Viele Patienten, die operiert werden
müssen, haben kardiovaskuläre Krankheiten und erhalten deswegen Hemmer der
Thrombozytenfunktion. Speziell Patienten, bei denen Gefäßoperationen geplant
sind, und Diabetiker haben häufig eine Koronare Herzkrankheit (KHK; Prävalenz
30-50%; 1). Die meisten erhalten Azetylsalizylsäure (ASS) zur
Sekundärprophylaxe, einige auch eine duale Hemmung der Thrombozytenfunktion mit
ASS plus Clopidogrel (Iscover®, Plavix®), so z.B. die
Mehrzahl der Patienten mit koronaren Stents. Es wird hier nur Clopidogrel
genannt. Die Aussagen sind aber auf den zweiten zugelassenen ADP-Blocker
Prasugrel (Efient®) übertragbar. Etwa 5% der Stent-Patienten werden
innerhalb eines Jahres nach der Implantation operiert (nicht am Herzen; 2). Bei
ihnen stellt sich jeweils die Frage, ob die bestehende Hemmung der
Thrombozytenfunktion ohne zu große kardiale Risiken pausiert werden kann, um
das perioperative Blutungsrisiko zu minimieren.
Die Diskussion um dieses Thema offenbart
Konflikte zwischen Chirurgen, Internisten und Neurologen wegen ihrer sehr
unterschiedlichen Sichtweise auf die Problematik.
Operationen unter ASS erhöhen den
Blutverlust um etwa 20-30% und unter dualer Hemmung der Thrombozytenfunktion
(ASS plus Clopidogrel) um 50% (3). Letzteres führt auch zu einem erhöhten
Transfusionbedarf. Die meisten Chirurgen fürchten die intra- und postoperativen
Blutungen und ihre Folgen und wünschen sich daher eine rechtzeitige ASS- bzw. Clopidogrel-Pause.
Die Einbestellung zur Operation ist daher in aller Regel mit dem Hinweis
verbunden, alle Gerinnungshemmer bzw. ASS und Clopidogrel abzusetzen.
Dieses automatisierte Vorgehen ist jedoch
in bestimmten Konstellationen gefährlich und manchmal sogar fahrlässig.
Einerseits, weil das Absetzen der Plättchenhemmer zu einer verstärkten
Aktivierung der Thrombozyten im Sinne eines Rebounds führen kann (4),
andererseits, weil Patienten schwerwiegende Komplikationen erleiden können,
wenn ihr kardiovaskuläres Grundrisiko perioperativ unterschätzt wird.
Um zu entscheiden, ob bei kardiovaskulär
kranken Patienten perioperativ die medikamentöse Hemmung der
Thrombozytenfunktion pausiert werden darf, müssen drei Fragen beantwortet
werden:
1. Wie dringlich ist die geplante Operation?
2. Wie wichtig ist die Hemmung der
Thrombozytenfunktion für den Patienten?
3. Wie groß ist das Blutungsrisiko bei der
geplanten Operation?
Diese Fragen können in der Regel nicht von
einer Disziplin allein beantwortet und entschieden werden. Die Kommunikation
zwischen Chirurgen, Internisten, Neurologen und Anästhesisten ist unabdingbar.
Zu Frage 1 (Dringlichkeit): Bei geplanten,
nicht-kardialen Operationen sind drei Dringlichkeitsstufen zu unterscheiden: Notfalleingriffe,
dringliche Eingriffe und elektive Eingriffe (s. Abb. 1). Bei Notfalleingriffen
(vitale Indikation) erübrigt sich die Frage nach dem Absetzen der
Plättchenhemmung. In der Regel dauert es fünf Tage bis sich der
Thrombozytenpool zur Hälfte mit funktionstüchtigen Plättchen erneuert hat. Da
es keine Möglichkeit zur Antagonisierung gibt, muss bei diesen Patienten bei
Blutungskomplikationen auf Thrombozytenkonzentrate zurückgegriffen werden.
Elektive Eingriffe sind bei Patienten mit hohem kardiovaskulärem Risiko innerhalb bestimmter
kritischer Zeitintervalle nach Stent-Implantation oder Myokardinfarkt (s.u.)
unbedingt zu vermeiden. Sie müssen auf einen späteren Zeitpunkt verschoben
werden. Nur bei niedrigem kardiovaskulärem Risiko darf elektiv operiert und die
Hemmung der Thrombozytenfunktion pausiert werden.
Bei dringlichen Eingriffen ist naturgemäß der
Diskussionsbedarf am größten. Dabei handelt es sich meistens um
