Zusammenfassung: Im Jahre 2009 wurden in Deutschland
36 Arzneimittel neu eingeführt. Sie werden tabellarisch vorgestellt, basierend auf
den Daten des Arzneiverordnungs-Reports 2010 sowie früherer Artikel. Dreizehn
Arzneimittel hatten eine innovative Struktur mit therapeutischer Relevanz. Das
ist jedoch nicht gleichbedeutend mit therapeutischem Fortschritt, denn oft
fehlt der Nachweis der Überlegenheit über die Standardtherapie. Sechs sind für
seltene Krankheiten entwickelt worden. Fünfzehn Arzneimittel sind zwar nicht
„innovativ”, aber verbessert bezüglich der pharmakokinetischen oder
pharmakodynamischen Eigenschaften. Neun wurden als Analogpräparate eingestuft.
Insgesamt entsteht der Eindruck, dass die Neuerungen nur geringe Bedeutung in
der Praxis haben werden. Aber sie gehören als patentgeschützte Arzneimittel zum
hochpreisigen Segment des Arzneimittelmarkts mit besonders starkem Umsatzanstieg.
Im Herbst vorigen Jahres ist der
Arzneiverordnungs-Report 2010 (AVR) erschienen (1). Wie auch in den vergangenen
Jahren bringen wir in Anlehnung daran in dieser Januar-Ausgabe eine
tabellarische Übersicht über die 36 im Jahre 2009 neu auf den Markt gekommenen
Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen. Den meisten Leserinnen und Lesern werden
viele dieser Präparate in der täglichen Praxis kaum begegnen. Trotzdem nennen
wir die Wirkstoffe, ihre Gruppenzugehörigkeit, die Handelsnamen, die
Indikationen, eine kurze Bewertung und die Preise. Tab. 1 gibt
Informationen, die erkennen lassen, in welchen Bereichen sich Neuerungen
ergeben haben und welche Preise hierfür zu bezahlen sind. Traditionsgemäß
werden die Bewertungen im AVR nach dem System von Fricke gegeben
und mit Buchstaben gekennzeichnet (vgl. Tab. 1). Mit diesem
pharmakologisch orientierten Schema sind die Neuerungen zwar von Jahr zu Jahr
vergleichbar darzustellen, aber das genaue Wirkprofil, gegebenenfalls der
zusätzliche Nutzen eines neuen Arzneimittels kann mit einem so einfachen
Buchstaben-Code natürlich nicht ausreichend beschrieben werden. Eine
ausführlichere Begründung findet sich im Text des AVR. Einige Wirkstoffe wurden
auch vom ARZNEIMITTELBRIEF oder von der Arzneimittelkommission der deutschen
Ärzteschaft (2) bewertet (s. Literatur). Schließlich werden vom AVR auch die
Tagestherapiekosten genannt, d.h. der Preis, den die gesetzlichen Krankenkassen
zu bezahlen haben für eine Tagesdosis, die von der WHO für jedes Arzneimittel
einheitlich definiert worden ist (DDD = Defined daily dose). Der Sinn dieser
Preisangaben kann es nicht sein, ökonomische Empfehlungen für die aktuelle
Verordnung zu entwickeln, vielmehr ergeben diese Preise in ihrer Gesamtheit ein
einheitlich berechnetes Profil, in das der Preis für ein neues Arzneimittel
vergleichend eingeordnet werden kann.
Dreizehn der 36 neuen Arzneimittel wurden der Gruppe
A zugeordnet (s.o. und Tab. 1). Innovation im Sinne des AVR bezieht
sich vornehmlich auf die Molekülstruktur und bedeutet keineswegs immer, dass
mit dem Wirkstoff auch ein therapeutischer Fortschritt verbunden ist. Z.B. ist
das erste in Tab. 1 genannte Arzneimittel, Agomelatin (Valdoxan®),
zwar nach seiner Molekülstruktur eine Innovation (A), nach seiner klinischen
Bedeutung bei der Behandlung der Depression aber noch nicht zu beurteilen (D).
Überzeugende Vergleichsuntersuchungen mit anderen Antidepressiva fehlen.
Trotzdem entstehen für Valdoxan® Tagestherapiekosten von 2,20 €
(zum Vergleich: Citalopram 0,41 €, Doxepin 0,52 €). Der Preis
orientiert sich also offensichtlich nicht an der Wirksamkeit. Weitere Beispiele
für chemische Innovationen, die trotz eines hohen Preises offenbar keinen
klinischen Fortschritt bringen, sind das Antianginosum Ranolazin (Ranexa®
= A/D) und der IL-Rezeptor-Antagonist Tocilizumab (RoActemra® =
A/C). Zu Tocilizumab gibt es mittlerweile einen Rote-Hand-Brief wegen einer
tödlichen Anaphylaxie bei der Infusion (3). Trotz ihres bisher nicht gezeigten
therapeutischen Stellenwerts wurden die genannten Arzneimittel im Jahr der
Zulassung jeweils mehr als 10.000 mal verordnet. Ein weiteres krasses Beispiel
für einen hohen Preis trotz wenig überzeugenden Werts ist der monoklonale
Antikörper Catumaxomab (Removab®), der bei malignem Aszites
eingesetzt werden soll. Ein Therapiezyklus (10 Tage) kostet 14.626,00 €
und erspart dem Patienten im Mittel vier Punktionen in der
palliativmedizinischen Versorgung, ohne das Leben zu verlängern. Der Preis ist
in Anbetracht der geringen Vorteile für den Patienten unangemessen hoch.
Besonders hochpreisig sind auch die sechs innovativen
Arzneimittel für seltene Krankheiten (Orphan drugs). Das ist zunächst
verständlich: hohe Entwicklungskosten sind notwendig gewesen für Arzneimittel,
die später z.T. nur bei wenigen Patienten angewandt werden. In der
Vergangenheit hat sich aber gezeigt, dass aus diesen „Nichebustern” sogar
„Blockbuster” mit Milliarden-Umsätzen werden können, wenn sich nämlich ihre
Anwendungsgebiete nach der Zulassung rasch ausweiten (12). Auf derart
„erfolgreiche” Arzneimittelkarrieren, z.B. Glivec®
(myelodysplastische Syndrome) oder Tracleer®, Ventavis®, Revatio®, Thelin®
(pulmonale Hypertonie), haben wir
hingewiesen. Diese Vorgehensweise, Erweiterung der Indikation, Zunahme der
Verordnungshäufigkeit bei gleichem Abgabepreis, wird mittlerweile häufig
praktiziert. Im letzten Jahr hat z.B. die europäische Arzneimittelagentur (EMA)
und auch die FDA die erleichterte Weiterentwicklung von Davunetid als Orphan
drug zur Behandlung einer seltenen supranuklearen Hirnatrophie genehmigt (13).
Es sind aber bereits Studien unterwegs zum Einsatz von Davunetid bei der
Alzheimer-Demenz.
Aber auch die Preise der Analogpräparate (Gruppe C)
