Wie rasch und wie intensiv soll der
Blutdruck bei hypertensiven Patienten mit intrazerebraler Blutung gesenkt
werden? Hypertonie begünstigt die Blutung, Hypotonie erschwert die
Durchblutung bei erhöhtem Hirndruck. Daher wird über die optimalen
Blutdruckwerte in der akuten Phase immer wieder diskutiert. In der
S1 AWMF-Leitlinie „Intrazerebrale Blutung“ (1) heißt es
unter Hinweis auf eine 2008 erschienene Pilotstudie (2), bei Patienten mit
vorbestehender arterieller Hypertonie soll ab einem systolischen Blutdruck von ≥ 180 mmHg
und einem diastolischen Blutdruck von ≥ 105 mmHg mit einer
Senkung des Blutdrucks auf < 170/100 mmHg begonnen werden. Bei
Patienten ohne vorbestehende Hypertonie soll ab 160/95 mmHg der Blutdruck
auf Werte < 150/90 mmHg gesenkt werden. Nach dieser Studie soll es
ungefährlich sein, auch niedrigere Werte anzustreben. Zur Bestätigung
sollten die endgültigen Befunde noch abgewartet werden. Diese wurden jetzt
im N. Engl. J. Med. veröffentlicht (3).
INTERACT2 ist eine internationale, multizentrische,
randomisierte, hinsichtlich der Behandlung offene, hinsichtlich Auswertung des
primären Endpunkts verblindete Studie, die von Ärzten der
Universität Sidney organisiert und von den australischen
Gesundheitsbehörden unterstützt wurde. Zwischen 2008 und 2012 wurden
2839 Patienten mit intrazerebraler Blutung unter folgenden Bedingungen
eingeschlossen:
- Therapiebeginn < 6 Stunden nach Symptombeginn,
- Systolische Blutdruckwerte zwischen 150 mmHg und 220 mmHg,
- keine Kontraindikationen für Blutdrucksenkung.
Sie wurden 90 Tage lang nachbeobachtet. Beteiligt waren
144 Krankenhäuser in 121 Ländern, z.B. Australien, China, Frankreich,
Chile, USA. In ein Computerprogramm wurde das Risiko der Erkrankten eingegeben:
Symptomatik, Alter, Komorbidität, Zeit bis zum Beginn der Therapie. Danach
wurden sie randomisiert zwei Gruppen zugewiesen und zwar so, dass diese Gruppen
in wesentlichen Charakteristika gleich waren. In Gruppe 1 wurde ein
systolischer Blutdruck in der ersten Stunde von 140 mmHg angestrebt, in
Gruppe 2 ohne Zeitvorgabe ein Wert von 180 mmHg. Primärer
Endpunkt war Tod oder schwere Behinderung nach 90 Tagen
(Rankin-Score = RS: 3-6). Die unterschiedlichen Grade der Behinderung wurden,
wie heute bei Schlaganfallstudien üblich, nach der Rankin-Skala
eingeschätzt:
- asymptomatisch = RS 0;
- Symptome, aber ohne Behinderung = RS 1;
- geringe Behinderung = RS 2;
- in einigen Situationen hilfsbedürftig = RS 3;
- im täglichen Leben stets hilfsbedürftig = RS 4;
- bettlägerig = RS 5;
- Tod = RS 6.
Die Häufigkeit schwerer Behinderungen nach intensiver
und nach herkömmlicher Blutdrucksenkung wurde verglichen. Sekundärer
Endpunkt war der individuelle Schweregrad der Behinderung nach
90 Tagen. Daraus wurde mit logistischer Regression der Unterschied des
Therapieeffekts in Gruppe 1 und 2 errechnet.
Ergebnisse (s. Tab. 1): Die beiden Gruppen
waren bezüglich Symptomatik, Alter, Ausgangsblutdruck und Anteil
chinesischer Patienten praktisch identisch. Die chinesischen Patienten sind
wegen der dort oft abweichenden Therapierichtlinien gesondert ausgewiesen. Bei
orientierender Subgruppenanalyse hatte dies allerdings auf deren
Therapieergebnisse keinen Einfluss. Der Blutdruck wurde in der intensiv
behandelten Gruppe 1 deutlich rascher und intensiver gesenkt als in
