Die neuen oralen Antikoagulanzien (NOAK) sind zur
Prophylaxe von Schlaganfällen bei Patienten mit Vorhofflimmern, bei der
Therapie tiefer Venenthrombosen und pulmonaler Embolien etwa gleich effektiv
wie Vitamin-K-Antagonisten (VKA). Unter einer Behandlung mit NOAK kommt es um
50% seltener zu intrazerebralen Blutungen. Der absolute Unterschied in der
Häufigkeit intrazerebraler Blutungen ist jedoch klein: nach einer Metaanalyse
der vier großen randomisierten kontrollierten Studien (= RCT; RE-LY,
ROCKET-AF, ARISTOTLE, ENGAGE AF-TIMI 48) zwischen NOAK und VKA beträgt er nur
0,4% pro Jahr (1). Daraus ergibt sich eine „Number needed to treat“ (NNT) von
250 bezogen auf ein Behandlungsjahr (1). In diesem Behandlungsjahr werden nach
einer weiteren Metaanalyse von 12 RCT mit über 57.000 Teilnehmern etwa 10
der 250 Patienten eine Major-Blutung (4%) und 25 eine Non-Major-, aber klinisch
relevante Blutung erleben (10%; vgl. 2). Neueste Registerdaten von über 9.000
Medicare-Patienten aus den USA sind beunruhigend. Demnach gibt es unter
Dabigatran im Vergleich zu VKA häufiger Blutungskomplikationen (32,7% vs. 26,5%
innerhalb eines Jahres). Insbesondere die Major-Blutungen wurden in diesem „Real-World-Register“
um 52% häufiger dokumentiert (9% vs. 5,9%; 3). Chirurgen fürchten die
Blutungen unter NOAK. Der Direktor einer großen herzchirurgischen Klinik
bemerkte am Rande eines Symposiums: „NOAK sind ein Teufelszeug! Die Patienten
bluten aus, und wir können nichts machen. Wir operieren erst, wenn das vier
Tage weggelassen wurde. Mit VKA können wir umgehen, mit den NOAK nicht“.
Das Management bedrohlicher Blutungen unter NOAK ist
schwierig und beinhaltet u.a. die Gabe von Fremdeiweiß (Prothrombinkomplex,
aktivierter Faktor VII, Erythrozytenkonzentrate), eine Belastung für das
Immunsystem. Blutungen unter NOAK sind dosisabhängig. Post-hoc-Analysen der
RE-LY-Population haben gezeigt, dass es starke interindividuelle Schwankungen
der Dabigatran-Serumspiegel gibt (um 500%!), und zwar auch abhängig von
Körpergewicht, Alter, Nierenfunktion und Geschlecht. Hohe Serumspiegel waren
dabei signifikant mit Blutungskomplikationen assoziiert (4). Es ist nur eine
Frage der Zeit, dass es auch für die anderen NOAK solche Daten gibt. Die
ursprünglichen Beteuerungen der Hersteller, dass bei NOAK keine Gerinnungskontrollen
mehr erforderlich sind, werden also auf Dauer nicht haltbar sein. Leider fehlt
eine Studie zum Vergleich zwischen NOAK und VKA mit INR-Selbstmanagement. In
den RCT lagen die INR-Messwerte nur bei 58-68% im therapeutischen Bereich, d.h.
ein Drittel der Zeit waren die VKA-Patienten über- oder unterantikoaguliert
(1). Es ist wahrscheinlich, dass die geringen klinischen Vorteile der NOAK kaum
noch nachzuweisen sind, wenn sie mit einem guten VKA-INR-Management (> 70%
im therapeutischen Bereich) verglichen werden. Auch ist die aktive Mitarbeit
der Patienten bei einem Selbstmanagement der Antikoagulation als Vorteil
anzusehen. Zudem wissen wir nicht, wie das Verhältnis zwischen gescreenten und
randomisierten Patienten in den RCT mit den NOAK war. Bekannt ist, dass mehr
