Zusammenfassung: Bei Analyse einer großen britischen
Hausärzte-Datenbank mit mehr als 60.000 älteren Patienten mit Depression fand
sich unter der Behandlung mit Antidepressiva (AD) statistisch eine deutliche
Assoziation mit erhöhter Sterblichkeit sowie vermehrt Suizidversuchen, Stürzen,
Frakturen und Hyponatriämie. Dabei schnitten die bei älteren Menschen als
sicherer geltenden selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) und neueren anderen Antidepressiva (AAD) zum Teil erheblich
schlechter ab als die im Alter als inadäquat geltenden nichtselektiven Monoamino-Wiederaufnahme-Hemmer
(NSMRI; früher: trizyklische Antidepressiva),
möglicherweise weil diese im Mittel relativ niedrig dosiert wurden. Die
Ergebnisse dieser retrospektiven Kohortenstudie beweisen zwar keine Kausalität,
sollten jedoch mahnen, AD speziell bei älteren Patienten immer kritisch und von
gutem Monitoring begleitet zu verordnen, zumal ihre Wirkung bei leichten und
mittelschweren Depressionen nicht größer ist als die von Plazebo. Primum nil
nocere!
Die Prävalenz von Depressionen im höheren Lebensalter
wird auf 8-10% geschätzt. Frauen sind häufiger betroffen als Männer.
Komorbiditäten wie Schmerzen, Demenz, Schlaganfall und bestimmte soziale
Umstände, wie z.B. Vereinsamung, erhöhen das Risiko für Depressionen. Bei
Menschen in Pflegeheimen sollen depressive Symptome bei bis zu 50% und schwere
Depressionen bei 15-20% vorkommen (1). Vor diesem Hintergrund gehören AD
mittlerweile zu den am häufigsten verschriebenen Arzneimitteln bei älteren
Menschen überhaupt. Neben depressiven Störungen werden AD aber auch bei Angst-
und Zwangsstörungen, chronischen Schmerzen, Essstörungen und zur
Raucherentwöhnung eingesetzt. Sie sind offenbar das Allheilmittel der letzten
20 Jahre mit massiven jährlichen Verordnungssteigerungen. Die Verordnungen in
Deutschland betrugen in Tagesdosen (DDD) 2001/2010: SSRI: 256/530 Mio. DDD, NSMRI:
256/294 Mio. DDD, Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Inhibitoren (SNRI):
16/149 Mio. DDD (3). Die Autoren des diesjährigen Arzneiverordnungs-Reports
fordern deshalb auch, dass geklärt werden muss, wer diese steigenden
Antidepressiva-Mengen an wen und wofür verordnet (3).
Die „Responderquote” der AD-Therapie liegt zwischen
50% und 70% - je stärker die Depression, desto größer der Effekt. Aber auch durch Plazebo kann bei 30% bis 40% der Patienten
eine Besserung erzielt werden. Klinisch relevante Unterschiede zwischen AD und
Plazebo sind praktisch nur bei den schweren Formen der Depressionen nachgewiesen
(2, 3, 8).
Nach Zahlen der oberösterreichischen Gebietskrankenkasse
erfolgten 20% aller Neuverordnungen von AD im Jahre 2009 bei Menschen über 70
Jahren (4). Dabei wurden zu 61% SSRI, zu 5% NSMRI und zu 34% AAD verordnet, z.B. Mianserin, Trazodon,
Mirtazapin, Venlafaxin, Milnacipran, Duloxetin. Über zwei Drittel der
Erstverschreibungen stammen von Hausärzten und nicht von Psychiatern (5).
Patienten, die wegen einer Depression in der Hausarztpraxis behandelt werden,
leiden jedoch ganz überwiegend an leichteren Formen, bei denen in Studien kein
Vorteil gegenüber Plazebo nachgewiesen ist (2, 3, 8).
Da keine gravierenden Wirkunterschiede zwischen
den über 50 zugelassenen AD nachgewiesen sind und wegen des hohen
Plazebo-Effekts auch kaum nachweisbar sein dürften, sollte die Wahl eines AD,
gerade bei älteren Patienten, vorzugsweise nach dem Nebenwirkungsprofil
erfolgen. Über die unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) von AD bei älteren
