„Das Dilemma von Genzyme: Sein
billiges Krebsmedikament (Anmerkung der Redaktion: Alemtuzumab = MabCampath®)
möchte einen potenziellen Blockbuster für Multiple Sklerose kannibalisieren”. Unter
dieser Überschrift berichtete bereits im Jahr 2010 der Journalist Jim Edwards
für CBS Interactive Inc. über einen potenziell neuen Wirkstoff zur Behandlung
der Multiplen Sklerose (MS): Alemtuzumab (MabCampath®; 1). Genzyme,
inzwischen Tochterunternehmen der Sanofi-Gruppe, verspricht sich von diesem monoklonalen
Antikörper (moAk) nach Zulassung durch die European Medicines Agency (EMA) und Food
and Drug Administration (FDA) eine dominierende Rolle im Markt der Arzneimittel
zur Behandlung der MS. Um in dem profitablen Markt der MS – in Deutschland
leben derzeit 130.000 Patienten mit MS und jährlich werden ca. 2.500
Erkrankungen neu diagnostiziert – deutlich höhere Umsätze und Gewinne als
bisher zu erzielen, wurde über Alternativen nachgedacht, den bisher geltenden
Preis von MabCampath® für die Behandlung der chronischen
lymphatischen Leukämie vom B-Zell-Typ (B-CLL) an die veränderte Situation bei
MS (niedrigere Dosis und nur einmal jährliche Verabreichung) anzupassen, d.h.
anzuheben. Inzwischen hat man eine Lösung gefunden: Genzyme (10. August 2012)
und die EMA (14. August 2012) informieren darüber, dass die Europäische
Kommission die von Genzyme freiwillig beantragte Rücknahme der Zulassung von
MabCampath® formell am 8. August 2012 akzeptiert hat (2, 3). In
einem Informationsschreiben betont Genzyme, dass „diese Entscheidung in keiner
Weise aufgrund von Bedenken bezüglich der Sicherheit, Wirksamkeit oder
Lieferbarkeit des Arzneimittels getroffen wurde”, sondern „Genzyme sich zu
diesem Handeln entschlossen hat, weil sich das Unternehmen auf die Entwicklung
von Alemtuzumab in der Behandlung der MS fokussieren wird” (2). Nach Aussage
des pharmazeutischen Unternehmens (pU) soll die Marktrücknahme sicherstellen,
dass bei Patienten mit MS, die nicht im Rahmen der laufenden klinischen Studien
mit Alemtuzumab behandelt werden, ein Off-Label-Use unterbleibt. Ob dieser
Off-Label-Use von Alemtuzumab zurzeit in Deutschland überhaupt stattfindet und
- wenn ja - wie häufig, teilte Genzyme nicht mit. Darüber hinaus räumt Genzyme ein,
dass die Marktrücknahme von Alemtuzumab eine Einschränkung der Therapieoptionen
in den Bereichen bedeutet, in denen der moAk bisher eingesetzt wurde. Deshalb wird
den Ärzten ein „Campath Access Program” (CAP) durch den britischen
Pharmahändler Clinigen angeboten, das Patienten kostenlos Alemtuzumab zur
Verfügung stellt - unter Anderem zur Behandlung der B-CLL und Graft-versus-Host-Erkrankung
(GVHD) nach allogener hämatopoetischer Stammzell-Transplantation. Da es sich
dann um einen Einsatz eines nicht (mehr) zugelassenen Arzneimittels („Unlicensed
Use”) handelt, werden Apotheker und Ärzte mit besonderen Anforderungen bei der Zubereitung
und Verabreichung von Alemtuzumab konfrontiert - Ärzte beispielsweise im Rahmen
der Sicherungs- und Selbstbestimmungsaufklärung des Patienten und der
ordnungsgemäßen Dokumentation der Behandlung (4). Die Fragen der ärztlichen
Haftung, die aus der Marktrücknahme resultieren, werden im Informationsschreiben
des pU mit keiner Silbe erwähnt.
Alemtuzumab war als
Orphan-Arzneimittel seit dem 6. Juli 2001 zugelassen zur Behandlung von
Patienten mit B-CLL – zunächst nur für Patienten, die auf eine Behandlung mit
Fludarabin nicht mehr ansprachen, später auch zur primären Therapie der B-CLL
bei Patienten, für die eine Kombinationschemotherapie mit Fludarabin unangemessen
ist. Der moAk bindet spezifisch an das Glykoprotein CD52, das von B- und
T-Lymphozyten, aber auch Monozyten und Natürlichen Killer-Zellen exprimiert wird
(5). Aufgrund guter Therapieergebnisse nach Gabe von Alemtuzumab gilt der moAk
heute als wichtige, auch in Leitlinien empfohlene Therapieoption, insbesondere
bei der seltenen Untergruppe von B-CLL Patienten mit Deletion 17p oder p53-Mutationen
(6, 7). Im Jahr 2010 lag der Umsatz bei den vertragsärztlichen Verordnungen
von Alemtuzumab bei 0,5 Mio. € (8). Auch im Rahmen der allogenen
