfohlen (10). Bis heute liegen allerdings nur für wenige
onkologische Krankheiten (z.B. nodal positives Mammakarzinom, hochmalignes Non-Hodgkin-Lymphom)
Ergebnisse klinischer Studien vor, die für Chemotherapie-Schemata mit
verkürzten Intervallen (meistens alle 14 anstatt alle 21 Tage), nicht aber mit
erhöhter Dosisintensität, einen Überlebensvorteil belegen.
Im Rahmen der o.g. Indikationen (Ausnahme:
therapeutische Gabe) sollte G-CSF 24-72 Stunden nach Verabreichung der
myelosuppressiven Chemotherapie begonnen und bis zum Erreichen einer absoluten
Neutrophilenzahl von mindestens 2-3 x 109/l verabreicht werden. Für
Erwachsene gilt weiterhin die Standarddosierung für Filgrastim oder Lenograstim
von 5 µg/kg einmal täglich s.c. Pegfilgrastim, ein G-CSF-Präparat mit etwa
zehnfach längerer Halbwertzeit (11), sollte einmalig (6 mg s.c.) ca. 24 Stunden
nach Beendigung der Chemotherapie verabreicht werden. Leider sind trotz
langjährigem klinischen Einsatz von G-CSF nur wenige klinische Studien der
Frage nachgegangen, ob eine niedrigere Dosis (z.B. 2 µg/kg/d) oder deutlich
kürzere Gabe von G-CSF zu einer vergleichbaren Reduktion der Neutropenie-assoziierten
Komplikationen führen können (12-14). Größere, randomisierte, kontrollierte
Studien werden von den Autoren der ASCO-Empfehlungen deshalb zu Recht
gefordert, vermutlich aber von den pharmazeutischen Herstellern der G-CSF-Präparate
nicht mit hoher Priorität initiiert werden.
Bei älteren
Patienten (≥ 65 Jahre) mit
hochmalignen Lymphomen, die eine Polychemotherapie mit CHOP (Cyclophosphamid,
Doxorubicin, Vincristin, Prednison) oder intensiveren Schemata mit kurativer
Zielsetzung erhalten, wird die prophylaktische Gabe von G-CSF zur Reduktion febriler
Neutropenien und Infektionen empfohlen.
Aussagekräftige klinische Studien zur Kosten/Nutzen-Bewertung
von G-CSF nach Chemo- und/oder Strahlentherapie sowie zum Einfluss auf die „Lebensqualität”
fehlen weitgehend und werden deshalb vom Komitee der ASCO-Empfehlungen ebenfalls
gefordert.
Fazit: In
den aktualisierten, evidenzbasierten klinischen Empfehlungen der ASCO wird im Unterschied
zu früheren Empfehlungen die Gabe von G-CSF als primäre Prophylaxe empfohlen,
wenn die Wahrscheinlichkeit für Neutropenie-assoziierte, febrile Komplikationen
nach Chemotherapie > 20% beträgt. Aus unserer Sicht sollte jedoch diese
Empfehlung nicht schematisch umgesetzt, sondern individuelle Risikofaktoren für
infektiöse Komplikationen berücksichtigt werden. Die Gabe von G-CSF sollte
nicht, wie früher empfohlen, bis zum Anstieg der Neutrophilen auf > 10 x 109/l,
sondern nur bis 2-3 x 109/l erfolgen. Wesentliche Änderungen in den
Empfehlungen zur sekundären Prophylaxe bzw. zur therapeutischen Gabe von G-CSF
haben sich nicht ergeben. Valide prädiktive Modelle zur Erkennung von Patienten,
die von einer primären Prophylaxe mit G-CSF profitieren, fehlen. Randomisierte
kontrollierte Studien zur erforderlichen Dosis von G-CSF sowie zu anderen, klinisch
relevanten Aspekten (z.B. Kosten/Nutzen-Bewertung, Einfluss auf die „Lebensqualität”)
werden von den Autoren der ASCO-Empfehlungen zu Recht gefordert.
Literatur
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Smith, T.J., et al.: J.
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AMB 1998, 32, 77.
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AMB 1997, 31, 54.
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AMB 2005, 39, 9.

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AMB 1999, 33, 46.

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Djulbegovic, B., et al.:
J. Clin. Oncol. 2005, 23, 6822 .

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