Menschen ist aber leider wenig bekannt. In den so genannten PIM-Listen (Potenziell
inadäquate Medikamente; z.B. PRISCUS-Liste), in denen Arzneimittel benannt
werden, die im höheren Lebensalter mehr Gefahren als Nutzen haben, werden von
Experten die NSMRI
(„trizyklischen Antidepressiva”) wegen ihrer peripheren und zentral
anticholinergen Eigenschaften als gefährlich eingeordnet und eher SSRI oder AAD
empfohlen (6). Diese Empfehlungen basieren jedoch nur auf geringer Evidenz, da in
den klinischen Studien zu AD ältere Patienten erheblich unterrepräsentiert oder
gar nicht einbezogen sind. Zudem beträgt in Studien zu AD die Behandlung oft nur
wenige Wochen, dagegen findet im realen Leben bei Älteren oft eine jahrelange
Dauertherapie statt, die im Sinne einer Erhaltungstherapie bzw. Stabilisierung
der Remission bei vielen Patienten auch durchaus leitliniengerecht sein kann.
Etwas Licht in diese Finsternis bringt
nun eine große retrospektive Kohortenstudie aus Großbritannien. Die Arbeit
wurde aus öffentlichen Geldern im Rahmen des „United Kingdom’s National Institute of Research
Health Technology Assessment Program” finanziert
(7).
Bei dieser Studie wurden aus der „QResearch primary
care research database”, einer großen Hausärzte-Datenbank, mehr als 88.000
Patienten über 65 Jahre identifiziert, bei denen zwischen 1996 und 2007 die
Diagnose „Depression” gestellt wurde (Indexdiagnose). 27.900 Patienten wurden
ausgeschlossen, weil sie weitere psychiatrische Diagnosen hatten (Psychosen,
Schizophrenie) oder weil sie schon lange an einer depressiven Erkrankung litten
und mit AD vorbehandelt waren.
60.746 Patienten aus 570 Arztpraxen wurden so bis
Ende 2008 über eine mediane Zeit von fünf Jahren ab Diagnosestellung in den
Krankenakten (305.188 Personenjahre) retrospektiv verfolgt. Das mittlere Alter
betrug 75 Jahre und 66,7% waren Frauen. Der Schweregrad der Depression war
leider aus der Datenbank nicht ersichtlich, jedoch Komorbiditäten und Komedikation.
Nach Diagnosestellung erhielten 89% der Patienten
mindestens einmalig eine AD-Verordnung, nur 11% wurden nicht medikamentös
behandelt. 11% erhielten einmalig ein AD und 11% mehr als 60 Verschreibungen.
Die mediane AD-Exposition betrug 364 Tage. 55% erhielten einen SSRI, 32% einen
NSMRI und 13% ein neueres AD. Die 11 am häufigsten verordneten Medikamente
waren: Citalopram, Fluoxetin, Amitriptylin, Dosulepin, Paroxetin, Venlafaxin,
Sertralin, Mirtazapin, Lofepramin, Escitalopram und Trazodon. Diese AD machten
96% aller Verordnungen aus.
Auffallend war, dass die AD, insbesondere die NSMRI,
sehr häufig in niedrigerer Dosis als es den üblichen Empfehlungen für
Erwachsene entspricht, verordnet wurden. 70% der NSMRI-Verordnungen
unterschritten die empfohlene Tagesdosis um 50% und mehr. Eine relativ niedrige
Dosierung fand sich auch bei 13,8% der SSRI und bei 19,2% der anders
klassifizierten AD. Im Hinblick auf die oft reduzierte Leberfunktion bei
älteren Patienten mag dies sinnvoll sein, jedoch könnte nur das regelmäßige
Messen der Arzneimittelspiegel (Therapeutic Drug Monitoring = TDM) hier weitere
Klarheit schaffen (9).
Beim Vergleich der UAW (s. Tab. 1) mit und
ohne AD-Exposition innerhalb der Kohorte zeigte sich, dass die Raten erheblich
differierten. In den Behandlungsphasen nahmen die UAW teilweise erheblich zu.
So stieg die Jahresletalität von 7% ohne AD auf teilweise über 11% mit AD an.
Die Suizidrate vervierfachte sich, das Risiko für Schlaganfall, Sturz, Fraktur