hämatopoetischen Stammzell-Transplantation wurde Alemtuzumab, allerdings
zulassungsüberschreitend (Off-Label-Use), mit Erfolg eingesetzt, unter anderem zur
Prophylaxe der GVHD und Behandlung der Kortikosteroid-refraktären akuten GVHD (9, 10).
Die für Patienten und Ärzte sehr
plötzlich erfolgte Marktrücknahme von MabCampath® wurde in der
Öffentlichkeit scharf kritisiert, beispielsweise in einem Newsletter der
Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) und in
Pressemitteilungen des Bundesverbands Deutscher Krankenhausapotheker e.V.
(ADKA) sowie der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO) (11-13).
Seit 1991 werden klinische
Studien mit Alemtuzumab zur Behandlung von Patienten mit MS durchgeführt, zunächst
bei sekundär progredienter Verlaufsform, in den letzten Jahren vorwiegend bei
schubförmig verlaufender MS mit (in)kompletter Remission der Symptome
(Relapsing-Remitting MS = RRMS; 5). Im Jahr 2008 wurden Ergebnisse des
„CAMMS223 Trial” im N. Engl. J. Med. publiziert, einer randomisierten, einfach
verblindeten Phase-II-Studie (14). Unbehandelte Patienten in einer frühen Phase
der RRMS (Krankheitsdauer ≤ 3 Jahre) erhielten entweder Alemtuzumab
(initial 12 oder 24 mg/d an fünf aufeinander folgenden Tagen, erneut in
derselben Dosierung an drei aufeinander folgenden Tagen nach 12 Monaten und,
falls vom Arzt für sinnvoll erachtet, nach 24 Monaten) oder Interferon beta-1a
(IFN beta-1a, Rebif®). Diese Studie ergab eine bessere Wirksamkeit
von Alemtuzumab als IFN beta-1a: die Zahl der Schübe wurde ebenso wie die Zunahme
der körperlichen Behinderung vermindert. Kürzlich publizierte Ergebnisse
sprechen auch nach längerer Beobachtung (fünf Jahre) für eine therapeutische
Überlegenheit von Alemtuzumab (15). Sorge bereitete jedoch, dass unter
Alemtuzumab Autoimmunerkrankungen häufiger beobachtet wurden, vor allem Immunthrombozytopenien
und Störungen der Schilddrüsenfunktion (5, 14). Die Studie musste deshalb für
drei Jahre unterbrochen werden. Ergebnisse zweier Phase-III-Studien (CARE-MS I und
II), die bisher nicht als Vollpublikation vorliegen (16, 17), sind Grundlage
der von Genzyme im Juni 2012 beantragten Indikationsausweitung von Alemtuzumab
(neuer Name: Lemtrada®) bei der FDA – in den USA erfolgte keine
Marktrücknahme von Alemtuzumab – und Marktzulassung von Lemtrada® bei
der EMA zur Behandlung von Patienten mit RRMS (18). In beiden Studien konnte
anhand der bisher vorliegenden Auswertungen Alemtuzumab im Vergleich zu IFN
beta-1a die Krankheitsaktivität bei Patienten mit RRMS reduzieren, sowohl in
frühen, nicht vorbehandelten Stadien als auch bei Patienten mit erneut
aufgetretenen Schüben unter Behandlung mit IFN beta-1a. Alemtuzumab wurde, wie
im CAMMS223 Trial, insgesamt achtmal in einer Dosierung von 12 mg/d
(initial und nach 12 Monaten) i.v. verabreicht. Infusionsbedinge Reaktionen,
Infektionen und Autoimmunerkrankungen traten auch in diesen Studien unter
Alemtuzumab häufiger auf. Lemtrada® wird für die Indikation MS von
Genzyme in Kooperation mit Bayer Health Care entwickelt.
Fazit: Die im August 2012 erfolgte Marktrücknahme von
MabCampath® - laut Genzyme, um den Off-Label-Use des Antikörpers bei
Patienten mit MS zu verhindern - hat gravierende Konsequenzen für Patienten,
Ärzte und Apotheker. Das Bundesministerium für Gesundheit und die Bundesoberbehörden
– in diesem Fall das Paul-Ehrlich-Institut - sollten diese ganz offensichtlich
aus kommerziellen Überlegungen erfolgte Marktrücknahme als Präzedenzfall behandeln
und auf Europäische Kommission bzw. EMA einwirken, damit durch Anpassung der
gesetzlichen Rahmenbedingungen ein derartiges inakzeptables Verhalten
pharmazeutischer Unternehmen in Zukunft verhindert werden kann. Das Vorgehen
der japanischen Zulassungsbehörde für Arzneimittel könnte dabei als Vorbild dienen.
Bei einem Antrag auf Marktrücknahme werden dort zunächst die betroffenen
Fachgesellschaften und Fachkreise befragt und nur bei deren Zustimmung, dass es
sich nicht um ein dringend erforderliches Arzneimittel handelt, dem Antrag des
pharmazeutischen Unternehmens zugestimmt.
Literatur
- http://www.cbsnews.com/... a-potential-ms-blockbuster/

