Zusammenfassung: Im Februar 2011 erschien als Online-Veröffentlichung
der Zeitschrift Gastroenterology ein Artikel, in dem über eine große Zahl von
Meldungen an das Adverse Event Reporting System (AERS) der US-amerikanischen
Food and Drug Administration zu den unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW)
Pankreatitis und Pankreaskarzinom bei Diabetikern berichtet wurde, die die Inkretinmimetika
Exenatid (Byetta®) und Sitagliptin (Januvia®, Xelevia®)
angewandt hatten (1). Die Meldungen von Pankreatitis unter Exenatid-Therapie
waren ca. zehnmal häufiger als bei Therapie mit anderen Antidiabetika. Das AERS
nimmt nicht nur Meldungen von Ärzten, sondern auch von Patienten entgegen. Über
die Online-Veröffentlichung wurde in vielen Tageszeitungen berichtet. Die
vorgesehene Druckfassung der Arbeit blieb jedoch zunächst aus, nachdem die
Herstellerfirmen Novo Nordisk und Merck (USA) in umfangreichen Schreiben darauf
hingewiesen hatten, dass Meldesysteme wie das AERS nicht geeignet seien, die
Häufigkeit von UAW bei bestimmten Medikamenten zu erfassen. Im Jahr 2007 waren bereits
Einzelmeldungen über Pankreatitiden bei Anwendern von Exenatid durch die
Laienpresse gegangen. Auch sprachen die Zulassungsstudien und spätere
retrospektive Kohortenstudien gegen vermehrtes Auftreten von Pankreatitiden bei
Anwendern von Inkretinmimetika. Über den Schlagabtausch zwischen der
Zeitschrift, den Herstellern und den Autoren berichtete kürzlich das BMJ (2).
Im Juli 2011 ist nun die Druckfassung der Arbeit von Elashoff et al. in leicht
veränderter Form erschienen (3). Wir haben unsere bereits für die April-Ausgabe
des AMB vorgesehene Besprechung überarbeitet. Der Widerspruch zwischen den
Meldungen im AERS und den Ergebnissen der Zulassungsstudien bzw. der nach der
Zulassung durchgeführten Kohorten-Studien zu den UAW von Inkretinmimetika muss
methodische Gründe haben. Wir empfehlen weiterhin, Inkretinmimetika nicht als
Antidiabetika erster Wahl einzusetzen.
Wir haben mehrfach über neue Antidiabetika berichtet,
die als Inkretinmimetika bezeichnet werden (4-8). Exenatid (Byetta®)
und Liraglutid (Victoza®) sind Analoga des intestinalen Hormons Glucagon-like
peptide-1 (GLP1), das nach Nahrungsaufnahme in den Kreislauf gelangt und hämatogen
die Insulinsekretion stimuliert (zusätzlich zum stimulierenden Effekt des
Blutzuckers). Beide Präparate werden s.c. injiziert. Sitagliptin (Januvia®;
Xelevia®), Saxagliptin (Onglyza®) und Vildagliptin (Galvus®,
Jalra®) sind oral einzunehmende Dipeptidyl-Peptidase-Typ-IV(DPP-IV)-Hemmer,
die den Abbau des körpereigenen GLP1 hemmen und damit die postprandiale
Stimulation der Insulinsekretion durch GLP1 verstärken.
Schon bald nach Zulassung von Exenatid wurde über
Einzelfälle von Pankreatitis als mögliche UAW berichtet (5). In der Zeitschrift
Gastroenterology publizierten M. Elashoff et al. aus Los Angeles im Februar
2011 (ahead of print) eine Studie über die Häufigkeit von Meldungen an das Adverse
Event Reporting System (AERS) der US-amerikanischen Food and Drug
Administration (FDA) über Pankreatitis, Pankreaskarzinom, Schilddrüsenkarzinom
und andere Karzinome bei Typ-2-Diabetikern, die bestimmte Antidiabetika