und Hyponatriämie erhöhte sich um 20-50%. Die meisten UAW traten innerhalb der
ersten vier Wochen nach Beginn und in den ersten vier Wochen nach Ende der
Behandlung auf.
Zwischen den verschiedenen AD-Gruppen gab es teilweise
erhebliche Unterschiede bei den UAW. So hatten Patienten unter NSMRI wesentlich
weniger klinische Ereignisse als die Patienten, die mit einem SSRI oder einem AAD
behandelt wurden. Auch wurde bei den SSRI und den NSMRI eine positive
Korrelation zwischen der gewählten Dosis und dem Auftreten einer UAW (Tod, Stürze,
Krampfanfälle) gefunden.
Es liegt der Verdacht nahe, dass der bessere bzw. schlechtere
klinische Verlauf etwas mit den gewählten AD zu tun hat. Unter SSRI war das Risiko
für Stürze und Hyponatriämie, bei den AAD das Risiko für Tod, Suizid,
Myokardinfarkt, Frakturen und Krampfanfälle am höchsten. Die drei AD, unter denen
es am häufigsten zu UAW kam, waren Trazodon, Mirtazapin und Venlafaxin.
Besonders überrascht hat der Befund, dass NSMRI
scheinbar verträglicher waren als die anderen, neueren AD. Dass 70% der
Patienten weniger als 50% der empfohlenen NSMRI-Tagesdosis erhielten, könnte
hier das günstigere Abschneiden erklären.
Es ist zu bedenken, dass es sich bei diesen Register-Ergebnissen
lediglich um eine Assoziation zwischen dem Gebrauch bestimmter AD und
klinischen Ereignissen handelt. Eine Kausalität ist damit nicht bewiesen. Andererseits
sind randomisierte kontrollierte Studien, die verlässlich auch seltene UAW
erfassen, praktisch nicht durchführbar. Es wäre z.B. denkbar, dass SSRI oder AAD
besonders häufig solchen Patienten verordnet wurden, die bereits ein höheres
Komplikationsrisiko hatten. Solch ein Behandlungsbias lässt sich nur im Rahmen
einer prospektiven, randomisierten, kontrollierten Studie ausschalten. Die Risikoadjustierung
in dieser Studie beseitigt diesen Bias nicht ganz. Auch könnte der leider nicht
dokumentierte und daher auch nicht bekannte Schweregrad der Depressionen bei Behandlungsbeginn
die unterschiedlichen Komplikationsraten bestimmter AD erklären. Möglicherweise
sind Patienten mit schweren Depressionen bevorzugt und höher dosiert mit SSRI oder
den AAD behandelt worden. Auch ist die Gruppe von Patienten, die keine AD verordnet
bekommen hat, und als Kontrolle diente, vergleichsweise klein. Trotz dieser methodischen
Bedenken ist aber festzuhalten, dass der Einsatz von AD im höheren Lebensalter
wohlüberlegt sein muss, insbesondere bei leichten und mittelschweren Depressionen.
Gerade bei älteren Menschen kommt dem regelmäßigen, sorgfältigen Monitoring der
Therapie (inkl. TDM), die sich auf gute pharmakologische und klinische Kenntnisse
stützen sollte, eine große Bedeutung zu. Auch die Beherzigung der alten
Empfehlung, generell nur wenige und nur solche Arzneimittel zu verordnen, mit
deren Eigenschaften man gut vertraut ist, trägt sicher zur Sicherheit der Therapie
bei.
Literatur
- Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2009:

- AMB 2010, 44,33.

- Lohse, M.J., undMüller-Oerlinghausen, B., in Schwabe, U., und Paffrath, D. (Hrsg.):Arzneiverordnungs-Report 2011. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg, 2011. S.813.
- vertragspartner.ooegkk.at/mediaDB/753696_Antidepressiva.pdf

- http://www.hauptverband.at/...

- Holt, S., et al.:Dtsch. Arztebl. Int. 2010, 107,543.

- Coupland, C., et al.: BMJ2011, 343, d4551.

- http://www.akdae.de/Arzneimitteltherapie/AVP/Archiv/20113.pdf

- Hiemke, C., et al.:Pharmacopsychiatry 2011, 44, 195.

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