orientieren sich ganz offensichtlich nicht an dem zum Zeitpunkt der Zulassung meistens
unklaren Zusatznutzen. Als Beispiel soll Rosuvastatin (Crestor®)
herausgegriffen werden, das sechste nun zugelassene Statin. Es hat einige
günstige pharmakologische Eigenschaften (gut lebergängig, nur geringe
Metabolisierung über Zytochrome, daher wenig Arzneimittelinteraktionen, lange
Halbwertszeit). Die am häufigsten zitierte klinische Untersuchung ist die
JUPITER-Studie (14). Sie zeigte die signifikante, aber nicht relevante
Wirksamkeit von Rosuvastatin auch in der primären Prävention kardiovaskulärer
Komplikationen, ohne dass mit anderen Statinen verglichen wurde. Auch sonst
fehlen vergleichende Untersuchungen. Ein relevanter Fortschritt ist nicht zu
erwarten. Trotzdem waren die Tagestherapiekosten nach der Marktzulassung
(15.1.2009) zunächst 1,61 €. (Simvastatin: 0,30 €,
Pravastatin: 0,40 €, Fluvastatin: 0,39 €, Atorvastatin =
Sortis®: 1,08 €). Anfang 2010 wurde durch den Gemeinsamen
Bundesausschuss (G-BA) entschieden, dass die Festbetragsregelung auf
Rosuvastatin angewandt werden muss. Die Erstattungshöchstgrenze für die
Tagesdosis wurde ab 1.2.2010 auf 0,54 € festgesetzt, ab 1.9.2010 auf
0,40 €. Der Hersteller hat die Preise jedoch nicht auf Festbetragsniveau
gesenkt, sondern sogar heraufgesetzt. Beispiel: Crestor® 10 mg,
100 Tbl. Verkaufspreis: 141,19 €, Festbetrag: 27,20 €,
Differenz: 113,99 €. Den Differenzbetrag muss ein gesetzlich
krankenversicherter Patient selbst zahlen. Das Beispiel zeigt, wie
rücksichtslos die Preis-Kalkulation der Hersteller abgehoben sein kann vom Preis
vergleichbarer Arzneimittel. Das hat damit zu tun, dass in Deutschland so hoch
wie eben möglich kalkuliert wird. Insgesamt hat sich in dieser Situation aber
das deutsche Festbetragssystem als Regulierungsinstrument bei der
Preisgestaltung im Generika-Markt bewährt.
Bei der Darstellung der neu zugelassenen Arzneimittel
werden also auch die grundlegenden Probleme des deutschen Arzneimittelmarkts
deutlich. Im vorigen Jahr schrieben wir bei der Vorstellung der 2008 neu auf
den Markt gekommenen Arzneimittel: „Das Hauptproblem mehrerer neuer Wirkstoffe
ist das offensichtlich ungünstige Kosten-Nutzen-Verhältnis, sofern dies
überhaupt zum Zeitpunkt der Zulassung abzuschätzen ist.” Daran hat sich auch
2009 nichts geändert. Das gilt nicht nur für die neu zugelassenen, sondern auch
für ältere patentgeschützte Arzneimittel. Auch darauf geht der AVR ein. Zwar
werden Arzneimittel aus dieser Gruppe von Jahr zu Jahr weniger verordnet - man
kann offenbar in weiten Bereichen darauf verzichten - aber der Preis pro
Verordnung und auch der Umsatz steigen kontinuierlich. Die Preise der neuen
patentgeschützten Arzneimittel sind (sehr) hoch. Sie machen etwa 50% des
Gesamtumsatzes aus. Das ist das Ergebnis einer langjährigen Entwicklung, die
damit zusammenhängt, dass fast nur in Deutschland (sowie Malta und Dänemark)
die Preise neuer Arzneimittel bisher allein von den Herstellern bestimmt werden
und sofort auch von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden müssen
(15). Die Hersteller vertrauen offenbar darauf, dass Ärzte und Patienten - auch
wenn die Datenlage dürftig ist - an die Überlegenheit neuer Arzneimittel
glauben oder doch leicht zu diesem Glauben hingeführt werden können.
Insgesamt werden von Jahr zu Jahr aber nicht weniger,
sondern mehr Arzneimittel verordnet und zwar Generika. Der Mehrverbrauch ist
plausibel, denn Patienten mit häufigen Krankheiten (Hypertonie, Diabetes
mellitus u.ä.) waren und sind oft unterversorgt (16). Der zusätzliche Bedarf in
diesem Bereich wird im wesentlichen von Generika gedeckt. Die Verordnungszahlen
haben hier erheblich zugenommen, prozentual stärker als der Umsatz. Der Preis
pro Tagesdosis hat also deutlich abgenommen. Die Entwicklung bei den Generika
ist umgekehrt wie bei den patentgeschützten Arzneimitteln.
Verglichen mit anderen europäischen Ländern sind in
Deutschland die Preise für patentgeschützte Arzneimittel, aber auch für
Generika, besonders hoch. Das geht beispielhaft aus einem Vergleich der
Apothekenverkaufspreise in Deutschland und Schweden hervor, über den im AVR (1)
berichtet wird. Danach sind die 50 umsatzstärksten Generika in Schweden etwa
50% billiger als in Deutschland. Daraus ergäbe sich beim Einkauf in Schweden
ein Einsparpotenzial von 1,6 Mrd. € (ohne Berechnung der
Mehrwertsteuer 1,1 Mrd. €). Bei den patentgeschützten Arzneimitteln
sind die Einsparpotenziale ähnlich.
Warum müssen die deutschen Versicherten diese hohen
Preise zahlen? Daran muss sich etwas ändern. Der Arzneimittelmarktmarkt
reguliert sich nicht selbst. Ein Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarkts
(AMNOG) war dringend überfällig. Wir haben ausführlich darüber berichtet (17).
Nun wird erstmals vorgeschrieben, dass neue Arzneimittel, die mit einem allein
vom Hersteller kalkulierten Preis auf den Markt kommen, nach ihrer Zulassung
einer frühen Nutzenbewertung durch den G-BA unterzogen werden und danach der
Preis in einer Vereinbarung des GKV Spitzenverbandes mit dem Hersteller
festgesetzt wird. Auch bei den Arzneimitteln für seltene Erkrankungen gibt es
Preisvereinbarungen. Falls sie einen Umsatz von mehr als 50 Mio. €
pro Jahr haben, wird auch bei „Orphan Drugs” eine frühe Nutzenbewertung als
Grundlage der Preisverhandlungen durchgeführt. Wir sind gespannt, wie sich das
Gesetz dauerhaft auf das Preisniveau der neuen Arzneimittel auswirken wird. In
diesem Jahr kann man sicher noch keine Effekte erwarten.
Literatur
- Schwabe, U., und Paffrath, D.:Arzneiverordnungs-Report 2010. Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York,2010.
- http://www.akdae.de/Arzneimitteltherapie/NA/Archiv/index.html