anwandten (1). Der Verdacht bezog sich auf Exenatid und Sitagliptin. Als
Vergleich (Kontroll-Gruppe) dienten Typ-2-Diabetiker, die die oralen
Antidiabetika (OAD) Rosiglitazon (Avandia®, inzwischen vom Markt
genommen, vgl. 9), Nateglinid (Starlix®), Repaglinid (Novonorm®)
oder Glipizid (in Deutschland nicht auf dem Markt) eingenommen hatten. Als
Kontroll-Meldungen (hinsichtlich eines möglichen Zusammenhangs mit der Anwendung
der o.g. Antidiabetika) wurden die Symptomgruppen Rückenschmerz, Harnwegsinfektion,
Thoraxschmerz, Husten und Synkope ausgewählt. Grundsätzlich sind Meldungen an
das AERS von behandelnden Ärzten, aber auch von Patienten möglich, und bei
vielen Meldungen konnte nicht überprüft werden, ob die Diagnosen Pankreatitis,
Pankreaskarzinom oder andere Karzinome auch zutrafen. Meldungen, die von Ärzten
oder Patienten an die pharmazeutischen Hersteller gerichtet wurden, mussten von
diesen per Gesetz an das AERS weitergereicht werden. Im Folgenden beziehen wir
uns auf die im Juli 2011 erschienene Druckfassung des Artikels von Elashoff et
al. (3).
Als Beispiel für die Ermittlung der Odds
Ratios = OR (relatives Risiko für ein Ereignis, wobei eine OR von 1,0
kein erhöhtes Risiko, eine OR von 2,0 ein doppeltes Risiko bedeutet usw.) seien
Meldungen zu Pankreatitis bei Patienten angeführt, die Exenatid spritzten.
Diese Patienten oder deren Ärzte meldeten 971mal Pankreatitis und 1433mal
Kontroll-Ereignisse (s.o., Rückenschmerz etc.). Patienten der Kontroll-Gruppe,
die Rosiglitazon oder andere OAD einnahmen, meldeten 43mal Pankreatitis und 678mal
Kontroll-Ereignisse. Aus dem Quotienten Pankreatitis:Kontroll-Ereignisse ergibt
sich für Exenatid eine OR von 10,68 (s. Tab. 1). Diese hoch-signifikante
OR würde für Patienten unter Exenatid ein ca. 10fach höheres Pankreatitis-Risiko
als bei Kontroll-Patienten anzeigen, wären diese Ergebnisse z.B. in einer prospektiven
doppeltblinden Vergleichsstudie erhoben worden. Da in den USA wie auch in Europa
in der Laienpresse im Jahr 2007 über den Verdacht einer Assoziation von
Exenatid mit Pankreatitis berichtet wurde, könnte das zu erhöhter Aufmerksamkeit
und zu einem sog. „Reporting bias” geführt haben. Allerdings wurde die Zahl der
Patienten, die in den USA Exenatid bzw. Kontroll-Medikamente anwandten, nicht
ermittelt. Somit ist auch das absolute Risiko unbekannt.
Elashoff et al. bewerten ihre Befunde als Warnsignal,
das zu prospektiven Vergleichstudien zu den hier diskutierten Risiken bei Diabetikern
mit und ohne Inkretinmimetika-Therapie führen sollte. Sie berichten über
Tierversuche, in denen Sitagliptin zu vermehrter Zellteilung und zu
Zellmetaplasien in Azini und Ausführungsgängen des exokrinen Pankreas, bei
Ratten auch zu leichten Pankreatitiden geführt habe. Solche Metaplasien könnten
auch Vorstufen eines Pankreaskarzinoms sein. In anderen Studien soll Liraglutid
Schilddrüsentumore induziert haben. Engel et al. von der Firma Merck (USA)
konnten die erwähnten Ergebnisse von Tierversuchen mit Sitagliptin nicht
bestätigen (10). In ihrer Veröffentlichung wurden auch die UAW von Sitagliptin und
anderen Antidiabetika bei über 10.000 Diabetikern in kontrollierten
