Mit zunehmendem Lebensalter nimmt die Leistung der Nieren
und der Leber ab, selbst bei Gesunden. Auch verändern sich die Anteile der verschiedenen
Gewebe an der Gesamtkörpermasse, z.B. wird der Anteil der Muskulatur in der
Regel geringer. Kurzum, Pharmakokinetik und Pharmakodynamik sind im höheren
Alter anders als in jüngeren Jahren (Übersicht bei 1). Häufig bestehen bei
älteren Menschen mehrere Erkrankungen gleichzeitig. Wegen dieser Polymorbidität
wird ihnen auch eine größere Zahl von Arzneimitteln verordnet. So werden in
Deutschland 57% aller kassenärztlichen Verordnungen für Patienten > 65
Jahre ausgestellt, obwohl nur 22% der Krankenversicherten zu dieser
Altersgruppe gehören. Im Mittel erhält jeder ältere Versicherte vom Arzt 3,6 Arzneimittel.
Hinzu kommen oft noch frei verkäufliche Präparate (OTC = Over the counter; 2).
Mit solcher Polypharmakotherapie nimmt aber die Wahrscheinlichkeit von Interaktionen
und unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) rasch zu. Manche Arzneimittel
sind in dieser Hinsicht auch risikoreicher als andere und darum bei älteren
Patienten oft problematisch oder sogar ungeeignet.
Wir haben im Jahr 2005 zwei Veröffentlichungen referiert (3),
in denen US-amerikanische Fachleute über eine Liste von potenziell inadäquaten
Medikamenten (PIM) bei Älteren berichtet haben. Diese so genannte Beers-Liste
(4, 5) führt Arzneimittel des US-amerikanischen Markts auf, hat aber auch
in Deutschland und in Österreich großes Interesse gefunden. Unser Referat endete
damals mit dem Satz: „Vielleicht ist diese Liste auch eine Anregung für
deutsche Geriater, eine adaptierte Liste zu erstellen”.
Eine solche Liste für Deutschland wurde jetzt im Rahmen des
PRISCUS-Projekts (priscus = lat. alt, ehrwürdig) des Bundesministeriums für
Bildung und Forschung erarbeitet (6). Tab. 1 ist eine Kurzfassung der
Liste, sortiert nach Arzneimittelgruppen. In ihr sind neben den Namen der
Arzneistoffe auch die so genannten Risiko-Bewertungsziffern, die Begründung für
die Aufnahme in die Liste und ein Hinweis auf mögliche Behandlungsalternativen
aufgeführt. Einzelheiten finden sich in der Originalarbeit (6).
Für das PRISCUS-Projekt wurden nach einer Literaturrecherche
unter Berücksichtigung der in anderen Ländern schon existierenden Listen, auch
der Beers-Liste, zunächst die verdächtigten Arzneimittel zusammengetragen. Dann
erfolgte eine systematische Befragung zum Risikoprofil dieser Wirkstoffe (6)
bei 26 Fachleuten (modifizierte Delphi-Befragung; 7, 8). Die Experten waren
von den Fachgesellschaften und von der Arzneimittelkommission der deutschen
Ärzteschaft benannt worden. Jeder beurteilte jedes Arzneimittel nach folgender
5-Punkte-Skala: 1 = Arzneistoff sicher potenziell inadäquat für ältere
Patienten; 2 = Arzneistoff potenziell inadäquat für ältere Patienten;
3 = Unentschieden; 4 = Arzneistoff nicht inadäquat für
ältere Patienten; 5 = Arzneistoff sicher nicht inadäquat für ältere
Patienten. Aus den Punktzahlen, die die einzelnen Sachverständigen vergeben hatten,
wurde für jedes Arzneimittel der Mittelwert mit Konfidenzintervall errechnet, d.h.
eine vorläufige Bewertungsziffer. In einem zweiten Durchgang wurden dann die
Arzneimittel, bei denen das Konfidenzintervall des Mittelwerts über 3
hinausging, den Experten erneut zur Bewertung vorgelegt. Überstieg auch in
dieser zweiten Runde das Konfidenzintervall des Bewertungsmittelwerts die Zahl
3, wurde der Arzneistoff als nicht eindeutig beurteilbar klassifiziert und
nicht in die Liste aufgenommen.
Die Bewertungsziffern versuchen, das generelle Risiko des
betreffenden Arzneimittels bei älteren Menschen zu quantifizieren. Je näher die
Ziffer der Zahl 1 ist, desto bedenklicher ist das Risikoprofil, z.B. Ergotamin
1,15; umgekehrt ist bei einer Bewertungsziffer nahe der Zahl 3 ein Zusatzrisiko
praktisch nicht feststellbar, z.B. Digoxin 2,5. Für alle Wirkstoffe werden Alternativtherapien
mit niedrigerem Risiko genannt, es sei denn, es handelt sich um solche mit
grundsätzlich umstrittener Wirksamkeit (z.B. Antidementiva, Vasodilatanzien).
Ein Arzneimittel mit einem auf diese Weise festgestellten höheren Risiko ist
jedoch nicht generell ungeeignet für ältere Menschen. Die individuelle
ärztliche Einschätzung von Nutzen und Risiko ist auch in diesem Fall ausschlaggebend.
Dennoch: die PRISCUS-Liste setzt ein eindrückliches Warnsignal, die aufgeführten
Arzneistoffe nicht unreflektiert einzusetzen. Werden sie trotzdem angewandt,
