Es gibt gute Evidenz aus Registerdaten,
dass akute Infektionen das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse erhöhen
(vgl. 1). Vor mehr als zwanzig Jahren wurde erstmals der Verdacht geäußert,
dass auch durch Influenza-Infektionen Herzinfarkte begünstigt werden könnten.
Der Verdacht schien sich in einer 2004 publizierten großen epidemiologischen
Studie zur winterlichen Häufung kardiovaskulärer Ereignisse zu bestätigen (2).
Es war also naheliegend zu prüfen, ob die jährliche Influenza-Impfung
kardiovaskuläre Ereignisse vermindert. Zwei daraufhin durchgeführte
randomisierte kontrollierte Studien kamen jedoch zu verschiedenen Ergebnissen
(3). Beide Studien wurden in einem Cochrane-Review aus dem Jahr 2008 beurteilt.
Zwar zeigte sich in der gepoolten Analyse eine signifikante Risikoreduktion auf
74% der Kontroll-Gruppen (95%-Konfidenzintervall = CI: 37-89; p = 0,0026)
hinsichtlich der kardiovaskulären Letalität in der Sekundärprävention, jedoch
war kein signifikanter Unterschied in der Häufigkeit von Myokardinfarkten
nachweisbar (RR: 0,81; CI: 0,39-1,71). Auch in der Primärprävention
zeigte sich kein Effekt. Allerdings waren die gepoolten Zahlen der 950 Patienten
(davon nur 102 Patienten in der Primärprävention) zu gering, um
verlässliche Ergebnisse zu erbringen. Die Cochrane-Autoren kamen daher zu dem
Schluss, dass es keine hinreichende Evidenz für den protektiven Effekt der
Impfung gäbe.
Im Jahr 2010 wurde eine Fall-Kontroll-Studie
mit sehr hoher Patientenzahl publiziert (4). Sie hat die Diskussion über das
Thema Influenza-Impfung und Myokardinfarkt neu belebt. Die Autoren extrahierten
die klinischen Daten von 16.012 Patienten (Alter > 40 Jahre) mit
akutem Myokardinfarkt aus der „United Kingdom General Practice Research“-Datenbank,
für die Angaben über mindestens fünf Jahre zwischen 2001 und 2007 vorlagen.
Diesen „Fällen“ wurden 62.964 „Kontrollen“ gegenübergestellt. Fälle und
Kontrollen entsprachen sich hinsichtlich Alter, Geschlecht, Fachgebiet der
Praxis und Zeitpunkt der Konsultation, der bei den Kontrollen dem Zeitpunkt des
kardialen Ereignisses der Fälle entsprechen musste.
Bei der Analyse der Rohdaten zeigte sich
zunächst eine ähnlich hohe Impfrate bei Fällen wie Kontrollen (52,9% vs. 51,2%;
Odds ratio = OR: 1,08). Allerdings hatten die Patienten in der
Myokardinfarkt-Gruppe deutlich mehr Komorbiditäten, die eine Influenza-Impfung
empfehlenswert gemacht hatten, z.B. Asthma, COPD (OR: 1,39), chronische
Herzerkrankungen (OR: 2,97), Diabetes mellitus (OR: 1,85) u.a. Unter
Berücksichtigung dieser „Confounder“ lag die Impfrate bei den Kontrollen
deutlich höher als bei den Fällen, so dass sich eine adjustierte Odds Ratio von
0,81 (CI: 0,77-0,85) zugunsten der Geimpften ergab. Ergebnisse einer
solchen Post-hoc-Anpassung sind allerdings fehleranfällig. Als Stärke dieser
Studie werden die hohe Fallzahl und die Korrektur für zahlreiche „Confounder“
angeführt. Kritisch anzumerken ist, dass Fall-Kontroll-Studien gerade für
unbekannte, d.h. nicht erfasste Störgrößen anfällig sind. Ergebnisse von
Fall-Kontroll-Studien werden daher in eine niedrige Evidenzklasse (Klasse 3 von
5) eingestuft. Wie die Autoren der Studie selbst schreiben, wäre es
wünschenswert, das Ergebnis in einer ausreichend gepowerten, prospektiven, im
Optimalfall randomisierten kontrollierten Studie zu bestätigen.
