Zusammenfassung: Viele der hochgesteckten Erwartungen und Ansprüche an
E-Health werden bisher nicht erfüllt. Die Evidenz für den klinischen Nutzen ist
überwiegend schwach und inkonsistent. Über Risiken wird zu wenig berichtet.
Darüber hinaus fehlt der Nachweis der Kosteneffizienz von E-Health. In den
meisten Reviews der „klinischen Informatik” fehlen fundamentale
Qualitätskriterien (Quantität, Qualität, Konsistenz). Zudem darf ein starker
Publikations-Bias angenommen werden, weil viele Arbeitsgruppen eng mit den
Providern der Systeme interagieren. Es ist höchste Zeit, auch für die klinische
Informatik unabhängige prospektive Studien zu fordern, insbesondere zur
Implementierung. Die Nutzung elektronischer Systeme für die medizinische
Versorgung ist ein komplexer Eingriff in die komplexen Arbeitsabläufe der dort
arbeitenden Menschen. Sie muss daher durch eine methodisch nachvollziehbare
Forschung zu Prozessen und Implementierung begleitet werden (1). Ziel muss es
sein, Best-Practice-Modelle zum Einsatz von E-Health zu entwickeln. Ein blindes
Vertrauen in die positive Wirkung elektronischer Systeme per se ist nicht
gerechtfertigt.
E-Health ist ein Überbegriff, unter dem verschiedene Informationstechnik
(IT)-Funktionalitäten verstanden werden, wie die elektronische Gesundheitskarte
(eGK) in Deutschland, die geplante elektronische Gesundheitsakte in Österreich (ELGA),
Bildspeichersysteme (PACS = Picture Archiving and Communication System),
elektronische Anforderungs- und Befundübermittlungssysteme (CPOE = Computerized
Physician Order Entry), elektronische Arzneimittelverordnung (E-Prescription oder
E-Prescribing), klinische Systeme zur Entscheidungsunterstützung (CDSS = Clinical Decision Support Systems) sowie
Telemedizin (vgl. 2).
Manche versprechen sich von E-Health die Lösung zentraler
Probleme in der modernen Medizin: fehlende Kontinuität in der Versorgung von
Patienten aufgrund umständlichen Zugriffs auf bereits erhobene Informationen, mangelhafte
Kommunikation, überbordender Wissens- und Informationszuwachs, Polypragmasie
und Polypharmakotherapie etc.
In vielen Gesundheitssystemen werden mittlerweile
enorme Summen in diese Technologien investiert. In den USA hat Präsident Obama
E-Health als einen für die amerikanische Wirtschaft wichtigen Zukunftssektor
benannt und 38 Mrd. US$ aus öffentlichen Kassen für die E-Health-Entwicklung
und -Infrastruktur freigegeben. Dadurch ist eine Goldgräber-Stimmung erweckt
worden. Die Erwartungen wachsen in den Himmel, und dort werden auch
Luftschlösser gebaut.
Kritische Stimmen zu E-Health-Projekten werden nicht
selten als rückwärtsgewandt abqualifiziert. Aber sind all die Versprechungen
von Anbietern und Planern von Gesundheitssystemen tatsächlich realistisch?
Werden die Prioritäten richtig gesetzt oder behindert E-Health sogar andere,
möglicherweise effektivere Maßnahmen zur Verbesserung von Qualität und
Sicherheit im Gesundheitswesen?
Diesen Fragen ist eine Gruppe aus London in einer
systematischen Übersichtsarbeit (SÜ) entsprechend der Regeln der Cochrane-Collaboration
nachgegangen, die alle Reviews zu E-Health-Technologien berücksichtigte (3). Es
wurde die gesamte Literatur über elektronische Patientenakten, PACS, CPOE, E-Prescribing
und CDSS in PubMed/MEDLINE, EMBASE und der Cochrane Library gesichtet. Weiterhin
wurde in einigen Schlüsseldatenbanken der Medizin-Informatik und mit Hilfe von
Suchmaschinen im Internet nach diesen Themen gefahndet. Das letzte Update
erfolgte im April 2010. Die Primärrecherche ergab über 46.000 Publikationen. Hieraus
wurden alle SÜ gefiltert, die nach folgenden Parametern bewerteten: 1. Nutzen
und Risiko für die Patienten, 2. Zeitaufwand und Nutzen für die Anwender
(z.B. Ärzte, Pflegepersonal), 3. Kosten-Nutzen-Analyse für die betreibenden
Organisationen (z.B. Krankenhäuser). Letztlich wurden 53 SÜ nach unabhängiger
Bewertung von mindestens zwei Experten als qualitativ ausreichend befunden und
in die Analyse einbezogen. Weitere 55 Arbeiten wurden als „Supplementary
reviews” berücksichtigt, obwohl sie keine ausreichenden Informationen über die
drei relevanten Aspekte liefern konnten. Besonders hinderlich bei Sichtung der
Literatur war nach Angaben der Autoren ein ausgeprägter Begriffswirrwarr sowie
die überwiegend mangelhafte Darstellung von Studienstandards (Fragestellung,
Methodik, Definition von Endpunkten, Limitationen der Studien etc.). Zudem
stellen die Autoren der SÜ fest, dass die Qualität der Studien und Reviews zum
Thema E-Health generell gering ist. Auch werden elektronische Systeme außerhalb
des Kontextes eingesetzt, für den sie entwickelt wurden. Die Autoren der SÜ beklagen
