Zusammenfassung: Es wird höchste Zeit, den Schleier
des Geheimnisses um klinische Studienberichte (Clinical
Study Reports) zu lüften. Öffentlich zugängliche,
detaillierte Berichte zu klinischen Arzneimittelstudien - beispielsweise im
Form eines Link im Europäischen Bewertungsbericht (EPAR) zu einem neuen
Wirkstoff - sind unverzichtbar, um Wirksamkeit und Schäden neuer Arzneimittel
methodisch unverzerrt bewerten zu können. Die Evidenz aus publizierten
klinischen Studien reicht häufig nicht aus, ärztliche und gesundheitspolitische
Entscheidungen zu treffen. Dies gilt auch im Hinblick darauf, Patienten
unabhängig zu informieren über Nutzen, aber auch Schäden von Arzneimitteln zur
Prävention und Therapie. Zahlreiche Beispiele aus den letzten Jahren
verdeutlichen, wie pharmazeutische Unternehmen klinische Studienergebnisse
manipuliert haben. Solche Verhaltensweisen werden weder durch die Pflicht, alle
Studien zu Arzneimitteln zu registrieren, zu verhindern sein, noch dadurch,
eine Zusammenfassung der Ergebnisse klinischer Studien zu veröffentlichen (17).
Dies kann nur gelingen, wenn detaillierte Berichte zu klinischen Studien der
Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Den Teilnehmern an einem parlamentarischen
Mittagessen am 6. Juni 2012 im Europäischen Parlament wurden zwei Fragen
gestellt:
1.
Ist es ethisch vertretbar und effizient
für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU), dass Zulassungsbehörden
wichtige Daten der klinischen Forschung wie Geschäftsgeheimnisse behandeln?
2.
Kann die Gesundheit der in der EU
lebenden Bürger wirksam geschützt werden, wenn Daten und Ergebnisse klinischer
Studien nicht öffentlich zugänglich sind, beispielsweise zum Protokoll und zur
Sicherheit von Arzneimitteln?
Die Mehrheit der Teilnehmer an dieser Veranstaltung
unter dem Titel: „Opening up medical
research data for an ethical and efficient EU policy” beantwortete
beide Fragen mit einem eindeutigen NEIN. Peter Gøtzsche,
der Direktor des „Nordic Cochrane
Centre” in Kopenhagen, begründete dieses NEIN: unnötige Todesfälle bei
Tausenden von Patienten jedes Jahr und unnötiges Leiden bei Millionen von
Patienten, die auch aufgrund öffentlich nicht zugänglicher Studiendaten und Publication Bias auftreten. DER ARZNEIMITTELBRIEF und
andere Autoren haben in den letzten Jahren häufiger über Probleme bei neuen
Arzneimitteln berichtet (z.B. Rofecoxib, Rosiglitazon, Reboxetin; 1-3).
Sie betreffen insbesondere:
·
die Bewertung der Wirksamkeit,
·
Verschweigen unerwünschter Ereignisse,
·
manipulierte Studienergebnisse.
Fehlende Transparenz bei klinischen Studiendaten
führt häufig auch zu redundanter, ethisch nicht vertretbarer klinischer
Forschung. Außerdem werden Gelder der Steuerzahler verschwendet – wie zuletzt
auch die Kosten für die Bevorratung und Entsorgung von Tamiflu®
anlässlich der „Schweinegrippe” verdeutlichen (4). Es überrascht deshalb nicht,
dass der Ruf lauter wird, alle Daten klinischer Studien öffentlich zugängig zu
machen. Die Herausgeber führender medizinischer Fachzeitschriften und
Wissenschaftler der Cochrane Collaboration
fordern dies nachdrücklich (5-7), ebenso wie der europäische Ombudsmann und
international renommierte Organisationen: Organization
for Economic Cooperation and Development
(OECD), World Health Organization (WHO) und die