Gruppe 2 und blieb auch im Verlauf der 90 Tage Nachbeobachtung
niedriger. Schwere Behinderungen und Todesfälle (primärer Endpunkt)
waren in der Gruppe der intensiv blutdrucksenkend behandelten Patienten nicht
signifikant seltener als in der entsprechend den Leitlinien behandelten Gruppe.
Der Effekt einer intensiven Blutdrucksenkung scheint also hinsichtlich schwerer
Behinderungen nicht relevant zu sein.
Es hat sich gezeigt, dass in Studien zur Behandlung von
Patienten mit Schlaganfall praktisch nie signifikant unterschiedliche
Ergebnisse erzielt werden, wenn – etwas grob - nur zwei Grade der
Behinderung untersucht werden, schwer und leicht. Wertet man jedoch die
unterschiedlichen Schweregrade der Behinderung aller Patienten vor und nach
Therapie einzeln aus, kann ein Wirkungsprofil dargestellt werden, und es
können sich graduelle Unterschiede ergeben. Das sieht aus wie ein
statistischer Trick, ist aber doch plausibel: Es ist ein wichtiger Unterschied,
wenn z.B. nach intensiver Therapie mehr Patienten nicht mehr „gering
behindert“, sondern „asymptomatisch“ sind. Dieser Befund
würde bei der oben geschilderten Auswertungsmethode beim primären
Endpunkt untergehen, wird aber bei Auswertung der Einzelwerte (sekundärer
Endpunkt) erfasst. Bei der vergleichenden Auswertung der Einzelbefunde in allen
Schweregraden war die intensive Blutdrucksenkung der herkömmlichen
signifikant überlegen.
Auf den ersten Blick hat der große Aufwand von
INTERACT2 keinen wesentlichen Beitrag zur Therapie geliefert. Sterblichkeit und
Häufigkeit bedeutsamer Behinderungen sind bei intensiver Blutdrucksenkung
nicht signifikant seltener als bei der üblichen Therapie. Aber dies ist
nicht die ganze Wahrheit. INTERACT2 demonstriert am Beispiel der
intrazerebralen Blutung, dass Therapiestudien mit globaler Organisation,
Durchführung und Auswertung möglich und sinnvoll sind und dass man
mit angepasster differenzierender Auswertung auch zu neuen Erkenntnissen kommen
kann.
Fazit: Die INTERACT2-Studie zeigt, dass durch intensive
Blutdrucksenkung bei Patienten mit intrazerebralen Blutungen und Hypertonie
keine zusätzlichen Risiken entstehen. Allerdings waren die
Blutdruckdifferenzen de facto geringer als angestrebt. Bei vielen Patienten
wird das neurologische Endergebnis eher verbessert. Dies wird aber erst
deutlich und signifikant, wenn bei der statistischen Analyse differenziert wird
nach dem Behinderungsgrad der einzelnen Patienten und nicht nur summarisch nach
Häufigkeit schwerer Behinderungen und Tod. Intensive Blutdrucksenkung ist
daher, wenn keine Kontraindikation vorliegt, z.B. Hirndruck mit drohender
Einklemmung, bei vielen Patienten eine gut begründete Therapieoption. So
sieht es auch J.A. Frontera vom Cerebrovascular Center der Cleveland Clinic in
Cleveland, USA, in ihrem Editorial (4).
Literatur
- http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/030-002l_S1_Intrazerebrale_Blutung.pdf

- Anderson,C.S., et al. (INTERACT = INTEnsive blood pressure Reduction in AcuteCerebral haemorrhage Trial): Lancet Neurol 2008, 7, 391.
- Anderson,C.S., et al. (INTERACT2 = INTEnsive blood pressure Reduction in AcuteCerebral haemorrhage Trial2): N. Engl. J. Med. 2013,368, 2355.

- Frontera,J.A.: N. Engl. J. Med. 2013, 368, 2426.

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