Zusammenfassung: Im Jahr 2010 wurden in Deutschland insgesamt
dreiundzwanzig Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen eingeführt, also weniger als
2009. Fünf haben eine innovative Struktur bzw. ein neuartiges Wirkprinzip mit
therapeutischer Relevanz (Kategorie A nach Fricke; s. Tab. 1). Bei
neun besteht eine Verbesserung pharmakodynamischer oder pharmakokinetischer
Wirkprinzipien. Zehn sind Analogpräparate ohne wesentliche Vorteile und bei
einem ist das Wirkprinzip nicht ausreichend geklärt. Zwei Wirkstoffe sind zwei
Kategorien zugeordnet. Wir übernehmen diese im Arzneiverordnungs-Report (AVR)
übliche Einordnung bzw. Charakterisierung, denn sie ist prägnant und ermöglicht
Vergleiche von Jahr zu Jahr. Auch 2010 hat sich der Trend des letzten
Jahrzehnts bestätigt: von den pharmazeutischen Unternehmen kamen weniger
Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen und insgesamt wenige mit therapeutisch
relevantem Fortschritt.
Wie in den Vorjahren beginnen wir den neuen Jahrgang des
ARZNEIMITTELBRIEFS mit einer tabellarischen Übersicht der neu zugelassenen
Arzneimittel (s. Tab. 1). Die Tabelle stützt sich auf Angaben im AVR
2011 (1). Er ist im Oktober des vorigen Jahres erschienen und stellt die neu
zugelassenen Arzneimittel des Jahres 2010 vor sowie die Zahl ihrer Verordnungen
zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in den ersten Monaten nach
der Zulassung. Die neuen Wirkstoffe werden außerdem bewertend kategorisiert
(nach Fricke, s. Tab. 1), ihre Preise angegeben und mit der
vorhandenen Standardtherapie verglichen. Der AVR berichtet außerdem, nach
Indikationen gegliedert, über alle Verordnungen zu Lasten der GKV. So ergibt
sich in jedem Jahr eine vollständige Dokumentation über die von Kassenärzten
verordneten Arzneimittel in Deutschland.
Von den fünf Arzneimitteln mit innovativer Struktur und
therapeutischer Relevanz (Kategorie A nach Fricke) sind zwei für seltene
Krankheiten (Orphan drugs) unter außergewöhnlichen Umständen zugelassen:
Amifampridin (Firdapse®) für das
Lambert-Eaton-Myasthenische Syndrom und Histamin in Kombination mit
Interleukin-2 (IL-2) für die Erhaltungstherapie bei akuter myeloischer Leukämie
(AML) in erster kompletter Remission (s. Tab. 1). Amifampridin wurde
bereits seit mehr als 20 Jahren ohne formale Zulassung zur Behandlung des
Lambert-Eaton-Myasthenischen Syndroms eingesetzt. Die Zulassung durch die
European Medicines Agency (EMA) basiert auf klinischen Studien mit dem
Rezepturarzneimittel (3,4-Diaminopyridin), die vom pharmazeutischen Hersteller
von Firdapse® vorgelegt wurden
(1). Die sehr hohen Therapiekosten für Firdapse® wurden deshalb auch zu Recht in einem
Leitartikel des BMJ scharf kritisiert (2). Histamin wurde 2008 nach zunächst
negativer Beurteilung durch den wissenschaftlichen Ausschuss (CHMP) der EMA
unter außergewöhnlichen Umständen zugelassen. Dies bedeutet, dass in weiteren
klinischen Studien die Wirksamkeit von Histamin in Kombination mit IL-2 in der
Erhaltungstherapie der AML bestätigt werden muss. Das ist jedoch bisher nicht
geschehen. Dieses Therapieprinzip spielt in Deutschland bei der Behandlung der
AML deshalb auch keine Rolle. Die Ergebnisse der bisher einzigen, bereits 2003
abgeschlossenen Phase-III-Studie an 320 erwachsenen Patienten hatte eine
Verlängerung des Leukämie-freien Überlebens, nicht jedoch des Gesamtüberlebens
durch Histamin plus IL-2 gezeigt. Dabei war jedoch keine Stratifizierung
entsprechend der heute als prognostisch relevant geltenden genetischen
Veränderungen vorgenommen worden (3). Die Tagestherapiekosten für 1 mg
Histamin betragen 196,26 €! Dabei kostet Histamin als Labor-Chemikalie nur
6 Cent/mg. Am 9.12. 2011 ist ein Rote-Hand-Brief wegen
Partikelverunreinigung in der Durchstechflasche erschienen (4). Beide
Beispiele, Amifampridin und Histamin, verdeutlichen die absurden Folgen des
Preisdiktats der Hersteller bei neuen Arzneimitteln. Die im Jahr 2010 neu
zugelassenen Arzneimittel haben noch einmal gezeigt, wie dringend notwendig das
Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarkts in der GKV (AMNOG; vgl. 5) war.
Neun Arzneimittel
haben verbesserte pharmakodynamische oder pharmakokinetische Eigenschaften (Kategorie
B nach Fricke). Davon fallen drei dadurch auf, dass sie nicht teurer sind
als die, die sie ersetzen könnten. Das sind der Meningokokken- und der
Pneumokokken-Impfstoff sowie der bronchodilatierende, lang wirkende
Beta-Agonist Indacaterol. Diese drei könnten in Zukunft häufiger eingesetzt
werden. Andere dagegen haben so seltene Indikationen oder sind
Spezialpräparate, dass sie von niedergelassenen Ärzten nicht oder äußerst
selten verordnet werden. Hierzu zählen: Conestat alfa (hereditäres Angioödem),
Eltrombopag (chronische immunthrombozytopenische Purpura; 6), Ofatumumab
(refraktäre chronische lymphatische Leukämie; 7, 8), und Vernakalant (akutes
Vorhofflimmern; 8). Bei Wirkstoffen in dieser Kategorie sind teilweise auch
Wirksamkeit und Sicherheit unzureichend belegt, z.B. Ofatumumab (7, 8),
Roflumilast (8, 9), Vernakalant (8) und/oder sie sind sehr teuer: Eltrombopag
(6), Ofatumumab (7, 8), Conestat alfa und Corifollitropin alfa.
Das Gesetz zur
Neuordnung des Arzneimittelmarkts in der GKV (AMNOG; vgl. 5), trat am
1.1.2011 in Kraft. Es verlangt insbesondere (a) die Bewertung des Zusatznutzens
gegenüber der Vergleichstherapie, (b) des Ausmaßes des Zusatznutzens und (c) seiner
therapeutischen Bedeutung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) oder das
vom G-BA beauftragte Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im
Gesundheitswesen (IQWiG). Der G-BA stellt die Nutzenbewertung zur schriftlichen
und mündlichen Anhörung zur Verfügung, an der sich unter Anderen die
Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) beteiligt. Neue
Wirkstoffe ohne therapeutische Verbesserung sollten nach Möglichkeit in eine
Festbetragsgruppe mit pharmakologisch-therapeutisch vergleichbaren
Arzneimitteln eingeordnet werden. Ansonsten wird der Erstattungsbetrag zwischen
pharmazeutischem Hersteller und GKV-Spitzenverband verhandelt – sowohl bei
neuen Arzneimitteln ohne Zusatznutzen und ohne Festbetragsgruppe als auch bei
neuen Arzneimitteln mit Zusatznutzen (5).
Zehn neue Arzneimittel sind als Analogpräparate mit keinen
oder nur geringen Unterschieden in der Wirksamkeit im Vergleich zur
Standardtherapie eingruppiert worden (Kategorie C nach Fricke). Der
Erstattungsbetrag für diese Wirkstoffe ohne Zusatznutzen orientiert sich in
Zukunft gemäß AMNOG an der zweckmäßigen Vergleichstherapie oder den
Festbetragsregelungen (5). In beiden Situationen können somit auch die Preise
von Generika - sofern mit ihnen die jeweilige Standardtherapie möglich ist -
den Preis neuer Analogpräparate beeinflussen.
Acht der zehn neuen
Arzneimittel, die nach Fricke in Kategorie C eingestuft sind, lassen keinen
relevanten Zusatznutzen erkennen. Noch sind die meisten Analog-Präparate mit
neuen Wirkstoffen deutlich teurer als die zweckmäßige Vergleichstherapie
(s. Tab. 1). Das wird es in dieser Form hoffentlich bald nicht mehr
geben, wenn in Zukunft der Erstattungsbetrag anhand der zuvor genannten
Kriterien verhandelt oder festgelegt wird und auch bei Analogpräparaten ohne
therapeutische Verbesserung, die vor 2011 zugelassen wurden, der G-BA eine
Nutzenbewertung veranlasst.
Insgesamt hat man
bei 17 der 23 neuen Wirkstoffe den Eindruck, dass der Unterschied in der
Wirksamkeit - verglichen mit der Standardtherapie - gering ist, der
Preisunterschied jedoch erheblich. Aussagen zum Zusatznutzen neuer Arzneimittel
sind zum Zeitpunkt der Zulassung häufig nicht möglich, denn in etwa 50% der
Studien erfolgte kein Vergleich mit einem aktiven Wirkstoff. Sehr häufig wird
Gleichwertigkeit oder sogar eine „nicht nachgewiesene Unterlegenheit” gegenüber
dem Kontrollarm als ausreichender Beleg für die Wirksamkeit des neuen
Arzneimittels akzeptiert (5). Auch können durch geschicktes Auswählen der
Dosierungen, der Vergleichstherapie, der Endpunkte der Behandlung sowie der
