Fragen von Dr. U.F. aus Hagen: >> Gemäß der
ESC-Leitlinie 2010 sollte im Rahmen der perkutanen koronaren Intervention (PCI)
beim STEMI bevorzugt Bivalirudin eingesetzt werden (I, B).
Ist es noch vertretbar, auf den Einsatz von Bivalirudin zu verzichten? Lässt
sich daraus ableiten, dass ein Kardiologe auf diesen direkten Thrombinhemmer
nicht mehr verzichten kann? Wie ist das Ergebnis der HORIZONS-Studie zu werten
(Letalität 1,8% vs. 2,9%)? <<
Antwort: >> Tatsächlich ergibt sich auch nach unserer
Meinung aus der von Ihnen zitierten HORIZONS-AMI-Studie (1-3) sowie den ESC-Leitlinien zum STEMI von 2012 (4) die Notwendigkeit, in den Herzkatheterlabors
über eine Verfahrensänderung nachzudenken. Aber, das sei hinzugefügt, es ist
nach der Datenlage und nach den Worten der Leitlinien nach wie vor akzeptabel, andere
Gerinnungshemmer zu verwenden.
Die erwähnte HORIZONS-AMI-Studie hat gezeigt, dass beim akuten STEMI
eine periprozedurale Gabe von Bivalirudin (Angiox®) im Vergleich zu unfraktioniertem
Heparin (UFH) und GP-IIb/IIIa-Rezeptor-Antagonisten (GPI) vor allem hinsichtlich der Blutungskomplikationen, aber auch
auf das Langzeit-Überleben günstiger abschneidet (Tab. 1). Die „Number
needed to treat” für das Überleben nach drei Jahren beträgt nach dieser multizentrischen
randomisierten kontrollierten Studie (RCT) 56. Dieser Vorteil von Bivalirudin
ergibt sich sehr wahrscheinlich aus den selteneren Blutungskomplikationen, wie sowohl
die Autoren der HORIZONS-AMI-Studie als auch die der ESC-Leitlinie ausführen.
Aus vielen Registern ist bekannt, dass periprozedurale Blutungen
ein sehr bedeutsamer Risikofaktor für die Sterblichkeit am Herzinfarkt sind. Dass es unter Bivalirudin zu deutlich weniger Blutungen kommt als
unter UFH/GPI, kann als gesichert angenommen werden. Das bestätigt auch ein
großes prospektives US-Register mit über 127.000
PCI-Patienten aus den Jahren 2003-2006. Bei gut einem Viertel dieser PCI wurde
Bivalirudin verwendet. Dabei wurde eine 33%ige Reduktion
transfusionsbedürftiger Blutungen und eine 49%ige Reduktion bei der
adjustierten Letalität registriert (5).
Ein weiteres Ergebnis der HORIZONS-AMI-Studie war, dass es in der
Bivalirudin-Gruppe innerhalb der ersten 24 Stunden signifikant häufiger zu
Stent-Thrombosen kam als in der UFH/GPI-Gruppe (1,3%
vs. 0,3%; p < 0,001). Dieser Unterschied war nach 30 Tagen
wieder egalisiert (2,5% vs.1,9%; p = 0,30).
Den frühen Nachteil im Bivalirudin-Arm sollte man als Indiz bewerten, dass die
hier praktizierte „Clopidogrel-Aufsättigung” am Kathetertisch („before the
insertion of the catheter”) einfach zu spät ist. In der Vergleichsgruppe hat
der GPI zu einer sofortigen und nahezu vollständigen Hemmung der Thrombozytenfunktion
geführt. Diese schnelle und umfassende Plättchenhemmung hat gerade beim STEMI
eine zentrale Bedeutung.
Weitere Einschränkungen der
HORIZONS-AMI-Studie ergeben sich aus unserer Sicht durch das exklusive Sponsoring durch die Hersteller des
verwendeten Stents sowie von Bivalirudin (Boston Scientific; Medicines Company),
die zahlreichen Beziehungen der Principal Investigators zur Industrie, die
Ungleichheit zwischen den Studiengruppen hinsichtlich des Risikofaktors
Hypertonie (52% vs. 55%) sowie die seltene Verwendung des blutungsärmeren,
radialen Zuganges nur bei 6% der Patienten.
Die ESC-Leitlinien 2012 empfehlen
die Gabe eines GPI beim STEMI nur noch als ”Bailout therapy”
bei nachweislich hoher Thrombuslast, Slow- oder No-reflow-Phänomen oder
bei einer thrombotischen Komplikation (IIa, C) und außerdem als Bridging
von Hochrisikopatienten, die zu einer koronaren Intervention verlegt werden
müssen (IIb, B). Bivalirudin wird in den Leitlinien explizit nur gegenüber
GPI/UFH bevorzugt (I, B), nicht jedoch generell beim STEMI empfohlen. Beim
STEMI wird nur pauschal die Gabe eines intravenösen Antikoagulans (also UFH,
LMWH oder Bivalirudin) empfohlen (I, C), exklusive Fondaparinux
(IIIb, A). Enoxaparin wird gegenüber dem UFH etwas bevorzugt („may be
preferred”; IIb, B) und ein UFH soll dann gegeben werden, wenn kein
Bivalirudin oder Enoxaparin gegeben wird (I, C). Die ESC gibt also beim
genauen Hinsehen gar keine differenzierten Empfehlungen.
DER ARZNEIMTTELBRIEF sieht keine Begründung, bei
STEMI-Patienten generell von UFH oder Enoxaparin auf Bivalirudin umzustellen.
Hierzu müsste mindestens eine weitere RCT zu einem gleichen Ergebnis kommen.
Außerdem muss berücksichtigt werden, dass sich mit der sehr frühen
(prähospitalen) Einnahme eines ADP-Blockers, der routinemäßigen Thrombusaspiration
und dem immer häufiger angewendeten transradialen Zugang die Routine beim
STEMI-Management seit 2005-2007 (Rekrutierungszeit von HORIZONS-AMI) doch
erheblich geändert hat. RCT sind unterwegs, die diese neuen Aspekte
berücksichtigen.
Bivalirudin ist beim STEMI oder auch komplexer
PCI eine Behandlungsalternative
zu UFH und Enoxaparin, z.B. bei Patienten mit hohem Thrombose-
und hohem Blutungsrisiko. Für eine generelle Umstellung reichen
die vorliegenden Daten aber nicht aus.
Literatur
- Stone, G.W.,et al. (HORIZONS-AMI = Harmonizing Outcomes with RevascularIZatiONand Stents in Acute Myocardial Infarction): N. Engl. J.Med. 2008, 358, 2218.

- Mehran, R., et al. (HORIZONS-AMI = Harmonizing Outcomeswith RevascularIZatiON and Stents in Acute MyocardialInfarction): Lancet 2009, 374, 1149.

- Stone, G.W., et al.: (HORIZONS-AMI = Harmonizing Outcomeswith RevascularIZatiON and Stents in Acute MyocardialInfarction): Lancet 2011, 377, 2193.

- Steg, P.G.,et al.: Eur. Heart J. 2012, 33, 2569.

- Rassen, J.A., et al.:Eur. Heart J. 2010, 31, 561.

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