Die Gliptine gehören zu den
Dipeptidyl-Peptidase-4(DPP-4)-Antagonisten (Inkretinmimetika). Sie hemmen die
Inaktivierung der Inkretinhormone GLP-1 (Glucagon-like peptide-1) und GDIP (Glucose-dependent
insulinotropic peptide) und erleichtern dadurch die Blutzuckereinstellung bei
Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2. Als erste Substanz aus dieser
Gruppe wurde im Jahr 2006 (in Europa 2007) Sitagliptin (Januvia®) zugelassen
auf der Basis randomisierter kontrollierter Studien, in denen das HbA1c um etwa
0,6-0,8%-Punkte gesenkt wurde (1, 2). Inzwischen sind vier weitere
Gliptin-Präparate verfügbar: Vildagliptin (Galvus®), Saxagliptin
(Onglyza®), Linagliptin (Trajenta®) und Alogliptin
(Nesina®). Der Nutzen von Linagliptin wurde allerdings kurz nach der
Zulassung durch die EMA im August 2012 durch das IQWiG in Frage gestellt.
Daraufhin nahm der Hersteller Boehringer das Mittel in Deutschland zunächst vom
Markt und beantragte Ende 2012 eine neue Nutzenbewertung. Diese wurde nun vom
IQWiG erneut negativ beschieden (3). Alogliptin wurde erst vor wenigen Wochen
von der FDA zugelassen. Die Zulassung durch die EMA wurde noch nicht erteilt. Allerdings
fehlt nach wie vor der Beweis, dass die Gliptine nicht nur das HbA1c senken,
sondern auch klinisch relevante Endpunkte günstig beeinflussen.
Die Gliptin-Hersteller sind daher bemüht, den
Nachweis zu führen, dass die Gliptine zumindest "sicher" sind, d.h.
kardiovaskuläre Ereignisse nicht fördern oder gar die Letalität steigern.
Deshalb wurde nun eine gepoolte Analyse aller randomisierten kontrollierten
Studien publiziert, in denen Sitagliptin getestet wurde (4). Die Autoren - alle
Firmenangehörige des Herstellers Merck (USA) – führten eine Post-hoc-Analyse durch,
in die 25 Sitagliptin-Studien mit insgesamt 14.611 Patienten
eingeschlossen waren. Die Beobachtungsdauer betrug mindestens 12 Wochen
und die Sitagliptin-Dosis von 100 mg/d. Die Daten wurden auf der Ebene
individueller Patienten evaluiert.
Als primäres Zielkriterium wurden „Major
Adverse Cardiovascular Events” (MACE) definiert. Als MACE wurde sehr umfassend
jedes unerwünschte kardiovaskuläre Ereignis aus einer 39 Termini enthaltenden
Liste angesehen, die auf dem Medical Dictionary for Regulatory Activities
beruht. Die Analyse der Studien erfolgte unter Einbeziehung der gesamten
Kohorte, und zusätzlich separat für die Subgruppen Sitagliptin versus Plazebo
und Sitagliptin versus Sulfonylharnstoff.
Bei den Ausgangsdaten der Gesamtkohorte
fällt auf, dass die Patienten jung waren (im Mittel 54 Jahre), im Median
erst seit 3,5 Jahren Diabetes mellitus und nur in 10% eine kardiovaskuläre
Vorerkrankung hatten. Es handelt sich also insgesamt um Patienten mit für
Typ-2-Diabetes niedrigem kardiovaskulärem Risiko. In vier Studien wurden überhaupt
keine kardiovaskulären Ereignisse registriert. In den restlichen 21 Studien
lag die Expositions-adjustierte Inzidenzrate in der Sitagliptin-Gruppe bei 0,65
und in der Kontroll-Gruppe bei 0,74 Ereignissen pro 100 Patientenjahre.
Das Verhältnis der beiden Raten lag bei 0,83 (95%-Konfidenzintervall = CI:
0,53-1,30). Es fand sich somit kein signifikanter Unterschied zwischen
Sitagliptin und Kontrollen.
Die kardiovaskuläre Letalität lag in
beiden Gruppen bei 0,25 Todesfällen pro 100 Patientenjahren (adjustiertes
Verhältnis: 0,95; CI: 0,40-2,30). Nicht explizit genannt, aber
aufgrund der Angaben leicht abschätzbar, lag die mittlere Beobachtungszeit
unter Studienmedikation bei nur zehn Monaten.
Betrachtet man nur diejenigen Studien, in
denen Sitagliptin mit Plazebo verglichen wurde, so zeigt sich in der Sitagliptin-Gruppe
eine adjustierte MACE-Inzidenzrate von 0,80 Ereignissen pro 100 Patientenjahre
und in der Plazebo-Gruppe von 0,76 (adjustiertes Verhältnis der
Raten: 1,01; CI: 0,55-1,86). Allerdings traten unter Sitagliptin
doppelt so viele kardiovaskuläre Todesfälle auf wie unter Plazebo. Der
Unterschied ist bei der geringen Zahl der Ereignisse nicht signifikant
(adjustiertes Verhältnis der Inzidenzraten: 1,79; CI: 0,44-8,79).
Nur drei Studien verglichen Sitagliptin
mit Sulfonylharnstoffen. In diesen Studien schnitt die Sitagliptin-Gruppe mit
0,00 Ereignissen pro 100 Patientenjahre signifikant besser ab als die
