Im Februar
2008 haben wir über zugelassene sowie noch nicht (bzw. nicht mehr) zugelassene
Antikoagulanzien berichtet (1). Eine der damals nur am Rande erwähnten
Substanzen macht nun mit der Publikation der Ergebnisse mehrerer Phase-III-Studien
mit insgesamt > 12 000 Patienten auf sich aufmerksam. Es handelt sich
um Rivaroxaban (Xarelto®), einen oralen, einmal täglich zu
dosierenden, direkten Faktor-Xa-Inhibitor aus der Gruppe der Oxazolidinone (und
damit übrigens dem Antibiotikum Linezolid chemisch verwandt).
Im N. Engl. J. Med. wurden jetzt die Resultate von
RECORD1 (2) und RECORD3 (3), im Lancet die von RECORD2 (4) publiziert.
Zeitgleich wurden beim Treffen der European Federation of National Associations
of Orthopedics and Traumatology die Ergebnisse der RECORD4-Studie vorgestellt,
die jedoch bislang nur als Abstract vorliegt (5). Alle vier Studien verglichen
doppeltblind Rivaroxaban 10 mg einmal täglich p.o. gegen Enoxaparin (Clexane®)
s.c. (unterschiedliche Dosierung und Dauer, s. Tab. 1) zur Thromboseprophylaxe
nach Hüft- bzw. Knie-Gelenksersatz in einem „Double-dummy”-Design (in beiden
Patientengruppen wurde sowohl ein p.o.- als auch ein s.c.-Präparat angewendet).
Primärer Endpunkt hinsichtlich der Wirksamkeit war ein kombinierter Endpunkt
aus tiefer Beinvenenthrombose (eine Phlebographie war laut Studienprotokoll für
alle Patienten vorgesehen), Lungenembolie (Nachweis durch Angiographie,
Szintigraphie oder Spiral-CT bei klinischem Verdacht) oder Gesamtletalität,
sekundärer Endpunkt unter anderen eine symptomatische Thromboembolie
(Kombination aus Beinvenenthrombose und Lungenembolie). Primärer Endpunkt
hinsichtlich der Sicherheit war das Auftreten einer schweren Blutung unter
Therapie.
Ergebnisse: Studiendesign
und -resultate sind im Überblick in Tab. 1 dargestellt. Es zeigte sich in allen
vier Studien unter Rivaroxaban eine auf den ersten Blick beeindruckende
Reduktion des primären Wirksamkeits-Endpunkts bei gleichzeitig nicht
signifikant unterschiedlichen Blutungs- und anderen UAW-Raten. Ein Anstieg der
Leberenzyme wurde in keiner der Studien gefunden. Wegen Hepatotoxizität wurde ja
der orale Thrombinantagonist Ximelagatran (Exanta®, AstraZeneca) in Deutschland 2006 vom Markt
genommen und in den USA nicht von der FDA zugelassen
(6).
Bei genauer Analyse
der Methodik und Resultate der RECORD-Studien lassen sich verschiedene
Schwachpunkte erkennen, die die Aussagekraft dieser Studien einschränken. Auffällig
ist in erster Linie die sehr hohe „Drop-out-Rate” in RECORD1-3 (die Angaben für RECORD4 sind noch nicht
veröffentlicht) infolge verschiedener „Protocol-violations” (zwischen
32% und 36% von Randomisierung bis Per-Protokoll-Analyse des
primären Endpunkts). Wenn man speziell die Resultate für
den – klinisch wichtigen – sekundären Endpunkt symptomatische schwere Thromboembolie
betrachtet, dann fällt das Ergebnis deutlich weniger günstig für Rivaroxaban
aus als für den gewählten primären Endpunkt – in RECORD4 nicht einmal mehr statistisch
signifikant. In RECORD4 wurde auch gegen eine höhere Enoxaparin-Dosis
verglichen, was zu der Frage führt, ob in RECORD1-3 möglicherweise keine
äquipotenten Antikoagulanzien-Dosen verglichen wurden. Auffällig ist, dass
