Die Wirksamkeit der von regulatorischen Behörden und
pharmazeutischen Unternehmern (pU) veröffentlichten Sicherheitswarnungen zu
Arzneimitteln wurde in der Vergangenheit und aktuell angezweifelt (1, 2).
Eine 2012 veröffentlichte systematische Übersicht aus den Niederlanden basierte
auf 52 Artikeln, unter anderem zu selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern
und oralen Kontrazeptiva der 3. Generation, und untersuchte die Auswirkungen
von Warnungen wie „Direct Healthcare Professional Communications“ oder „Dear
Doctor letters“ auf ärztliche Entscheidungen. Aufgrund der Ergebnisse dieser
Übersichtsarbeit forderten die Autoren weitere Forschung mit geeignetem
Studiendesign, um Informationen und Art der Kommunikation der
Zulassungsbehörden bei Warnungen zur Sicherheit von Arzneimitteln zu optimieren
(3).
Eine in Deutschland verfügbare wichtige Quelle für Warnungen
zu Risiken von Arzneimitteln bei älteren Patienten ist die PRISCUS-Liste. Sie
benennt 83 Arzneimittel, die im Alter nur mit besonderer Kontrolle oder gar
nicht verordnet werden sollten (4). Unter Federführung von Petra Thürmann wurde
sie nach amerikanischem Vorbild von Experten aus Deutschland, Österreich und
der Schweiz verfasst. Diese nun schon drei Jahre alte Liste scheint bei der
Mehrzahl der Ärzte noch nicht bekannt zu sein. Zwar gibt es laut Thürmann keine
systematische Begleitforschung zu dieser Liste, aber kritische Befunde wurden auf
dem 4. Deutschen Kongress für Patientensicherheit bei medikamentöser
Therapie 2013 in Berlin mitgeteilt. Sie ergeben sich aus einem Pilotprojekt der
Deutschen Rentenversicherung Knappschaft Bahn-See (DRV KBS). In ihm wurden die
Krankheits- und Medikationsdaten ihrer 1,7 Millionen Versicherten analysiert
mit dem Ziel, die Sicherheit der Patienten durch eine elektronische
Behandlungsinformation aller Beteiligten zu erhöhen. Georg Greve, der Direktor
der KBS, nannte in seinem Referat einige Zahlen (5): Ein Drittel der Versicherten
über 65 Jahre nimmt mehr als fünf Arzneimittel ein, die Pflegebedürftigen
sogar durchschnittlich elf. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die
konsequente Umsetzung von Leitlinien bei älteren, multimorbiden Patienten auch
zu einer potenziell gefährlichen Polypharmazie beiträgt. Leitlinien für die
Arzneimitteltherapie bei Patienten mit unterschiedlichen Erkrankungen existieren
nicht, und die in einzelnen Leitlinien empfohlenen Arzneimittel führen zwangsläufig
zur Polymedikation (6). Hinzu kommt, dass die Patienten häufig nicht nur von
einem Arzt behandelt werden. Im Projekt der DRV KBS konsultierten 10% der Versicherten
im Laufe eines Jahres mehr als zehn frei praktizierende Ärzte - im Durchschnitt
waren es sieben bis acht -, die oft nichts von den Kollegen und ihren
Verordnungen wussten. Von 1,4 Millionen Patienten, die Arzneimittel
verschrieben bekamen, erhielten 374.000 Patienten Verordnungen mit
Interaktionen. Oft wurde sogar dieselbe Substanz doppelt verordnet. Und die
PRISCUS-Liste wurde nicht beachtet. Alten und oft multimorbiden Patienten, die
von Neben- und Wechselwirkungen besonders betroffen sind, wurden oft altersinadäquate
Wirkstoffe verordnet. Es gab zahlreiche Todesfälle und, so Greve, viele dieser
alten Patienten starben offenbar nicht an ihren Krankheiten, sondern an der
Therapie. Auch wenn die Aussagekraft derartiger Auswertungen, basierend auf
Abrechnungs- und Verordnungsdaten einer Krankenkasse, natürlich begrenzt ist –
unter anderem, weil der Kontext der Behandlung unbekannt ist –, sind diese
Ergebnisse doch beunruhigend.
Möglicherweise werden Ärzte jetzt von ihren Patienten auf
die PRISCUS-Liste angesprochen. Denn gerade hat die Stiftung Warentest (7) eine
patientengerechte, mit Fallbeispielen anschaulich gemachte Fassung der Liste
veröffentlicht, mit dem Titel "Alt, krank und falsch behandelt" und
dem Vorspann: "Manche Medikamente können alte Menschen gefährden. Das ist
bekannt. Dennoch erhalten zu viele Senioren die falsche Arznei." Auch im sehr
informativen Standardwerk der Stiftung, dem "Handbuch Medikamente“, wird
in der 9. Auflage regelmäßig auf besondere Risiken im Alter hingewiesen.
Ärzte werden also damit rechnen müssen, dass informierte Patienten in Zukunft
mehr über Arzneimitteltherapiesicherheit wissen bzw. erfahren wollen.
Sollten sich Rote-Hand-Briefe auch an Patienten richten?
Denn Ärzte scheinen diese Warnbriefe zu Arzneimitteln nur wenig zu beachten.