Sulfonylharnstoff-Gruppe (0,86 Ereignisse pro 100 Patientenjahre, adjustiertes
Verhältnis der Inzidenzraten: 0,00; CI: 0,00-0,31). Gleiches gilt für
die Todesfälle (0 in der Sitagliptin-Gruppe, 5 in der Sulfonylharnstoff-Gruppe;
adjustiertes Verhältnis der Inzidenzraten: 0,00; CI: 0,00-0,81).
Die Schlussfolgerung der Autoren,
Sitagliptin sei kardiovaskulär sicher, muss relativiert werden. Für einen
überzeugenden Nachweis der Sicherheit waren die in diese gepoolte Analyse
eingeschlossenen Studien mit maximaler Laufzeit von zwei Jahren und durchschnittlicher
Beobachtungszeit von zehn Monaten sicher zu kurz. Es ist merkwürdig, dass von
einem Wirkstoff, der vor mehr als sechs Jahren zugelassen wurde und häufig
verordnet wird, noch keine Langzeitdaten vorliegen, weder zur Sicherheit noch
zur Wirksamkeit hinsichtlich klinisch relevanter Endpunkte. Derzeit werden vier
randomisierte kontrollierte Studien mit Gliptinen hinsichtlich kardiovaskulärer
Ereignisse durchgeführt. Die Studien wurden im Dezember 2008 (Sitagliptin; 5),
im Oktober 2009 (Alogliptin; 6), im Mai 2010 (Saxagliptin; 7) und im
Oktober 2010 (Linagliptin; 8) begonnen, rekrutieren zwischen 6.000 und 16.500
Patienten und vergleichen verschiedene Gliptine mit verschiedenen anderen
oralen Antidiabetika und Plazebo. Nur von zwei der vier Studien wurde das
Studienprotokoll publiziert (6, 7). Erste Ergebnisse werden frühestens
Ende 2013 erwartet. Der späte Beginn dieser Studien nach der Zulassung lässt
vermuten, dass es die pharmazeutischen Unternehmer (pU) nicht wirklich eilig
haben, klinisch verlässliche Informationen zu erbringen, solange es offenbar
genügt, Sicherheitsdaten nach kurzer Beobachtungsdauer und Belege für Wirkungen
ermittelt anhand von Surrogat-Endpunkten vorzulegen, und trotzdem hohe
Verkaufszahlen zu erreichen. Und die entwickeln sich prächtig: Im Jahr 2011
wurden in Deutschland 179 Mio. DDD verkauft (zum Vergleich Metformin
580 Mio. DDD, Sulfonylharnstoffe 436 Mio. DDD). Im Jahr 2010 waren es
erst 111 Mio. (9). Allein mit Sitagliptin und der Kombination Sitagliptin/Metformin
(Janumet®) machte MSD im Jahr 2011 einen Jahresumsatz von
1,4 Mrd. US-$, ein Umsatzplus von 40% gegenüber dem Vorjahr (10).
Neben ungeklärten kardiovaskulären Risiken
werden noch andere Nebenwirkungen unter der Behandlung mit Sitagliptin
diskutiert. Der FDA lagen zwischen 2006 und 2009 insgesamt 88 Meldungen
teils tödlicher, teils nicht-tödlicher hämorrhagisch-nekrotisierender akuter
Pankreatitiden vor. Die daraufhin von der FDA geforderte Sicherheitsstudie hat
der pU trotz Androhung einer Strafzahlung in Höhe von 250.000 US-$ bis
heute nicht vorgelegt (11). Das Pankreatitisrisiko durch Inkretinmimetika wurde
auch in einer Studie über die Häufigkeit von Meldungen an das Adverse Event
Reporting System (AERS) der FDA beschrieben. Diese Studie hat aber erhebliche
methodische Schwächen, über die wir ausführlich berichtet haben (12, vgl. auch
13). Der Verdacht auf ein möglicherweise erhöhtes Pankreatitisrisiko der
Inkretinmimetika ist bisher nicht ausgeräumt. Die pU wurden zu einem
entsprechenden Hinweis in Fachinformation und Packungsbeilagen verpflichtet. Aber
weder diese Hinweise noch eine 2009 von der FDA herausgegebene
Sicherheitswarnung (14) haben den Umsatz der Präparate nennenswert reduziert.
Fazit: Es ist zu kritisieren, dass mehr als sechs Jahre
nach der Zulassung des ersten Gliptins keine überzeugenden Daten zu patientenrelevanten
Endpunkten und zur Sicherheit vorliegen. Die kürzlich publizierte Meta-Analyse
von 25 Kurzzeitstudien (Beobachtungszeit maximal zwei Jahre, im Durchschnitt
zehn Monate Beobachtungszeit) ist nach unserer Meinung nicht geeignet,
kardiovaskuläre Sicherheitsbedenken auszuräumen. Auch der Verdacht auf andere
unerwünschte Wirkungen, wie akute Pankreatitis, ist nicht ausgeräumt. Bei bisher
nicht nachgewiesenem klinischem Nutzen in der Langzeittherapie sollten Gliptine
allenfalls als Reservepräparate bei Versagen anderer Therapieprinzipien oder
bei Unverträglichkeit anderer Antidiabetika in Betracht kommen. Die Tatsache,
dass Gliptine bereits heute ein Verkaufsschlager sind, ist aus medizinischer
Sicht nicht zu verstehen.
Literatur
- Aschner, P., et al.:Diabetes Care 2006, 29, 2632.