Dauer der Studie statistisch zwar signifikante, für Patienten jedoch
irrelevante Unterschiede in der Wirksamkeit erreicht bzw. vorgetäuscht werden
(10). Für solches Vorgehen gibt es auch in diesem Jahr wieder einige Beispiele.
Das Schmerzmittel Tapentadol (11) wurde nicht mit dem chemisch ähnlichen
Tramadol verglichen und nicht bei der klinisch wichtigen Indikation
Tumorschmerzen getestet. Das schnell wirkende Antiarrhythmikum Vernakalant (8)
wurde mit dem langsam wirkenden Amiodaron verglichen und Roflumilast (9) mit
Plazebo und nicht mit Theophyllin. Die klinische Bedeutung der in den
Zulassungsstudien als statistisch signifikant nachgewiesenen Wirksamkeit ist
somit auch bei diesen Wirkstoffen unklar. Nur an Hand klinischer Studien nach
der Zulassung im engen Kontext mit unabhängigem ärztlichem Sachverstand kann
deren klinische Relevanz besser beurteilt werden.
Aussagen zu
Sicherheit und unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) neuer Wirkstoffe sind
in Zulassungsstudien nur sehr eingeschränkt möglich, da aufgrund der
Patientenzahlen und in der Regel kurzen Studiendauer bzw. Nachbeobachtung fast
ausschließlich (sehr) häufige und akut auftretende UAW erfasst werden (5). Die
Häufigkeit schwerer UAW kann deshalb erst bei breiter Anwendung des
Arzneimittels nach der Zulassung erkannt werden. Die sich daraus ergebenden
Probleme verdeutlicht das Beispiel des Klasse-III-Antiarrhythmikums Dronedaron
(12). Dronedaron wurde am 1.1.2010 zugelassen, obwohl bedenkliche kardiale und
hepatische UAW in den Zulassungsstudien beobachtet worden waren. Im September
2011 wurde nach den Ergebnissen der PALLAS-Studie die Fachinformation geändert
und die Anwendung von Dronedaron erheblich eingeschränkt. Die PALLAS-Studie war
wegen schwerer Leberschäden bei einigen Patienten abgebrochen worden. In der
Vergangenheit ist immer wieder bei Arzneimitteln das Ruhen der Zulassung oder
die Marktrücknahme kurz nach dem Marktzugang, teilweise sogar erst mehrere
Jahre nach Zulassung und Behandlung tausender Patienten (13) angeordnet worden,
z.B. bei Lumiracoxib (14) Valdecoxib (15) Rimonabant (16) und Ximelagatran
(17). Bessere Erfassung der Arzneimittelrisiken in Zulassungsstudien,
konsequente Umsetzung der bei Zulassung verfügten Risikomanagement-Maßnahmen
und weitere klinische Studien sind dringend erforderlich, um Schäden durch neue
Arzneimittel zu verringern.
Bei den neu
zugelassenen und auch bei allen anderen patentgeschützten Arzneimitteln stiegen
die Preise pro DDD im Vergleich zum Vorjahr. Demgegenüber gingen die DDD-Preise
bei den Generika zurück. Daraus resultiert - alle Arzneimittel betrachtet - ein
konstanter mittlerer Preis pro DDD. Dennoch nahmen die Gesamtkosten für
Arzneimittel von 28,5 auf 29,7 Mrd. € zu, weil mehr Generika verordnet wurden:
24,7 Mrd. Verordnungen im Jahr 2009 gegenüber 28,1 Mrd. im Jahr 2010.
Verordnungshäufigkeit und Preis der Generika schlagen also bei den Gesamtkosten
stark zu Buche. Generika sind in Deutschland deutlich teurer als in anderen
europäischen Ländern (1). Der Preisvergleich bei den 50 umsatzstärksten
Generika zeigte als Einsparpotenzial in Deutschland eine Differenz von 1,56
Mrd. € im Vergleich zu England. Auswertungen im AVR 2010 (18) hatten ergeben,
dass sie auch in Schweden deutlich billiger sind: 796,1 Mio. €
Einsparpotenzial bei 20 umsatzstarken Generika.
Insgesamt war das
Jahr 2010 wieder mager, was die Zahl der Zulassungen von neuen Wirkstoffen und
den therapeutischen Fortschritt angeht. Die Übersicht (Tab. 1) führt
darüber hinaus an einigen Stellen zum Staunen - über die Zulassungskriterien,
über die zum Teil unverschämte Preiskalkulation und über das
Verordnungsverhalten der Ärzte. Aber Staunen ist nach Plato der erste Schritt
zur Einsicht.
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Literatur
- Schwabe, U., und Paffrath, D.:Arzneiverordnungs-Report 2011. Springer-Verlag Berlin Heidelberg, 2011.
- Ferner, R.E., und Hughes, D.A.: BMJ2010, 341, c6456.