randomisierten Studien bis zu zwei Jahren Dauer mitgeteilt. Es ergab sich das
gleiche Risiko für Pankreatitis bei Anwendung von Sitagliptin wie von Kontroll-Medikamenten
oder Plazebo (0,08 vs. 0,10 Ereignisse pro 100 Patientenjahre).
Garg et al. von der Harvard- Universität in Boston (11)
führten nach Bekanntwerden der ersten Meldungen über einen möglichen
Zusammenhang zwischen Inkretinmimetika und Pankreatitis eine umfangreiche
retrospektive Studie durch, in der medizinische Daten und Medikamentenverordnungs-Daten
der „Medco National Integrated Database” von 786.656 Patienten ausgewertet
wurden. Für Nicht-Diabetiker, Diabetiker unter Behandlung mit herkömmlichen OAD,
Exenatid-Patienten und Sitagliptin-Patienten ergab sich folgende Pankreatitis-Häufigkeit
pro 1.000 Patientenjahre: 1,9; 5,6; 5,7; 5,6. Das heißt, Typ-2-Diabetiker haben
bereits per se ein 2-3fach höheres Pankreatitis-Risiko als Nicht-Diabetiker,
eine Tatsache, die lange bekannt ist. Es wurden aber keine Unterschiede
zwischen den Therapiegruppen gefunden. Diese Studie wurde offenbar nicht von Herstellerfirmen
von Inkretinmimetika initiiert oder unterstützt.
In einer neueren Studie evaluierten Dore et al. (12) aus
Providence und Boston, USA, Einträge der „Normative Health Information” (NHI)
database eines kommerziellen Krankenversicherungs-Unternehmens. 25.719
Diabetiker ohne Pankreatitis-Vorgeschichte hatten zwischen Juni 2005 und
Dezember 2007 eine Therapie mit Exenatid begonnen (Gruppe 1). 234.536
Diabetiker hatten die Behandlung mit anderen Antidiabetika begonnen (Gruppe 2).
Patienten der Gruppe 1 waren angeblich adipöser und hatten mehr Ko-Medikation
als die der Gruppe 2. In Gruppe 1 ereigneten sich 40, in
Gruppe 2 254 bestätigte Fälle von akuter Pankreatitis bis zum Ende der
Auswertung Ende März 2008. Das Relative Risiko (RR) für Patienten der
Gruppe 1 bei „Current use” (aktueller Anwendung) von Exenatid wurde mit 0,5
(95%-Konfidenzintervall = CI: 0,2-0,9) berechnet, für „Re
cent use” (berechnetes Aufbrauchen der letzten
verschriebenen Packung plus 31 Tage) mit 1,1 (CI: 0,4-3,2) und für „Past
use” (mehr als 32 Tage nach Aufbrauchen der letzten Packung) mit 2,8
(CI: 1,6-4,7). Nach einer „Case-control analysis” erniedrigten sich die RR
für current bzw. recent bzw. past use auf 0,2 (CI: 0-1,4) bzw. 0,1
(CI: 0-1,3) bzw. 1,1 (CI: 0,1-11) im Vergleich mit Gruppe 2. Die
Autoren schließen aus den Befunden, dass der Gebrauch von Exenatid nicht mit
erhöhter Inzidenz von akuter Pankreatitis assoziiert ist. Die einfache
rechnerische Beziehung zwischen den o.g. Patientenzahlen und diagnostizierten
Pankreatitiden würde jedoch im Beobachtungszeitraum für Gruppe 1 einen
Pankreatitisfall auf 643, für Gruppe 2 einen Fall auf 923 Patienten
ergeben. Diese Arbeit wurde über ein „i3 drug safety”-Programm der Firma Amylin
Pharmaceuticals, Inc. gefördert, und zwei Autoren sind Mitarbeiter dieser
Firma.
Elashoff et al. (3) widmen einen erheblichen Teil in
der Diskussion ihrer Arbeit der Besprechung und Relativierung der methodischen
Schwächen. Sie diskutieren auch ausführlich die Ergebnisse von Tier- und In-vitro-Versuchen.
Die Prüfung eines Zusammenhangs zwischen der Anwendung von Inkretinmimetika und