- Raz, I., et al.:Diabetologia 2006, 49, 2564.
Vgl. AMB 2007, 41, 50.
- IQWiG-Prerssemitteilung,aktualisiert am 30.1.2013:

- Engel,S.S., et al.: Cardiovasc. Diabetol. 2013, 12, 3.

- TECOS (Sitagliptin CardiovascularOutcome Study):
- White,W.B., et al. (EXAMINE = EXamination of cArdiovascular outcoMeswith alogliptIN versus standard of carE in patients with type 2diabetes mellitus and acute coronary syndrome): Am. Heart J. 2011, 162, 620.
http://clinicaltrials.gov/show/NCT00968708 
- Scirica,B.M., et al. (SAVOR-TIMI 53 = Saxagliptin Assessment of VascularOutcomes recorded in patients with diabetes mellitus-ThrombolysisIn Myocardial Infarction 53): Am. Heart J. 2011, 162,818.
http://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT01107886 
- CAROLINA (CARdiovascular Outcomestudy of LINAgliptin versus glimepiride in patients with type 2diabetes):
- Schwabe,U., und Paffrath, D.: Arzneiverordnungs-Report 2012. Springer Medizin VerlagBerlin, Heidelberg 2012.
- DAZ.online – DasInternetportal der Deutschen Apothekerzeitung 2012:
- Apothekeadhoc 2012:
- AMB 2011, 45,57.

- Spranger,J., et al.: Gastroenterology2011, 141, 20.

- U.S. Foodand Drug Administration 2009:
|