Azetylsalizylsäure (ASS) scheint zu einer Wunderpille geworden zu sein.
Nicht nur für die Prophylaxe verschiedener kardiovaskulärer
Ereignisse, sondern auch für das Kolonkarzinom (1, 2) und andere Malignome
(3) wurde die prophylaktische Wirksamkeit bei Dauereinnahme in niedriger Dosis
beschrieben. Dabei wird manchmal nicht bedacht, dass ASS nicht harmlos ist. Im
Vergleich zu Plazebo ist sie mit einem zwar geringen,
aber deutlich höheren Blutungsrisiko verbunden. Daher wird die Indikation im
Bereich der Primärprävention kontrovers beurteilt (4, 5), auch in
Leitlinien: Amerikanische Fachgesellschaften (American Diabetes Association,
American Heart Association, American College of Cardiology) empfehlen eine Primärprävention mit niedrig
dosierter ASS für Diabetiker mit erhöhtem kardiovaskulären
Risiko (10-Jahres-Risiko vaskulärer Ereignisse
> 10%) und ohne Blutungsrisiko (Blutungsanamnese, Ulkusanamnese, NSAID,
orale Antikoagulation). Die (aktuelleren) Leitlinien
der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie empfehlen hingegen auch für
Diabetiker keine ASS-Primärprophylaxe.
Eine aktuell im JAMA
publizierte italienische bevölkerungsbasierte Kohortenstudie nahm sich vor, das
Blutungsrisiko unter niedrig dosierter Dauergabe von ASS bei Diabetikern und
Nicht-Diabetikern zu untersuchen (6). Es wurden administrative Daten
(Krankenhaus-Entlassungen, Verschreibungs-Datenbanken, Bürgerverzeichnisse von
12 lokalen Gesundheitsbehörden in Apulien) von Personen untersucht, die in
sechs Jahren (2003-2008) erstmals niedrig dosiert ASS (≤ 300 mg/d)
erhalten hatten. Aus einer ersten Kohorte von 241.844 Personen wurden mittels
„1:1-Propensity-Score-Matching” 186.425 ausgewählt und mit einer gleichen Zahl
von Personen ohne ASS-Einnahme verglichen. Eine mediane Nachbeobachtungszeit
von 5,7 Jahren summierte sich zu 1,6 Millionen analysierten Personenjahren.
Insgesamt wurden 6.907 Erstepisoden schwerer Blutungen (Hospitalisierung
erforderlich) erfasst, davon 4.487 gastrointestinale
und 2.464 intrakranielle Blutungen. Für Personen
unter ASS lag die Gesamt-Blutungsrate bei 5,58/1000 Personenjahre
(95%-Konfidenzintervall = CI: 5,39-5,77), für Personen ohne ASS-Einnahme bei
3,6/1000 Personenjahre (CI: 3,48-3,72). Die Raten von Gesamtblutungen sowie gastrointestinalen und intrakraniellen
Blutungen unter ASS waren alle im selben Ausmaß erhöht (Inzidenzverhältnis
1,55; 1,55 bzw. 1,54).
Diabetiker hatten per se ein
signifikant höheres Blutungsrisiko als Nicht-Diabetiker (Inzidenzverhältnis:
1,36). Trotz dieser höheren Blutungsrate steigerte ASS aber die Blutungsrate
bei Diabetikern nicht zusätzlich: 5,35/1000 Personenjahre (CI: 4,97-5,76) ohne
ASS-Einnahme vs. 5,83/1000 Personenjahre unter ASS (CI: 5,36-6,33). Der
erwünschte Effekt von ASS scheint bei Diabetikern ebenfalls moderat zu sein. In
einer älteren Metaanalyse derselben Autorengruppe ergab sich durch ASS in der
Primärprävention bei Diabetikern nur eine nicht-signifikante Reduktion des
kombinierten kardiovaskulären Endpunkts (relative
Risikoreduktion 10%; absolute Risikoreduktion 1,2%; 8). Die Autoren
interpretieren den Befund, dass bei Diabetikern sowohl die erwünschten als auch
die unerwünschten ASS-Wirkungen schwächer sind, als Hinweis auf eine geringere
Hemmung der Thrombozytenaggregation bei Diabetikern,
möglicherweise die Folge eines höheren Thrombozytenumsatzes.