unvorhergesehene Eingriffe, wie Resektion neu entdeckter Tumore, operative
Versorgung von Frakturen, Polypektomien, größere Zahneingriffe u.ä. Diese
Operationen sollten so spät wie möglich nach dem kardiovaskulären Ereignis
(Schlaganfall, Myokardinfarkt, Stent-Implantation) und zumindest unter
ASS-Schutz erfolgen. Bei einzelnen Patienten kann sogar eine überbrückende
Behandlung („Bridging”) mit reversiblen GP-IIb/IIIa-Blockern (Tirofiban =
Aggrastat®, Eptifibatid = Integrilin®) versucht werden.
Solche Eingriffe sollten generell nur in der Nähe eines Katheterzentrums mit
24-h Bereitschaft vorgenommen werden.
Heparine sind kein Ersatz für
Thrombozytenfunktionshemmer! Ein „Bridging” mit niedermolekularem Heparin nach
dem Absetzen von ASS und/oder Clopidogrel ist zwar vielerorts üblich, jedoch als
Ersatz wirkungslos und daher riskant (4, 5).
Zu Frage 2 (individuelle Wichtigkeit der
Thrombozytenhemmung): Die
zweite Frage ist nach dem jeweiligen individuellen kardiovaskulären Grundrisiko
zu stellen, weil sich hieraus die Notwendigkeit zur Hemmung der
Thrombozytenfunktion ableitet.
OP-Kandidaten mit niedrigem kardiovaskulärem
Grundrisiko sind solche, die noch nie ein kardiales oder neurologisches
Ereignis hatten (Primärprävention) oder die nach einem kardialen Ereignis
längere Zeit (mindestens ein Jahr, besser noch länger) klinisch stabil waren.
Bei dieser Konstellation können Thrombozytenfunktionshemmer mit vertretbarem
Risiko pausiert werden. Eine Ausnahme sind Patienten mit einem
Medikamenten-beschichteten Stent (Drug Eluting Stent = DES), da sich dieser
auch noch nach Jahren thrombotisch verschließen kann. Diese Patienten sollten
immer unter ASS-Schutz operiert werden.
OP-Kandidaten mit hohem
kardiovaskulärem Grundrisiko sind solche, die innerhalb des zurückliegenden
Jahres ein Akutes Koronarsyndrom (ACS) erlitten oder einen koronaren Stent
erhalten haben. Dabei gilt: je näher das Ereignis zurückliegt, desto höher das
Risiko. Wenn z.B. Patienten innerhalb der ersten vier Wochen nach Stent-Implantation
operiert (nicht am Herzen) werden müssen, ist die kardiale Komplikationsrate
(Myokardinfarkt, Re-PTCA, Stent-Thrombose, Tod) enorm hoch (30-50%), selbst
wenn die OP unter dualer Hemmung der Thrombozytenfunktion erfolgt (3). In dieser Zeit sind daher nur Notfalleingriffe
mit vitaler Indikation zulässig. Das kardiale Risiko sinkt bei unbeschichteten
Stents (Bare metal Stents = BMS) nach drei Monaten auf < 5%; bei DES
bleibt es mindestens ein Jahr lang bei > 10%. In dieser Zeit dürfen
dringliche Operationen nach strenger Indikationsstellung durchgeführt werden,
aber nur unter fortlaufender Hemmung der Thrombozytenfunktion (mindestens ASS).
Einzige Ausnahmen sind OP mit sehr hohem Blutungsrisiko (s.u.).
Die am meisten gefürchtete Komplikation
einer ASS/Clopidogrel-Pause ist die Stent-Thrombose. Diese ist mit einer
Letalität von 20-45% und sehr hoher Morbidität (Herzinsuffizienz, ventrikuläre
Arrhythmien) verbunden (1, 2). Risikofaktoren für eine Stent-Thrombose sind
komplexe Koronarinterventionen und komplexe anatomische Gefäßverhältnisse,
hohes Alter, Diabetes, Niereninsuffizienz, niedrige linksventrikuläre
Ejektionsfraktion (LVEF), Blutdruckabfall bei der Operation und – weitaus am
bedeutsamsten - das frühzeitige Beenden der Thrombozytenhemmung (90-fache
Erhöhung des Risikos; 6). Daher gilt: hat ein Patient weniger als drei Monate
zuvor einen BMS oder weniger als 12 Monate zuvor einen DES erhalten, sollte er,
wenn irgendwie vertretbar, nicht operiert werden. Dies gilt auch für Patienten,
die weniger als sechs Wochen zuvor einen Myokardinfarkt, eine koronare