Im Jahr 2011 wurde dann erneut eine
randomisierte kontrollierte Studie publiziert, allerdings wieder mit relativ
geringer Fallzahl (5). Die Autoren dieser Studie randomisierten 439 Patienten
mit Akutem Koronarsyndrom in eine Impf- und eine Plazebo-Gruppe. Die Patienten
wurden 12 Monate lang nachbeobachtet. Unter den Geimpften traten 20
"Major adverse cardiovascular events" (MACE) auf, in der Plazebo-Gruppe
hingegen 42 (Relatives Risiko = RR: 0,47; CI: 0,29-0,77).
Kürzlich erschien eine systematische
Übersicht mit Metaanalyse (6). In ihr wurden alle bisherigen randomisierten
kontrollierten Studien zum Thema kardiovaskuläres Risiko nach Influenza-Impfung
zusammengefasst. Im Unterschied zu dem oben erwähnten und bisher nicht aktualisierten
Cochrane Review schlossen die Autoren auch ein: die Studie aus dem Jahr 2011 (5)
und zwei Studien aus den Jahren 1994 (7) und 2009 (8). In diesen Studien waren kardiovaskuläre
Ereignisse als Sicherheitsparameter (als mögliche UAW der Impfung) erfasst worden.
In der Metaanalyse ergab sich bei insgesamt 6469 Patienten ein relatives Risiko
von 0,64 für das Eintreten eines kardiovaskulären Ereignisses bei Geimpften im
Vergleich zu Ungeimpften. Die absolute Risikoreduktion betrug 1,74% und die NNV
(Number needed to vaccinate) lag bei 58. Ausgeprägter war der Effekt bei
Patienten mit Akutem Koronarsyndrom (RR: 0,45; CI: 0,32-0,63; absolute
Risikoreduktion 12,9%; NNV = 8). Allerdings fand sich - anders als im Cochrane
Review - in der Metaanalyse kein signifikanter Unterschied hinsichtlich der
kardiovaskulären oder der Gesamtletalität (RR: 0,81; CI: 0,36-1,83
bzw. RR: 0,85; CI: 0,45-1,61). Dies liegt daran, dass in den
eingeschlossenen beiden großen Sicherheitsstudien kein Unterschied in der Letalität
bestand und diese statistisch mit großem Gewicht in die Metaanalyse eingingen. Die
Autoren (und wir) beurteilen die Evidenzlage vor allem deswegen als weiterhin unbefriedigend,
weil qualitativ hochwertige randomisierte kontrollierte Studien mit großer
Fallzahl fehlen.
Fazit: Eine aktuelle systematische Übersicht mit Metaanalyse
ergab Hinweise, dass die Influenza-Impfung relevante kardiovaskuläre Ereignisse
reduziert, jedoch nicht die Letalität. Der Evidenzgrad dieses Ergebnisses ist allerdings
gering. Unseres Erachtens ist
aus diesen Befunden keine vorrangige Impfindikation abzuleiten für Patienten
mit kardiovaskulären Risiken, auch wenn dies propagiert wird (10). Es erscheint
uns angesichts der insgesamt unbefriedigenden Wirksamkeit der
Grippeschutzimpfung (vgl. 9) dringlicher, wirksamere Impfstoffe zu
entwickeln statt mit statistischen Methoden nach möglichen Vorteilen der
bisherigen Impfstoffe bei Untergruppen zu suchen.
Literatur
- AMB 2005, 39,84a.

- Reichert, T.A., et al.: Am. J. Epidem. 2004, 160, 492.

- Keller, T., et al.:Cochrane Database of Systematic Reviews 2008, Issue 3. Art. No.: CD005050. DOI: 10.1002/14651858.CD005050.pub2.

- Siriwardena, A.N., etal.: CMAJ 2010, 182,1617.

- Phrommintikul, A., etal.: Eur. Heart J. 2011, 32,1730.

- Udell, J.A., et al.:JAMA 2013, 310, 1711.

- Govaert, T.M., et al.:JAMA 1994, 272, 1661.

- De Villiers, P.J., etal.: Vaccine 2009, 28, 228.

- AMB 2012, 46,09.

- Mcintyre, C.R., etal.: Heart 2013, 99, 1843.

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