Schilddrüsenkrebs geht auf Versuche der Firma Novo Nordisk an Mäusen zurück,
die nach Anwendung hoher Dosen Liraglutid bei dieser Spezies vermehrt C-Zell-Karzinome
der Schilddrüse fand (13). In der Meldeliste der AERS wurde aber nicht zwischen
C-Zell-Karzinomen und den viel häufigeren von Thyreozyten ausgehenden
Karzinomen unterschieden.
Insgesamt beurteilen wir die Methodik von Elashoff et
al. (3), ungeprüfte UAW-Meldungen von Ärzten und Patienten als Basis für die
Berechnung von Relativen Risiken zu benutzen, als problematisch, auch wenn „Kontrollen”
von unklarem Wert als Vergleich herangezogen werden. Risikohinweise
hinsichtlich Pankreatitis bei Anwendung von Inkretinmimetika sind inzwischen in
allen Werbungen, Fachinformationen und Packungsbeilagen für diese Antidiabetika
Pflicht. Die hier besprochene Veröffentlichung fügt dem nichts Substanzielles
hinzu. Die drei zitierten Auswertungen prospektiver und retrospektiver Studien
sprechen gegen ein erhebliches Pankreatitisrisiko bei Anwendung von Exenatid
und Sitagliptin, auch wenn man bei Urheberschaft bzw. finanzieller
Unterstützung zweier dieser Untersuchungen durch pharmazeutische Hersteller
skeptisch bleiben muss.
Wir wissen nicht, ob Inkretinmimetika bei
Langzeitanwendung Morbidität und Letalität von Patienten mit Diabetes mellitus
Typ 2 verringern. Das trifft - vermutlich mit Ausnahme von Metformin - auch
auf andere Antidiabetika zu. Fast alle Inkretinmimetika sind mit
Anwendungsbeschränkungen zugelassen worden, die unbedingt beachtet werden
müssen. Wir empfehlen die primäre Behandlung mit länger bekannten
Antidiabetika, wenn Umstellung der Ernährung und mehr Bewegung nicht ausreichen,
und ein immer waches Auge auf mögliche UAW.
Die Druckfassung der Arbeit von Elashoff et al. (3)
wird von einem ausführlichen und kompetenten Editorial mit dem Titel „GLP-1-Based
Therapies: The Dilemma of Uncertainty” begleitet (14). Die Autoren sind J.
Spranger, U. Gundert-Remy und T. Stammschulte aus Berlin. Zwei der Autoren sind
Mitglieder der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Pankreatitis,
Pankreaskarzinom, Schilddrüsenkarzinom und mögliche Karzinogenese allgemein
unter dem Einfluss von Inkretinmimetika werden ausführlich besprochen und daran
erinnert, dass es lange gedauert hat, bis die unerwünschten kardiovaskulären
Wirkungen schließlich zur Marktrücknahme von Rosiglitazon geführt haben. Der letzte Satz dieses Editorials lautet:
”Two thoughts remain: Primum non nocere and vigilance equals avoidance”.
Literatur
- Hawkes, N.: BMJ 2011, 342,d2335.

- Elashoff, M., et al.:Gastroenterology 2011, 141, 150.

- AMB 2007, 41,50.

- AMB 2007, 41,88.

- AMB 2009, 43,01.

- AMB 2009, 43,06.

- AMB 2010, 44,65.

- Elashoff, M., et al.:Gastroenterology, online 1. Feb. 2011.
- AMB 2010, 44, 78a.

- Engel, S.S., et al.: Int.J. Clin. Pract. 2010, 64, 984.

- Garg, R., et al.:Diabetes Care 2010, 33, 2349.

- Dore, D.D., et al.:Diabetes Obes. Metab. 2011, 13, 559.

- Victoza® (Liraglutideinjection): Human relevance of rodent thyroid C-cell tumors. 2009;
(Zugriff 21.7.2011).
- Spranger, J., et al.:Gastroenterology 2011, 141, 20.

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