muss der Patient über die speziellen Risiken aufgeklärt und sein Befinden regelmäßig
kontrolliert werden.
Die Risiko-Bewertungsziffern sind nicht evidenzbasiert, sondern
haben sich aus der oben beschriebenen Einschätzung von Experten ergeben. Die
Eingruppierungen sind jedoch plausibel. Die risikoreicheren Arzneimittel waren
auch vor dem Erscheinen der PRISCUS-Liste für die rationale Therapie in der
Routine wenig geeignet. Die Liste präzisiert und bekräftigt aber die bisher
nicht klar definierte und uneinheitlich begründete Ablehnung dieser Mittel. Behandlungsqualität
und Therapiesicherheit werden messbar durch die PRISCUS-Liste und gefördert,
weil gezeigt wird, was besser gemacht werden kann. Die in der PRISCUS-Liste
aufgeführten Arzneimittel werden in der Praxis (noch) häufig eingesetzt. Das
zeigt eine Analyse der Abrechnungsdaten des Jahres 2007 (2, 11). Von 804.400
mindestens 65 Jahre alten Patienten aus drei gesetzlichen Krankenkassen
erhielten insgesamt 25% mindestens eine „inadäquate” Verordnung, Frauen zu 32%,
Männer zu 23,3%. In Tab. 2 sind die 15 Arzneimittel der Reihenfolge nach
aufgeführt, die am häufigsten inadäquat verordnet wurden. Prävalenz bedeutet hier
die Zahl der Patienten, an die während der Beobachtungszeit (2007) ein Arzneimittel
der PRISCUS-Liste abgegeben wurde pro 1000 Versicherte der Studienpopulation.
Sie mag etwas zu hoch angesetzt sein, weil nicht alle Patienten das erhaltene
Mittel auch wirklich einnehmen. Aber die Prävalenz ist doch erstaunlich hoch.
Wer hätte gedacht, dass mehr als 2% der Versicherten im Alter > 65
Jahre Trimipramin oder Digoxin verordnet bekommen. Insgesamt erscheinen 5%
aller verordneten Arzneimittel auf der PRISCUS-Liste. Neun der 15 häufigsten
sind Psychopharmaka oder Sedativa (s. Tab. 1). Spezielle Auswertungen
nach Alter und Geschlecht zeigen, dass Frauen bzw. Versicherte
> 80 Jahre besonders häufig betroffen sind. Sie erhalten insgesamt
mehr Arzneimittel und damit auch Arzneimittel der PRISCUS-Liste. Das gilt auch
für Digoxin, Nifedipin und Etoricoxib (2, 9). Die Gründe hierfür sind
nicht bekannt. In Deutschland werden PRISCUS-Arzneimittel häufig verordnet (s.
Tab. auf dem Beiblatt). Auch in Österreich gibt es eine Liste potenziell
inadäquater Medikamente (PIM-Liste) bei geriatrischen Patienten (s. Beiblatt).
Häufig werden mehrere Arzneimittel
aus der PRISCUS-Liste gleichzeitig verordnet, auch über längere Zeit. Das zeigt,
dass die Regeln einer rationalen Arzneitherapie bei älteren Patienten noch zu
wenig beachtet werden, aber auch, dass als risikoreich eingeschätzte Arzneimittel
offenbar relativ gut vertragen werden. Wie eng das von den Fachleuten
eingeschätzte pharmakologische Risiko mit den Risiken im Alltag korreliert, z.B.
mit der Häufigkeit von Stürzen und anderen Komplikationen, ist retrospektiv schwer
zu untersuchen und zu beurteilen. In Registern können die demographischen
Daten, Symptome, Therapie und die unerwünschten Ereignisse zwar
zusammengetragen und statistisch zusammengeführt werden. Die Ursachen dieser
Ereignisse, z.B. von Stürzen im höheren Lebensalter, sind aber so vielfältig,
dass es selbst durch komplexe statistische Analysen unmöglich erscheint, die ursächliche
Bedeutung eines einzelnen Arzneimittels genau festzustellen. In Kürze beginnt nun
eine randomisierte kontrollierte Untersuchung, an der sehr viele Hausärztinnen und
Hausärzte mit und ohne PRISCUS-Intervention teilnehmen (10). Es soll geklärt
werden, ob eine solche Intervention einen Einfluss auf die Häufigkeit unerwünschter
Arzneimittelereignisse hat.
Literatur
- Undevia, S.D., et al.: Nat. Rev.Cancer 2005, 5, 447.

- Thürmann, Petra,et al. in: Günster, C., et al.: Versorgungs-Report 2012. Schattauer, Stuttgart.
- AMB2005, 39, 44.

- Beers, M.H.:Arch. Intern. Med.1997, 157, 1531.

- Fick, D.M., etal.: Arch. Intern. Med. 2003, 163, 2716
. Erratum 2004, 164, 298.
- Holt, S., etal.: Dtsch. Arztebl. Int. 2010, 107, 543.

- Fialová,D., et al. (AdHOC = Aged in HOme Care): JAMA 2005, 293,1348.

- Häder, M.(Hrsg.): Delphi-Befragungen. Ein Arbeitsbuch. VS Verlag fürSozialwissenschaften 2002.
- Amann, U., etal.: Dtsch. Arztebl. Int. 2012, 109, 69.

- Thürmann, Petra:persönliche Mitteilung.
- Schubert,Ingrid, et al.: Dtsch. Arztebl. 2012, 109, 215.http://www.aerzteblatt.de/archiv/123988/Verordnungshaeufigkeit-von-nichtretardiertem-Nifedipin-bei-aelteren-Menschen-Betrachtung-eines-Wirkstoffes-der-PRISCUS-Liste?src=search
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