ein Fehlen von „Best Practice Guidelines” zur Implementierung der
elektronischen Systeme.
Ergebnisse: Insgesamt waren die Ergebnisse nicht sehr positiv.
Für die meisten Systeme gibt es keine, maximal eine moderate Evidenz für eine
günstige Kosten-Nutzen-Relation. Aus Platzgründen soll hier im Wesentlichen
über die Bewertung der Systeme zur Arzneimitteltherapie berichtet werden.
CPOE-Systeme werden sehr zurückhaltend
bewertet. Bei einem solchen System werden alle Anordnungen (Blutuntersuchungen,
Konsile, Bildgebung etc.) elektronisch in Auftrag gegeben und die Befunde in
aller Regel auch über diesen Weg übermittelt. Auch die elektronische Arzneimittelverordnung
(E-Prescription, s.u.) ist letztlich ein spezialisiertes CPOE-System. CPOE-Systeme
sollen Anordnungs- und Befundprozesse strukturieren und inhaltlich sowie
zeitlich effektiver machen. Leider beschäftigen sich nur wenige Reviews mit dem
tatsächlichen praktischen Nutzen. In diesen konnte ein schlüssiger Nachweis,
dass sie die Anforderungen auch erfüllen, nicht erbracht werden. Hier ist dringend
weitere Forschung nötig.
Beim E-Prescribing erfolgen
Arzneiverordnungen rein elektronisch (vgl. 2). Die oft unleserlichen
handschriftlichen Anordnungen entfallen und die Arzneimittellisten können
zumindest theoretisch jederzeit inhaltlich überprüft sowie einfach kommuniziert
werden, z.B. an die Pflege oder die Apotheke. Üblicherweise sind Module integriert,
die die Medikation inhaltlich überprüfen und mehr oder weniger hilfreiche
Verbesserungsvorschläge machen (Überprüfung von Dosierung und Interaktionen etc.).
Durch organisatorische Verbesserungen (bessere Lesbarkeit, Nachvollziehbarkeit)
und eine bessere Verschreibungsqualität (weniger Verschreibungsfehler) sollte E-Prescribing
zu einem besseren Therapieergebnis und zu größerer Therapiesicherheit führen.
E-Prescribing war unter den gesichteten Reviews tatsächlich die am meisten
untersuchte Funktionalität. Die Autoren fanden jedoch nur eine moderate Evidenz
für eine Verbesserung der „organisatorischen Effektivität”. Sie bezog sich
überwiegend auf eine engere Kommunikation der Ärzte mit den Apothekern, die
sich auf diese Weise stärker einbringen konnten. Die Evidenz für eine höhere
Verschreibungsqualität und weniger Medikationsfehler wurde nur als schwach
bewertet, und bislang besteht keine Evidenz für ein generell besseres
Therapieergebnis durch E-Prescription. Dies könnte darin begründet sein, dass nicht
jeder Medikationsfehler auch zu einer UAW führt und dass E-Prescribing sogar
selbst UAW produzieren kann. Darüber hinaus kann ein träges und nicht aktuelles
System (schlechte Qualität der Datenbank, unzureichende individuelle
Konfigurierbarkeit etc.) sowie ein komplizierter Umgang mit der Software die
Zufriedenheit bei den Anwendern mindern, besonders bei Ärzten. Deren sowieso knappe
Zeit wird durch zu viele Warnungen vergeudet. Sie verzweifeln nicht selten am
„Alert overkill” und den unpraktikablen oder fehlenden Vorschlägen der Software
zur Problemlösung. Die Systeme werden dadurch nicht optimal genutzt oder sogar
ausgetrickst (Umgehungsstrategien). Auch wird der Arbeitsfluss nicht selten durch
die E-Prescription unterbrochen. Es können auch erhebliche Zusatzkosten und
neue Risiken durch Ermüdung und Frustration der Anwender entstehen.
CDSS sollen Ärzten für den einzelnen
Patienten maßgeschneiderte Informationen zur Entscheidungshilfe bei
diagnostischen oder therapeutischen Entscheidungen bieten (vgl. 2). Für
eine gute Funktionalität müssen CDSS auf klinische und demografische Parameter
sowie viele externe Datenbanken (z.B. Risiko-Scores, Behandlungsleitlinien,
Prophylaxeempfehlungen etc.) zugreifen können. Die verfügbaren Systeme sind
entsprechend komplex und extrem unterschiedlich in ihrer Leistungsfähigkeit,
der individuellen Konfigurierbarkeit, ihrer inneren Logik und ihrer
Leistungsfähigkeit. Idealerweise sollte die Arbeit mit einem CDSS die ärztliche
Leistung verbessern (z.B. Erinnerung an Präventionsmaßnahmen, effektivere Wege
zur Diagnose, geringere Verschwendung von Ressourcen, Disease management etc.)
und dadurch auch das Therapieergebnis. Tatsächlich besteht für all diese Punkte
bislang allenfalls nur schwache Evidenz, dass CDSS diesen theoretischen
klinischen Nutzen auch tatsächlich erbringen können. Insbesondere im Bereich wissensbasierter
Systeme scheint die Art der Implementierung und der Einführungsstrategien
dieser Systeme ausschlaggebend für den Gesamterfolg zu sein.
Literatur
- Medical ResearchCouncil: Developing and evaluating complex interventions: new guidance. 29. Sep 2008:

- AMB 2010, 44,49.

- Black, A.D., et al.PLoS Med. 2011, 8, e1000387.

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