- http://www.akdae.de/Arzneimittelsicherheit/DSM/Archiv/2010-129.html

- AMB 2009, 43, 45.

- AMB 2006, 40,77.

- AMB 2009, 43, 09.

- AMB 2004, 38, 53
; AMB 2003, 37,23 ; AMB 2003, 37, 39c. 
- AMB 2010, 44,03
; AMB 2009, 43,67 ; AMB 2009, 43,68. 
- AMB 2007, 41,50.

- AMB2010, 44,19
; AMB 2009, 43, 31a ; AMB 2008, 42, 05. 
- AMB2006, 40, 89.

- AMB2008, 42, 73.

- http://www.ema.europa.eu/

- Ridker,P.M., et al. (JUPITER = Justification for the Use of statins in Prevention:an Intervention Trial Evaluating Rosuvastatin): N.Engl. J. Med. 2008, 359, 2195.
Vgl. AMB 2009, 43, 04 ; AMB 2010, 44, 31. 
- AMB2008, 42, 25
; AMB 2008, 42, 65. 
- Kotseva,K., et al. (EUROASPIRE = EUROpean Action on Secondary Preventionby Intervention to Reduce Events): Lancet 2009, 373,929.
Vgl. AMB 2009, 43, 46. 
- AMB2010, 44, 89.

- Held,T.K., et al.: Internist 2010, 51, 863.

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