Wie relevant sind die Ergebnisse der HYVET-Studie?
Prof. F.P.M. aus Groß
Rodensleben schreibt: >> Eine antihypertensive Therapie ist auch bei über
Achtzigjährigen denkbar, aber - Prioritäten setzen! Die Daten der HYVET-Studie
(1) sprechen leider nicht so eindeutig für eine antihypertensive Therapie bei
sehr alten Menschen mit systolischen Blutdruckwerten > 160 mmHg, wie in der
Rezension behauptet wird (2). Dieser Irrtum resultiert daraus, dass der Autor
die zwar beeindruckend hohen - aber therapieirrelevanten - Zahlen der relativen
Risikoreduktion (RRR) angeführt hat, obwohl er einleitend von absoluter
Risikoreduktion (ARR) schrieb. Nachfolgend werden die ARR- und die daraus
resultierenden NNT (Number needed to treat)-Werte für die mittlere
Beobachtungsdauer von 1,8 Jahren im Vergleich Plazebo versus Verum aufgelistet
(s. Tab. 1).
Der primäre zusammengesetzte
Endpunkt der Studie betraf die tödlichen oder nicht-tödlichen Schlaganfälle.
Ein NNT-Wert = 100 bedeutet, dass 100 Achtzigjährige über 1,8 Jahre
antihypertensiv behandelt werden, aber nur bei einem Patienten ein tödlicher
oder ein nicht-tödlicher Schlaganfall verhindert wird. 99 Patienten werden
vergeblich belastet.
Ich meine, dass es möglich
ist, unter diesem Aspekt Prioritäten zu setzen. Vielleicht wäre für diese
Senioren anderes wichtiger, z.B. eine angemessene Schmerztherapie, Empathie.
Hinzu kommt, dass 96% der eingeschlossenen Patienten aus Osteuropa und China
stammten. Inwieweit sich solche Studienergebnisse auf Deutsche (mit völlig
anderen Lebens- und Ernährungsgewohnheiten) übertragen lassen, bleibt unklar.
Nur 12% der rekrutierten Patienten litten unter kardiovaskulären Erkrankungen,
nur 7% hatten Diabetes. Auch dieser gute Gesundheitszustand dürfte nicht dem
der Klientel unserer Hausärzte entsprechen. Dass die HYVET-Studie wegen der
größeren Letalität unter Plazebo vorzeitig abgebrochen wurde, ist aus ethischer
Sicht verständlich. Da das Studiendesign aber hinsichtlich der Letalität nicht
gepowert war, bleiben viele Fragen offen. <<
Antwort: >> Die HYVET-Studie zeigt klar: auch bei sehr
alten Menschen ist eine antihypertensive Therapie wirksam (1, 2). Nach früheren
Untersuchungen (3, 4) konnte das bereits angenommen werden. Auch in diesen
Untersuchungen betrug - wie bei HYVET - die RRR etwa 30%. Zu Recht wird daher
in keiner Leitlinie die antihypertensive Therapie vom Alter abhängig gemacht.
Natürlich müssen Prioritäten gesetzt werden.
Eine RRR von etwa 30% ist
eindrucksvoll. Die klinische Bedeutung dieser Zahl ist aber von der Höhe des
Ausgangsrisikos abhängig: je höher das Ausgangsrisiko desto größer ist bei
gleicher RRR die ARR und damit die NNT. Daher ist es wichtig und richtig, bei
klinischen Studien sowohl auf die absoluten Zahlen als auch auf die RRR pro
Zeit zu achten, wie das regelmäßig in den Referaten des ARZNEIMITTELBRIEFS
geschieht. Die Patienten der HYVET-Studie waren, verglichen mit den polymorbiden
Achtzigjährigen, die in den hiesigen Praxen behandelt werden, relativ „gesund”.
Hierzulande sind daher höhere ARR zu erwarten. Aber schon die Ergebnisse der (plazebokontrollierten!)
HYVET-Studie sind nach unserer Meinung keineswegs irrelevant. Sie wurde von der
British Heart Foundation und dem Institut de Recherches Internationales Servier
unterstützt.
Man kann einem Patienten mit
Hypertonie ein antihypertensiv wirksames Medikament nicht auf Grund seines
Alters vorenthalten. Manche Achtzigjährige sind noch sehr leistungsfähig! Es
gibt in der Praxis der Medizin kein entweder/oder zwischen Schmerztherapie,
Empathie und antihypertensiver Therapie. Bei polymorbiden alten Menschen ist
immer Empathie und gegebenenfalls auch Polypharmakotherapie mit Fingerspitzengefühl
entscheidend, um Prioritäten setzen zu können. Deshalb ist der Arzt dankbar,
wenn er weiß, dass die Medikamente, die er anwendet, nachweislich wirksam sind.
Schließlich haben ja auch die
Patienten und gegebenenfalls ihre Angehörigen bei der Entscheidung zur Therapie
ein Wort mitzureden. Was werden sie sagen, wenn ihnen erklärt wird, dass 50
Patienten mit einem gut verträglichen Medikament eineinhalb Jahre behandelt
werden müssen, um einem eine quälende Herzschwäche zu ersparen und 100
Patienten, um bei einem einen möglicherweise stark behindernden Schlaganfall zu
verhindern? Der eine Patient könnte doch derjenige sein, den wir gerade beraten
und der die Entscheidung treffen muss, ob er behandelt werden will oder nicht! <<
Literatur
-
Beckett, N.S., et al. (HYVET = HYpertension in the Very
Elderly Trial): N. Engl. J. Med. 2008, 358, 1887.

-
AMB 2008, 42,
52.

-
AMB 2000, 34,
29.

-
AMB 1997, 31,
61.

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