als 25% der Patienten die Medikation während der Studien wieder abgesetzt
haben, meist wegen Nebenwirkungen. Wenn man annimmt, dass in den NOAK-Studien etwa
25% der gescreenten Patienten wegen fehlender Ein- oder bestehender
Ausschlusskriterien nicht berücksichtigt wurden und 25% die NOAK nicht
vertragen, dann besteht bei 50% der Patienten mit Vorhofflimmern eine
Wissenslücke.
All diesen Unsicherheiten zum Trotz haben die NOAK
längst die Rezeptblöcke und somit den Markt erobert. Die Werbekampagne der
Hersteller ist beispiellos. Es ist ihnen gelungen, ihre Produkte weit sicherer
und überlegener darzustellen als dies der Realität entspricht. Besonders
negativ fallen bei dieser Kampagne die medizinischen Experten auf, die eine
zentrale Rolle bei der Vermarktung der NOAK spielen. Exemplarisch für die unzähligen
Expertenstatements sei ein „österreichischer Konsensus“ über den Einsatz von
direkten oralen Antikoagulanzien bei Vorhofflimmern genannt. In der aktuellen
Wiener Klinischen Wochenschrift meinen 16 Experten aus sechs österreichischen
Fachgesellschaften, dass NOAK nunmehr erste und VKA nur noch zweite Wahl bei
Vorhofflimmern sind (5). Bedauert wird, dass ihren Empfehlungen, „die
wahrscheinlich zu einer Abnahme von Schlaganfällen und entsprechenden
Folgekosten führen würden“, die Verschreibungsvorgaben in Österreich
gegenüberstehen. Es wird also der Sozialversicherung indirekt der Vorwurf
gemacht, durch die Reglementierung der Verschreibung von NOAK an vermeidbaren
Schlaganfällen mit Schuld zu sein. Die „technische Durchführung dieses
Konsensusmeetings und des nachfolgenden Abstimmungsprozesses“ wurde von den
Firmen Boehringer Ingelheim (Pradaxa®), Bayer (Xarelto®)
und Pfizer (Eliquis®) organisiert und bezahlt. Darüber hinaus wurde
offensichtlich ein medizinischer Ghostwriter eingesetzt (Firma Medical Dialogue)
und dafür gesorgt, dass der Artikel frei genutzt, verteilt und reproduziert
werden darf. Die Autoren deklarieren zwar, an dem Konsensus unentgeltlich
mitgearbeitet zu haben, zugleich haben 14 der 16 Autoren umfangreiche
finanzielle Verbindungen mit den Herstellern der NOAK, z.B Honorare für
Advisory Boards, Vorträge und Beraterverträge. Hier verschwimmt, leider wie so
oft, die Grenze zwischen Wissenschaft und Lobbyismus.
Wie wirksam das Marketing der Hersteller und die
Äußerungen der inter(nationalen) Experten auf die Verschreiber sind, zeigen
auch die Zahlen des Arzneiverordnungs-Reports 2014 (6). Im Jahr 2013 wurden zwar
weniger VKA verschrieben als im Vorjahr (Rückgang von 389 Mio. DDD auf
369 Mio. DDD), gleichzeitig nahmen aber die Verordnungen der NOAK von
41 Mio. DDD auf 115 Mio. DDD zu. Das bedeutet, es wurden 2013
55 Mio. DDD orale Antikoagulanzien (OAK) mehr verordnet als im Jahr davor.
Die Verordnungen von Rivaroxaban stiegen von 2012 bis 2013 besonders stark um
226,3% und verursachten Nettokosten von 279,3 Mio. €. Das ist Platz vier (!)
der Arzneimittel mit den höchsten Nettokosten (6). Auch Zahlen der Salzburger
Gebietskrankenkasse belegen, dass die NOAK-Verordnungen von rund 1.000