Als weitere Faktoren, die mit
einem höheren Blutungsrisiko assoziiert waren, identifizierten die Autoren in
der aktuellen Studie:
· Hospitalisierung wegen kardiovaskulärer Probleme in der Vorgeschichte (Inzidenzverhältnis 1,29),
· Hospitalisierung wegen gastrointestinaler Probleme in der Vorgeschichte (Inzidenzverhältnis 2,87),
· Einnahme
anderer Thrombozytenaggregationshemmer (Inzidenzverhältnis 1,42),
· Einnahme
oraler Antikoagulanzien (Inzidenzverhältnis
1,31),
· Hypertonie
(Inzidenzverhältnis 1,14),
· männliches
Geschlecht und Alter (Inzidenzverhältnis 1,69).
Hier zeigt sich das von anderen
Gerinnungshemmern bekannte Problem der Überlappung kardiovaskulärer
und blutungsrelevanter Risikofaktoren, d.h. je höher das kardiovaskuläre
Risiko eines Patienten, desto höher ist auch sein Blutungsrisiko einzuschätzen
– insbesondere in unselektierten Patientenpopulationen. Die Einnahme von Statinen oder Protonenpumpeninhibitoren
war hingegen mit einem niedrigeren Blutungsrisiko assoziiert (Inzidenzverhältnis 0,67 bzw. 0,84).
Als weiteres Resultat der
Studie stellte sich heraus, dass die Gesamtrate ASS-assoziierter
Blutungen etwa fünfmal höher war, als aus Daten randomisierter
Studien (vgl. 7) zu erwarten gewesen wäre. Auch das Blutungsrisiko ohne
ASS-Einnahme war viel höher als zuvor angenommen. Die Autoren interpretieren
dies als möglichen Hinweis darauf, dass in einer unselektierten „Real-World”-Population andere Grundvoraussetzungen und
Risiken vorherrschen als in den hochselektierten
Populationen randomisierter Studien. Gleichzeitig
liegt in der bevölkerungbasierten Methodik der Studie
aber auch eine Einschränkung, nämlich dass weitere mögliche Einflussgrößen auf
die Blutungsraten nicht erfasst sind, z.B. Adipositas,
Nikotin- und Alkoholabusus sowie Over-the-counter
NSAID oder ASS. Es konnte auch nicht zwischen Primär- und Sekundärprävention
unterschieden werden, da lediglich hospitalisierungspflichtige
ASS-assoziierte Blutungen erfasst wurden. Auch muss
bedacht werden, dass die Reduktion der Kohorte von 241.844 Personen auf 186.425
mittels „Propensity-Score-Matching” durchaus eine
(andere) Art der Selektion ist und somit keineswegs von einer völlig
„unselektierten” Population gesprochen werden kann.
Fazit: Eine große bevölkerungsbasierte Kohortenstudie zeigt,
dass unter Dauereinnahme niedrig dosierter ASS ein wesentlich höheres gastrointestinales und intrakranielles
Blutungsrisiko bestehen dürfte, als Daten aus randomisierten
Studien ergeben haben. Damit wird die derzeitige Einschätzung der Europäischen
Gesellschaft für Kardiologie gestützt, dass das Risiko-Nutzen-Verhältnis gegen
ASS in der Primärprävention kardiovaskulärer
Ereignisse spricht. Ob Subgruppen ein günstigeres Nutzen-Risiko-Verhältnis
haben, ist nicht klar. So hatten Diabetiker in dieser Studie per se ein
erhöhtes Blutungsrisiko, das unter niedrig dosierter ASS nur sehr geringfügig
weiter anstieg. Dagegen ist niedrig dosierte ASS ein Grundpfeiler der
sekundären Prävention.
Literatur
- AMB 2011, 45, 92b.

- AMB 2010, 44, 94a.

- AMB 2012, 46, 36.

- AMB 2005, 39, 36.

- AMB 2001, 35, 22a.

- De Berardis,G., et al.: JAMA 2012, 307, 2286.

- Baigent, C., et al.(ATT = AntiThrombotic Trialists’ collaboration): Lancet 2009,373, 1849.

- De Berardis,G., et al.: BMJ 2009, 339, b4531.
Erratum: BMJ 2010, 340, c374.
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