"Warnungen eines Rote-Hand-Briefs bleiben ohne Einfluss auf risikohafte
Verschreibungen“. Das ergab eine Analyse von Medikationsdaten aus einer großen
Kohorte geriatrischer Patienten, die auch auf dem Kongress für Patientensicherheit
vorgestellt wurde. Eine Arbeitsgruppe des Pharmakologischen Instituts an der
Universität Erlangen wollte prüfen, ob die Warnbriefe ihren Zweck erfüllen,
Ärzte über neue bedeutende Arzneimittelrisiken zu informieren. Die beiden
exemplarisch ausgewählten Briefe des pU Lundbeck warnten vor der dosisabhängigen
QT-Intervall-Verlängerung durch die Antidepressiva Citalopram und Escitalopram
(8). Vor allem zusammen mit anderen QT-verlängernden Wirkstoffen - und das sind
viele (9) - kann es zu lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen kommen. Die
Auswirkungen der Rote-Hand-Briefe wurden gemeinsam mit der "Geriatrie in
Bayern-Datenbank" festgestellt - anhand der Entlassungsmedikation von fast
70.000 stationären geriatrischen Patienten. Zwar war es durch eine neue
Festbetragsregelung zu einem Rückgang der Verordnung von Escitalopram gekommen,
doch änderte sich nach dem Erscheinen des Rote-Hand-Briefs die gemeinsame Verordnung
von Citalopram oder Escitalopram mit anderen QT-Zeit-verlängernden Wirkstoffen
so gut wie gar nicht. Möglicherweise hat sich auch eine Stellungnahme der
Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde
(DGPPN), die vom pU Lundbeck im Februar 2012 verbreitet wurde, negativ
ausgewirkt. In ihr wurde kontraproduktiv zu einem „rationalen Umgang mit
Rote-Hand-Briefen“ gemahnt (10). Wir haben darüber berichtet (11).
Wie lässt sich nun risikoreiches Verschreibungsverhalten
verbessern? Offensichtlich bedarf es weiterer Maßnahmen als bloß eines
Warnbriefs an Ärztinnen und Ärzte. Man muss auch Apotheker und Patienten
einbeziehen - wie bei einem Pilotprojekt der Innungskrankenkasse Südwest
gemeinsam mit der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Saarland. Deren
Vorsitzender Günter Hauptmann stellte dieses Projekt beim Kongress vor unter
dem Titel "Strategien zur Verringerung des Risikos für Sekundenherztod"
(12). Auch hier geht es um QT-Zeit-verlängernde Arzneimittel. Wenn sich dieses
Modellvorhaben (nach § 63 ff SGB) als durchführbar erweist, ließe sich ein
derartiges Vorgehen auch auf andere besonders risikoreiche Arzneimittel(-kombinationen)
anwenden, hofft Hauptmann.
Der einzelne Arzt kann nicht ohne weiteres erkennen, ob ein
Patient gleich mehrere QT-Zeit-verlängernde Arzneimittel einnimmt, die ihn in die
Gefahr von Torsades-de-pointes-Arrhythmien bis zum Plötzlichen Herztod bringen.
Deshalb setzte man auf individuelle Information. Die Verordnungen von 51.700
Patienten wurden überprüft. 792 erhielten das häufig verordnete Citalopram, 100
davon doppelt oder mit anderen QT-Zeit-verlängernden Wirkstoffen. 72 dieser
Patienten waren einverstanden, ihren Arzt via KV zu informieren. Hauptmann
betonte, dass es sich nicht um eine Schuldzuweisung, sondern um eine Hilfestellung
zur Lösung eines Interaktionsproblems handelt. Sie wurde von den Vertragsärzten
sehr gut angenommen, nachdem man das Vorhaben intensiv bekannt gemacht hatte.
Die betreffenden Ärzte bekamen eine Aufstellung ihrer Verordnungen mit QT-Zeit-verlängernden
Medikamenten, wurden vor riskanten Wechselwirkungen gewarnt und erhielten Vorschläge
für alternativ zu verordnende Wirkstoffe. Auf einem Rückmeldeformular kreuzten
die Vertragsärzte an, was sie zur Risikoreduktion unternommen und wie sie
Patienten informiert und beraten haben. Eine Datenbank ermöglicht es,
Arzneimittel auf QT-Zeit-verlängernde Effekte zu prüfen. Sie steht allen
saarländischen Vertragsärzten zur Verfügung, und ist auf der Internetseite der
KV im geschützten Bereich kostenlos zu nutzen.
Literatur
- Goldman, S.A.: Drug Saf.2004, 27, 519.

- Reber, K.C.,et al.: Clin. Pharmacol. Ther.2013, 93, 360.

- Piening, S.,et al.: Drug Saf. 2012, 35, 373.

- http://priscus.net/download/PRISCUS-Liste_PRISCUS-TP3_2011.pdf.
Vgl.AMB2012,46, 25. 
- http://www.akdae.de/AMTS/Kongress/S1-2.pdf

- Boyd, C.M.,et al.: JAMA 2005, 294, 716.

- Stiftung Warentest:"test" Nr. 9/2013, S. 88.

- http://www.akdae.de/Arzneimittelsicherheit/RHB/Archiv/2011/20111031.pdf

- AMB 2004, 38,49.
AMB 2010, 44, 73. 
- http://www.dgppn.de/publikationen/stellungnahmen/detailansicht/article/141/zur-qtc-zeit.html

- AMB 2012, 46,24DB01.

- http://www.akdae.de/AMTS/Kongress/S1-1.pdf

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