- Brune, M., et al.: Blood2006, 108, 88.

- Rote-Hand-Brief zu Ceplene®(Histamindihydrochlorid) vom 9.12.2011.
- AMB 2010, 44, 25.
AMB 2010, 44, 89. 
- AMB 2011, 45, 60.

- AMB 2011, 45, 20.

- http://www.akdae.de/Arzneimitteltherapie/NA/Archiv-INN/index.html

- AMB 2005, 39, 69b.
AMB 2011, 45, 12. 
- AMB 2010, 44, 39a.

- AMB 2011, 45, 65.

- AMB 2009, 43, 49.
AMB 2010, 44, 08. AMB 2011, 45,24. AMB 2011, 45, 59a. 
- Giacomini, K.M., et al.: Nature2007, 446, 975.

- AMB 2009, 43, 01.

- AMB 2005, 39, 09.
AMB 2005, 39, 38b. 
- AMB 2008, 42, 01.
AMB 2008, 42, 92b. AMB 2010, 44, 78b. 
- AMB 2005, 39, 37.
AMB 2006, 40, 24a. 
- Schwabe, U., und Paffrath, D.:Arzneiverordnungs-Report 2010. Springer-Verlag Berlin Heidelberg, 2010.
- AMB 2009, 43, 79.

- AMB 2006, 40, 19.
AMB 2010, 44, 61a. 
- AMB 2011, 45, 45.

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