Leitlinien (LL) bzw. „Clinical Practice
Guidelines” haben im letzten Jahrzehnt für die ärztliche Tätigkeit in Klinik
und Praxis erheblich an Bedeutung gewonnen. Sie gelten als Regeln guten ärztlichen
Handelns, die von ärztlichen Fachvertretern zusammen mit Biometrikern
systematisch entwickelt werden. Angesichts der Informationsflut und
gelegentlich auch des Informationswirrwarrs in der Medizin sollen LL eine
unabhängige Orientierung ermöglichen, Entscheidungshilfen bieten und durch
Standardisierung diagnostischer sowie therapeutischer Verfahren die Qualität
der medizinischen Behandlung verbessern (1, 2). Darüber hinaus werden LL
heute auch von Kostenträgern im Gesundheitssystem als Anhaltspunkt für den
medizinischen Standard bei Erstattungsfragen und im Rahmen von
Arzthaftungsprozessen herangezogen (3). Jede Festlegung eines Behandlungsstandards
in LL sollte deshalb transparent, frei von Interessenkonflikten und unabhängig
erfolgen. Sachfremde Erwägungen, insbesondere finanzieller Art, dürfen nicht in
Leitlinien einfließen.
Die Realität sieht jedoch anders aus. Eine
Auswertung von insgesamt 44 LL, die von nordamerikanischen und europäischen
Fachgesellschaften zwischen 1991 und 1999 publiziert worden waren, ergab, dass
87% der an diesen Leitlinien beteiligten Autoren (n = 192) Interessenkonflikte
hatten (4). Eine von der Zeitschrift Nature 2004 durchgeführte Analyse von allen
LL zur Arzneimitteltherapie (n = 215), die im US National Guideline
Clearinghouse hinterlegt waren, ergab, dass bei mehr als der Hälfte dieser LL
(125/215) Details zu den Interessenkonflikten der Autoren fehlten (5). Die
restlichen 90 LL wurden ausgewertet und zeigten, dass nur etwa in einem Drittel
(31/90) keine Interessenkonflikte aufgrund von Beziehungen zu pharmazeutischen
Unternehmen (PU) bestanden.
Inzwischen wurden die Vorgaben zur
Deklaration von Interessenkonflikten, u.a. für Publikationen (ICMEJ) und LL
deutlich verschärft (6-8). Bisher wurde jedoch nur selten systematisch
untersucht, in welchem Umfang Interessenkonflikte vorliegen und ob diese auch
korrekt deklariert werden (7).
Mendelson, T.B., et al. haben deshalb 17
LL, die gemeinsam vom American College of Cardiology (ACC) und der American
Heart Association (AHA) zwischen 2003 und 2008 publiziert wurden, ausgewertet
(9). Analysiert wurden Interessenkonflikte von Autoren und Gutachtern von LL bzw.
Mitgliedern in LL-Kommissionen und dabei folgende Kategorien finanzieller
Interessenkonflikte unterschieden: Forschungsstipendien, Honorare für Vorträge
bzw. regelmäßige Fortbildungstätigkeiten für ein spezielles pharmazeutisches Unternehmen
(„speakers’ bureau”), Beratertätigkeit, Aktienbesitz oder andere relevante Eigentumsrechte
(z.B. Patente). An den 17 LL waren insgesamt 498 Autoren beteiligt, wobei einige
Autoren in mehreren LL als Experten fungierten. Insgesamt 277 der 498 Autoren
(56%) berichteten über einen Interessenkonflikt, der am häufigsten aus einer
Beratertätigkeit, gefolgt von Forschungsstipendien, Honoraren für Vorträge und
seltener aus Aktienbesitz (oder anderen Beteiligungen) resultierte. Bei
Experten, die an zwei oder mehr LL beteiligt waren, bestanden signifikant
häufiger Interessenkonflikte. Die Funktion als Mitglied einer LL-Kommission war
im Vergleich zur Tätigkeit als Gutachter signifikant häufiger mit Interessenkonflikten
assoziiert. Vorsitzende bzw. deren Stellvertreter in den für die Erstellung der
LL verantwortlichen Kommissionen sowie Erstautoren der Publikation von LL
hatten signifikant häufiger Interessenkonflikte als andere Kommissionsmitglieder.
In den 17 LL fanden sich 510 finanzielle Beziehungen zwischen den Autoren und PU
bzw. Herstellern von Medizinprodukten, und im Durchschnitt waren Kontakte der
Autoren zu 38 Firmen in den ausgewerteten LL nachweisbar. Nur 6 der 17 LL
enthielten Angaben zur Höhe der finanziellen Zuwendungen, wobei über Beträge ≤ 10.000
US$ in 125 von 232 Kontakten (54%) und höhere Beträge (> 10.000 US$) in
68 von 232 Kontakten (29%) berichtet wurde. Bei immerhin 44% der an den LL
beteiligten Autoren oder Gutachter wurden keine Interessenkonflikte angegeben.
Diese Zahl widerlegt das häufig gehörte Argument, es gäbe keine unabhängigen,
kompetenten Experten für die Mitarbeit in LL-Kommissionen (10).
Kritische Fragen zur Unabhängigkeit und
Glaubwürdigkeit von LL zur Behandlung kardiovaskulärer Erkrankungen, aber auch
generell, und zur Rolle der medizinischen Fachgesellschaften wurden in zwei
Kommentaren von Steven E. Nissen und Bernard Lo et al. gestellt (10, 11).
Die Kommentatoren sind sich einig, dass die Deklaration von
Interessenkonflikten, möglichst in standardisierter Form, nur ein erster Schritt
ist und dass der Umgang mit Interessenkonflikten bzw. die sich daraus
ergebenden Konsequenzen entscheidend sein werden. Eine ausführliche Darstellung
zu diesem Thema und Empfehlungen zum Umgang mit Interessenkonflikten bei LL
finden sich im Kapitel 7 des heute bereits als Standardwerk geltenden Buchs des
Institute of Medicine in den USA (7).
Die Qualität der medizinischen Behandlung
wird langfristig durch LL nur dann verbessert werden können, wenn die Empfehlungen
der LL nicht durch Interessenkonflikte der beteiligten Autoren beeinflusst
werden, ausreichend unabhängige Ressourcen sowie kompetente methodische
Expertise für deren Erstellung zur Verfügung stehen und die Implementierung
unabhängiger LL in den ärztlichen Alltag tatsächlich erfolgt (12).
Fazit: Die an der Erstellung kardiovaskulärer
Leitlinien in den USA beteiligten Autoren haben häufig Interessenkonflikte. Da
fast die Hälfte der Empfehlungen in Leitlinien zur Behandlung kardiovaskulärer
Erkrankungen auf geringer Evidenz bzw. nur auf Expertenmeinung basiert (13),
müssen finanzielle Interessenkonflikte der an Leitlinien beteiligten Experten
in Zukunft konsequenter ausgeschlossen werden, um negative Folgen für die
Patientenversorgung infolge Bias in der Bewertung von Studienergebnissen und/oder
Beeinflussung der Empfehlungen zur Verordnung neuer Arzneimittel zu verhindern.
Literatur
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- Lieb, K., etal.: Dtsch. Arztebl.2011, 108, A-256; s.a. http://www.aerzteblatt.de...

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- Nissen, S.E.:Arch. Intern. Med. 2011, 171, 584.

- Lo, B.,et al.: Arch. Intern.Med. 2011, 171, 587.

- Steinbrook, R.:N. Engl. J. Med. 2007, 356, 331.

- Tricoci,P., et al.: JAMA 2009, 301, 831
. Erratum JAMA 2009, 301,1544.
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