US-amerikanischen National Institutes of Health (NIH; 8).
In den Berichten zu klinischen Studien (Clinical Study Reports, CSRs) sollten sich prinzipiell dieselben Informationen
finden wie in den Publikationen zu den jeweiligen klinischen Studien in
medizinischen Fachzeitschriften, jedoch in ungekürzter Form. CSRs enthalten unter Anderem: eine Zusammenfassung der
Rohdaten, Angaben zum rationalen Hintergrund, zu Methoden und Ergebnissen der
klinischen Studie, Dokumente wie Pläne zur Auswertung, Randomisierung
sowie das Studienprotokoll (9). Aus Rohdaten klinischer Studien entstehen heute
- häufig in undurchsichtigen Verfahren mittels Selektion und Manipulation -
folgende Veröffentlichungen mit ganz unterschiedlicher Länge und
Detailinformation: Poster, wissenschaftliche Kurzfassungen für Kongresse,
Vollpublikationen (9). Die „International Conference
on Harmonisation of Technical
Requirements for Registration of Pharmaceuticals for Human Use” bemüht sich
inzwischen, das Layout dieser CSFs zu standardisieren
und somit die Lektüre bzw. Auswertung für Benutzer freundlicher zu machen (9).
Publikationen des Nordic Cochrane Center in Kopenhagen und der Cochrane
Collaboration in Rom verdeutlichen (7, 9), dass
die CSRs äußerst wichtig sind, um teilweise (noch)
nicht publizierte klinische Studien auszuwerten, zu bewerten und nicht-manipulierte Evidenz zu erhalten.
Peter Gøtzsche und Anders Jørgensen aus Kopenhagen berichteten beeindruckend, wie
schwierig und langwierig es für sie war, von der European Medicines
Agency (EMA) Zugang zu den CSRs über Rimonabant und Orlistat und den
korrespondierenden Protokollen von 15 plazebokontrollierten
Studien zu erhalten (7). Beide Wirkstoffe zur Behandlung der Adipositas sind hinsichtlich Wirksamkeit sowie
unerwünschter Arzneimittelwirkungen sehr umstritten (10, 11). Rimonabant wurde inzwischen vom Markt genommen (12). Am 29.
Juni 2007 baten sie erstmals die EMA um Zugriff auf die CSRs.
Erst am 1. Februar 2011 erhielten sie schließlich die gewünschten Daten –
allerdings erst, nachdem der europäische Ombudsmann eingeschaltet worden war
(7). Der Zugriff auf die Daten wurde von der EMA zunächst mit folgenden
Argumenten verweigert: Schutz der kommerziellen Interessen, kein vorrangiges
öffentliches Interesse, administrativer Aufwand und Wertlosigkeit der Daten
nach Redigieren durch die EMA. Das Verhalten der EMA wurde von den dänischen
Wissenschaftlern als Verstoß gegen die Deklaration von Helsinki kritisiert und
vom Ombudsmann zu Recht wie folgt kommentiert: „Die EMA stellt die
kommerziellen Interessen der pharmazeutischen Unternehmen (pU)
vor den Schutz des Lebens und das Wohlergehen der Patienten” (7).
Wie sehr sich z.B. die Evidenz für die Bewertung von Oseltamivir verändert, wenn nicht publizierte Ergebnisse
klinischer Studien einbezogen und ausgewertet werden, verdeutlichen die
Analysen seitens der Cochrane Collaboration
in Rom zusammen mit US-amerikanischen und australischen Autoren (6, 9).
Dieser seit mehr als einem Jahrzehnt massiv beworbene Neuraminidase-Hemmer
hat Roche Umsätze in Höhe mehrerer Milliarden Euro beschert - trotz marginaler
Wirksamkeit. Die Verwendung von CSRs bei der
Aktualisierung des Cochrane Review
zu Neuraminidase-Inhibitoren zeigt eindrucksvoll und
detailliert die Schwachpunkte der zu Oseltamivir