Blutungen unter Rivaroxaban häufiger waren. Das könnte dafür sprechen, dass die
Wirkungsunterschiede durch die Dosis und nicht durch den Wirkstoff selbst
bedingt sind: Höhere Dosis → stärkere Wirkung →
häufigere UAW. Warum die vier multizentrischen, internationalen, im
Design sehr ähnlichen Studien fast zeitgleich, aber getrennt voneinander
durchgeführt und publiziert werden, bleibt dem Leser unklar. Der Verdacht,
durch mehrere positive Publikationen gezielt mehr Aufmerksamkeit zu erregen,
liegt nahe. Die Sammlung und Auswertung der Daten von RECORD1-3 lag in den
Händen der Hersteller und Studiensponsoren Bayer HealthCare und Johnson &
Johnson.
Von Bayer
HealthCare wurde bereits im Oktober 2007 bei der Europäischen Arzneimittelagentur
EMEA ein Antrag auf Marktzulassung in der EU für
Rivaroxaban (Xarelto®) zur Thromboseprophylaxe nach größeren orthopädischen
Eingriffen an den unteren Extremitäten eingereicht. Daten zu
kardiovaskulären Indikationen (Alternative zur oralen Antikoagulation nach
Lungenembolie oder bei Vorhofflimmern, Akutem Koronarsyndrom oder Koronarintervention)
werden nun erwartet. Klinische Daten zu neuen Antikoagulanzien werden
üblicherweise zuerst im Indikationsbereich der venösen Thromboseprophylaxe
erhoben, da hierbei in kürzerer Zeit und mit geringeren Patientenzahlen
Ergebnisse zu erhalten sind, als bei den wesentlich aufwändigeren klinischen
Studien im kardiologischen Bereich. Auch der direkte
Vergleich mit anderen neuen Gerinnungshemmern wie Apixaban (oraler
Faktor-Xa-Inhibitor; Pfizer/BristolMyersSquibb) und Dabigatran (Pradaxa®;
Boehringer Ingelheim) steht noch aus.
Fazit: Mit Rivaroxaban wird voraussichtlich noch in diesem
Jahr mit großem Werbeaufwand eine oral zu applizierende und nicht mit
Gerinnungsparametern überwachungspflichtige Alternativsubstanz zu niedermolekularen
Heparinen in der (orthopädischen) postoperativen Thromboseprophylaxe die
EU-Marktzulassung erhalten. Rivaroxaban ist von allen in der
Entwicklung befindlichen direkten, oralen Faktor-Xa-Inhibitoren am besten
untersucht. Das in Phase-III-Studien berichtete günstige Nutzen-Risiko-Verhältnis
muss jedoch angesichts wesentlicher Kritikpunkte zurückhaltend bewertet werden.
Vor einer endgültigen Beurteilung dieser neuen Substanz bleiben die Ergebnisse weiterer
Studien, insbesondere auch zum Risikoprofil bei Langzeittherapie sowie der
direkte Vergleich mit anderen neuen oralen Gerinnungshemmern abzuwarten. Auch
der Preis ist noch nicht bekannt.
Literatur
-
AMB
2008, 42, 09.

-
Eriksson,
B.I., et al. (RECORD1
= REgulation of Coagulation in major Orthopedic surgery reducing the Risk of DVT and PE1): N. Engl. J. Med. 2008, 358,
2765.

-
Lassen,
M.R., et al. (RECORD3
= REgulation of Coagulation in major Orthopedic surgery reducing the Risk of DVT and PE3): N. Engl. J. Med. 2008, 358,
2776.

-
Kakkar,
A.K., et al. (RECORD2
= REgulation of Coagulation in major Orthopedic surgery reducing the Risk of DVT and PE2): Lancet 2008, 372,
31.

-
Turpie,
A.: European Federation of National Associations of Orthopaedics and
Traumatology 2008 Annual Meeting. 29. Mai-1. Juni 2008; Nizza, Frankreich.
Abstract F85.
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AMB
2006, 40, 24a.

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