- http://www.akdae.de/Arzneimittelsicherheit/Weitere/20120810.pdf

- http://www.ema.europa.eu/docs/en_GB/...

- Köbberling, J., und Haffner, S.:Med. Klin. 2006, 101, 516.

- Hauser, S.L.: N. Engl. J.Med. 2008, 359, 1838.

- http://www.dgho-onkopedia.de/de/onkopedia/leitlinien/cll

- Gribben, J.G.: Blood2010, 115, 187.

- Schwabe, U., und Paffrath, D.:Arzneiverordnungs-Report 2011. Springer-Verlag Berlin Heidelberg, 2011.
- Bertz, H., et al.: Biol. Blood Marrow Transplant. 2009, 15,1563.

- Schub, N., et al.: Bone Marrow Transplant.2011, 46, 143.

- http://www.akdae.de/Service/Newsletter/Archiv/News/Archiv/2012-168.html

- http://www.adka.de/index.cfm...

- http://www.dgho.de/informationen/presse/pressemitteilungen/ wirksames-leukaemie-medikament-aus-kommerziellen-gruenden-vom-markt-genommen

- Coles, A.J., et al.(CAMMS223 = CAMpath-1H in Multiple Sclerosis223): N. Engl. J. Med. 2008, 359, 1786.

- Coles, A.J., et al. (CAMMS223 = CAMpath-1H in Multiple Sclerosis223):Neurology 2012, 78, 1069.

- CARE-MS I:

- CARE-MS II:

- http://en.sanofi.com/search_results.aspx

|