veröffentlichten Publikationen. Sie wären ohne Einblick in die CSRs vermutlich nie entdeckt worden. Diese neuen
Informationen haben laut Autoren des Cochrane Review „das Verständnis der Wirkungen von Oseltamivir auf den Kopf gestellt” (9) und – vergleichbar
mit Publikationen zu Rosiglitazon, Gabapentin, Rofecoxib – die
wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Wirksamkeit und Sicherheit dieser
Arzneimittel deutlich verändert (13). Schwerwiegende unerwünschte Ereignisse zu
verschweigen und Studienergebnisse verspätet zu publizieren – bei Oseltamivir bis zu zehn Jahre nach Abschluss der Studie –
sind bekannte Strategien der pU, um Wirksamkeit und
Sicherheit ihrer Arzneimittel in ein günstiges Licht zu stellen (14).
Inzwischen hat bei der EMA ein Umdenken eingesetzt
(15, 16), aufgeschreckt vermutlich durch die hartnäckigen Anfragen des Nordic Cochrane Center wegen der
Bereitstellung von CSRs. Autoren der EMA sowie
nationaler europäischer Zulassungsbehörden diskutieren in PLoS
Medicine die aus ihrer Sicht derzeit bestehenden Vor-
und Nachteile einer derartigen, für die EMA neuen Transparenz (16). Dies ist
eine Erwiderung auf die Forderung von P. Doshi et al.
(13), dass es aus moralischen und wissenschaftlichen Gründen geboten ist, CSRs öffentlich zugänglich zu machen. Erfreulich ist, dass
auch führende Wissenschaftler in der EMA klinische Studienergebnisse inzwischen
nicht mehr als kommerziell-vertrauliche Informationen betrachten und betonen,
dass Sponsoren klinischer Studien bzw. regulatorische
Behörden kein Monopol besitzen sollten auf Analyse und Bewertung klinischer
Studienergebnisse. Auch wird nicht (mehr) bestritten, dass öffentlich
zugängliche Rohdaten aus klinischen Studien wichtige zusätzliche Informationen
geben, z.B. für systematische Übersichtsarbeiten und Metaanalysen. Die
Vertreter der EMA stellen zu Recht den Status quo des begrenzten Zugangs zu
klinischen Studienergebnissen, die heute nur den Zulassungsbehörden vorliegen,
infrage. Sie sehen als Problem jedoch weiterhin den Schutz persönlicher Daten
und die auch bei Wissenschaftlern vorliegenden intellektuellen und finanziellen
Interessenkonflikte. Deshalb fordern sie adäquate Standards für den Schutz
persönlicher Daten bei öffentlich zugänglichen CSRs,
die selbstverständlich für alle Arzneimittelstudien gelten sollten - unabhängig
davon, ob sie durch die Industrie, öffentliche Mittel oder Wissenschaftler
gesponsert werden.
Literatur
- AMB2009, 43, 30
; AMB 2011, 45,21 ; AMB 2010, 44, 47 und 78a ; AMB 2010, 44, 33. 
- Eyding, D., et al.: BMJ2010, 341, c4737.

- Wieseler, B., et al.:BMJ 2010, 341, c4942.

- AMB 2009, 43, 28b
und 69a ; AMB 2010, 44, 04 ; AMB 2012, 46, 40DB01. 
- Godlee, F., und Clarke, M.: BMJ 2009, 339, b5351.
Erratum: BMJ 2010, 340,c405.
- Cohen, D.: BMJ 2012, 344, e458.

- Gøtzsche, P.C, und Jørgensen, A.W.:BMJ 2011, 342, d2686.

- Gøtzsche, P.C.: Trials 2011, 12, 249.

- Doshi, P., et al.: BMJ2012, 344, d7898.

- AMB 2007, 41, 65.

- AMB 2000, 34, 09
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- AMB 2010, 44, 78b.

- Doshi, P., et al.: PLoS Med. 2012, 9,e1001201.

- Schott, G., et al.: Dtsch. Arztebl. Int. 2010,107, 279
und 295. 
- Pott, A.: BMJ 2011, 342,d3838 21690163.

- Eichler, H.-G., et al.: PLoSMed. 2012, 9, e1001202.

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