Intervention (PCI) ohne Stent oder einen Schlaganfall hatten.
Die Konsequenzen einer Blutung im
Operationsgebiet sind klinisch als weniger bedeutsam einzustufen als eine
Stent-Thrombose oder ein Reinfarkt. Jenseits der genannten Zeiten (also
> sechs Wochen nach Myokardinfarkt, > drei Monate nach BMS oder
> zwölf Monate nach DES) sollte die Operation unbedingt unter
ASS-Schutz erfolgen.
Nach
perioperativer ASS- und/oder Clopidogrel-Pause ist diese Therapie zum frühest
möglichen Zeitpunkt wieder aufzunehmen (je nach Wundverhältnissen).
Wahrscheinlich ist es sogar vorteilhaft, mit einer „loading dose” zu beginnen.
Zu Frage 3 (Blutungsrisiko): Dieses hängt von verschiedenen Faktoren
ab, nicht nur von der Begleitmedikation (Thrombozytenfunktionshemmer, SSRI,
Gingko-Präparate u.a.). Operationsfeld, Operationstaktik und -geschick,
Übersichtlichkeit und Komprimierbarkeit im Blutungsbereich sind ebenso
bedeutsame Faktoren. Daher sollten bei Risikopatienten (s.o.) nur erfahrene
Operateure und schonende Techniken eingesetzt werden. Auf konsequente
Blutstillung ist zu achten. Thrombozytenkonzentrate und Gerinnungsfaktoren
können bei starken Blutungen indiziert sein.
Es gibt keine Übereinkunft darüber, welche
Operationen als besonders blutungsriskant anzusehen sind und welche weniger. In
vielen Publikationen wird folgende Einteilung vorgenommen:
Ein geringes Blutungsrisiko bzw.
gut komprimierbare Blutungen mit sehr seltenem Transfusionsbedarf haben kleinere orthopädische, HNO-, dermatologische,
plastische, Gefäß- und allgemeinchirurgische Operationen sowie Endoskopien mit
Biopsie, OP der vorderen Augenkammer (Katarakt) und zahnchirurgische Eingriffe. Diese Eingriffe können recht sicher
unter Thrombozytenfunktionshemmern erfolgen.
Ein mittleres Blutungsrisko
(gelegentlicher bis regelmäßiger Transfusionsbedarf; in aller Regel stillbare
Blutungen) findet sich bei Eingriffen in der Viszeralchirurgie (Schilddrüse, Leber, Pankreas), der Herzchirurgie, der
großen orthopädischen Chirurgie, bei HNO- und rekonstruktiven Eingriffen, der
endoskopischen Urologie und bei endoskopischer Polypektomie. Bei diesen
Operationen ist eine duale Plättchenhemmung sehr riskant und sollten deshalb
verschoben werden bis sie nicht mehr erforderlich ist.
Ein sehr hohes Blutungsrisiko findet sich bei Eingriffen der intrakraniellen Neurochirurgie, der
Spinalkanal-Chirurgie und bei Operationen an den Sinnesorganen, besonders der
hinteren Augenkammer (Glaukom). Diese Eingriffe sollten wegen der hohen Gefahr
bleibender Schäden durch eine Blutung generell ohne Plättchenhemmer
durchgeführt werden. Solche „ungeschützten” Eingriffe sollten jedoch nur an
Zentren mit 24-Stunden-Katheterbereitschaft vorgenommen werden, um bei einem
postoperativen akuten Koronarsyndrom sofort intervenieren zu können.
Ein Entscheidungsalgorithmus für Patienten mit hohem
und mittlerem kardiovaskulärem Risiko wird in Abb. 1 vorgeschlagen.
Literatur
-
ACC/AHA 2007
Guidelines on Perioperative Cardiovascular Evaluation and Care for Noncardiac
Surgery: Circulation 2007, 116, e418.
Erratum: Circulation 2008, 117, e154 und 2008,118, e143.
-
Vicenzi, M.N., et al.:
Br. J. Anaesth. 2006, 96, 686.

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van Kuijk, J.P., et
al.: Am. J. Cardiol. 2009, 104,
1229.

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Möllmann, H., et al.:
Clin. Res. Cardiol. 2009, 98, 8.

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Chou, S., et al.: Rev.
Cardiovasc. Med. 2009, 10, 209.

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Iakovou, I., et al.: JAMA
2005, 293, 2126.

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