Verordnungen pro Quartal im Jahre 2012 auf 6.000 im 2. Quartal 2014
zugenommen haben. Im gleichen Zeitraum blieben die Verordnungen von VKA fast
konstant: um die 4.000 pro Quartal. Seit 2012 haben sich also die Verordnungen
von oralen Antikoagulanzien (OAK) mehr als verdoppelt (von 5.000 auf über 10.000
pro Quartal). Der NOAK-Anteil beträgt in Salzburg mittlerweile um 60%, die
Kosten für OAK haben sich dadurch mehr als verfünffacht (7). Die Strategie der
Hersteller ist zumindest in Salzburg voll aufgegangen. Die in der Werbung
verbreitete Aussage, NOAK seien viel sicherer und einfacher zu handhaben als
VKA (mit der Ausnahme bei Blutungen), hat dazu geführt, dass die Verordnungen
für Antikoagulanzien erheblich zugenommen haben. Besonders in den Kliniken
scheinen viele Hemmungen gefallen zu sein. Auf jede kurze Episode von
Vorhofflimmern wird nun vielerorts reflexhaft mit einer dauerhaften
Antikoagulation reagiert. Während im Zeitalter der VKA noch sorgsam das Für (Nutzen)
und Wider (Risiken) einer OAK-Behandlung abgewogen wurden, scheint dies heute
kaum noch eine Rolle zu spielen. Die Patienten erhalten auch schon bei geringem
Schlaganfallrisiko eine Antikoagulation. In einem dänischen Register mit über
12.000 neu antikoagulierten Patienten mit Vorhofflimmern (8) betrug der
mittlere CHADS2-Score nur 1,16. Zum Vergleich: in den vier RCT zu
NOAK lag dieser Score zwischen 2,1 und 3,5 (1).
Als Konsequenz der deutlich niedrigeren Verschreibungsschwelle
besteht auch die Gefahr, dass nur wenig mehr Nutzen, aber deutlich mehr Schaden
entsteht. Wenn durch Verharmlosung potenzieller Nebenwirkungen jetzt viele Patienten
mit niedrigem Schlaganfallrisiko ein NOAK erhalten, dürften wir künftig
deutlich mehr Blutungskomplikationen sehen, ohne dass entsprechend mehr Schlaganfälle
verhindert werden (vgl. Tab. 1). DER ARZNEIMITTELBRIEF ist überzeugt, dass
die Indikationen für NOAK ebenso vorsichtig gestellt werden müssen wie für VKA.
Das durch Werbung entstandene positive Image und die propagierte einfachere
Handhabung dürfen nicht zu Überverordnung, mangelnder Aufmerksamkeit und
dadurch zu mehr Medikationsfehlern führen.
Literatur
- Ruff, C.T.,et al.: Lancet 2013, 383, 955.
Vgl.AMB 2014, 48, 41 . AMB 2014, 48, 71. 
- Chai-Adisaksopha,C., et al.: Blood 2014, 124, 2450.

- Hernandez, I., et al.: JAMA Int. Med. 2014, online Nov. 3.

- Reilly, P.,et al. (RE-LY = Randomized Evaluation of Long-TermAnticoagulation TherapY): J. Am. Coll. Cardiol. 2014, 63, 321.
Vgl. AMB 2010, 44,06b. 
- Pabinger, I., et al.:Wien. Klin. Wochenschr. 2014, 3.Okt. online, ahead of print.
- Schwabe, U.,und Paffrath, D. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2014. Springer-Verlag BerlinHeidelberg, 2014. S. 470. Vgl. AMB 2014, 48, 78b.

- SalzburgerGebietskrankenkasse (SGKK). Chefarzt Dr. Grüner, persönliche Mitteilung.
- Larsen, T.B., et al.: J.Am. Coll. Cardiol. 2013, 61, 2264.

- ESC-GuidelinesManagement of Atrial Fibrillation: Eur. Heart J. 2010, 31, 2369. Erratum:Eur. Heart J. 2011, 32, 1172.

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