Die antiretrovirale Therapie hat die „Lebensqualität”
und das Überleben HIV-infizierter Patienten deutlich verbessert (1). Das
verbesserte Überleben hat allerdings dazu geführt, dass jetzt auch die mit dem
Alter assoziierten Erkrankungen bei diesen Patienten zunehmen (2). So sind
jetzt z.B. kardiovaskuläre Erkrankungen zu > 10% die Todesursache (3). Eine
Behandlung mit antiretroviralen Medikamenten gilt als eigener Risikofaktor für
kardiovaskuläre Erkrankungen (4, 5). Es ist bekannt, dass Proteaseinhibitoren (PI)
- möglicherweise über induzierte Fettstoffwechselstörungen - das Risiko für einen
Myokardinfarkt erhöhen können (4). Die meisten antiretroviralen Therapieregime
(cART = combined Anti-Retroviral Therapy) beinhalten jedoch neben den PI auch
nukleosidische Reverse-Transkriptase-Inhibitoren (NRTI), die ebenfalls zu einer
Erhöhung des Risikos beitragen könnten. Insbesondere von den Thymidin-Analoga
Stavudin und Zidovudin wurde die Induktion von Dyslipidämien und Insulinresistenz
mit einem erhöhten Diabetesrisiko beschrieben (6, 7). Auch wurde unter Einnahme
dieser Substanzen eine Verdickung der Intima in der Arteria carotis interna nachgewiesen
(8). Es erscheint daher plausibel, dass auch NRTI, insbesondere
Thymidin-Analoga, zur Erhöhung des kardiovaskulären Risikos in dieser
Patientengruppe beitragen könnten. Dieser Frage wurde in einer kürzlich im Lancet
publizierten Arbeit nachgegangen (9).
Elf Kohorten mit 33 347 HIV-1-infizierten
Patienten aus 212 Kliniken in Europa, den USA und Australien wurden analysiert.
Dabei wurde ein Poisson-Regressionsmodel benutzt, um den Zusammenhang zwischen
der kumulativen sowie der aktuellen (< 6 Monate) und vergangenen Exposition
gegenüber Zidovudin, Didanosin, Stavudin, Lamivudin und Abacavir und Myokardinfarkten
zu quantifizieren. Die Ergebnisse in den Gruppen wurden für andere
kardiovaskuläre Risikofaktoren adjustiert (Alter, Geschlecht, Rauchen,
Hypertonie, Diabetes, Familienanamnese, Body-Mass Index, Gesamtcholesterin, HDL,
Triglyzeride, Proteaseinhibitoren).
Ergebnisse:
Während 157 912 Personenjahren traten 517 Herzinfarkte auf (etwa
0,3%/Jahr). Das ist wenig im Vergleich zu den Risiken der Grundkrankheit. Es
wurde kein Zusammenhang zwischen den NRTI Zidovudin, Stavudin und Lamivudin und
dem Auftreten von Myokardinfarkten gefunden. Hingegen fand sich eine positive
Korrelation mit Myokardinfarkten für die aktuelle, nicht aber für die
kumulative Einnahme der NRTI Abacavir und Didanosin. Gegenüber anderen NRTI (als
Kontrollen) war das Relative Risiko für Abacavir mit 1,9 (p = 0,0001) und für
Didanosin mit 1,49 (p = 0,003) erhöht. Bei Patienten, die diese beiden NRTI
seit über sechs Monaten abgesetzt hatten, fand sich hingegen kein Unterschied
mehr. Nach Berücksichtigung dieser Ergebnisse ergab sich für beide Substanzen
weiterhin ein erhöhtes Zehn-Jahres-Risiko für eine koronare Herzkrankheit und
Herzinfarkt.
Die zugrunde liegenden Pathomechanismen sind bisher
nicht klar. Bemerkenswert ist, dass gerade die NRTI, die mit Fettstoffwechselstörungen
und Intimaverdickung in der Arteria carotis interna in Verbindung gebracht werden,
in dieser Analyse das Herzinfarktrisiko nicht erhöhten, dagegen aber die NRTI,
die bisher bevorzugt bei Patienten mit erhöhtem kardiovaskulären Risiko
eingesetzt werden. Da die NRTI-unabhängigen Risikofaktoren sehr sorgfältig
erhoben wurden und in die Auswertung eingegangen sind, scheint eine
Verfälschung der Ergebnisse (Bias) aufgrund unterschiedlicher Risikofaktoren in
den Gruppen eher unwahrscheinlich. Darüber hinaus zeigt die Studie, dass das
Risiko nur solange erhöht war, solange die Patienten diese NRTI einnahmen und
nach dem Absetzen wieder zurückging. Wäre die Einnahme der NRTI nur ein
Surrogat-Marker für eine bereits zugrunde liegende kardiovaskuläre Erkrankung
gewesen, hätte das Risiko nach Absetzen der entsprechenden NRTI hoch bleiben müssen.
Eine optimale Einschätzung der Gefährdung könnte nur eine randomisierte
prospektive Studie erlauben. Diese müsste mindestens 5000 Patienten in jeden
Arm einschließen und zwei Jahre dauern. An einer solchen Studie ist die
Pharmaindustrie jedoch nicht interessiert. Hingegen sind die Hersteller der
betroffenen Präparate nach Veröffentlichung der hier vorgestellten Studie sehr
bemüht, die behandelnden Ärzte mit eilig zusammengestellten „Post-hoc”-Analysen
zu beruhigen. Langzeitstudien (wenigstens zwei Jahre) zur Erfassung von UAW vor
der Neueinführung von Substanzen zur Behandlung chronischer Virusinfektionen (HIV,
Hepatitis B) haben wir schon mehrmals angemahnt.
Fazit: Die
antiretrovirale Therapie führt bei HIV-infizierten Patienten zu einer
deutlichen Lebensverlängerung. Kardiovaskuläre Erkrankungen spielen deshalb zunehmend
eine Rolle. Wahrscheinlich erhöhen einige antiretrovirale Substanzen dieses
Risiko zusätzlich. Aus den bisher vorliegenden Kurzzeitstudien kann diese
Risikoerhöhung für die verschiedenen Substanzen aber noch nicht zuverlässig
abgeschätzt werden. Bis zur Vorlage verlässlicherer, prospektiver Daten sollten
nach den Ergebnissen der hier besprochenen Studie die NRTI Abacavir und
Didanosin bei Patienten mit bereits erhöhtem kardiovaskulären Risiko aber nur
nach individueller Abwägung aller anderen Risikofaktoren eingesetzt werden.
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http://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140673608604237/abstract?isEOP=true
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