Zusammenfassung: Für
die meisten potenziellen medizinischen Anwendungsgebiete von Cannabinoiden gibt
es derzeit nur wenig Evidenz, so dass eindeutige Empfehlungen kaum möglich
sind. Ihre Wirksamkeit ist nur in wenigen Indikationen belegt. Auch wegen ihrer
Nebenwirkungen sind sie keine Mittel der ersten Wahl. Ein gewisser
therapeutischer Stellenwert von Cannabinoiden könnte vor allem bei
palliativmedizinischen Indikationen gesehen werden. Sowohl die Heterogenität der
untersuchten Präparate (pflanzlich, extrahiert, teil- bzw. vollsynthetisiert)
als auch die unterschiedlichen nationalen Rechtslagen erschweren die dringend
erforderlichen Bestrebungen, die Datenlage zu verbessern. Isolierte Wirkstoffe
in einer sicher zu dosierenden Arzneiform sind aus
medizinisch-pharmakologischer Sicht der inhalativen Applikation von Marihuana
zu bevorzugen, aber derzeit nur sehr eingeschränkt verfügbar.
Der Eigenanbau von Cannabis
zu therapeutischen Zwecken muss vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in
Einzelfällen genehmigt werden – das hat das Verwaltungsgericht in Köln im Juli
2014 entschieden. Bedingung ist allerdings, dass zumutbare
Behandlungsalternativen für den Patienten ausgeschöpft sind und ihm der Erwerb von
Cannabis aus der Apotheke zwar behördlich genehmigt, aber finanziell nicht
möglich ist. Außerdem muss ein Zugriff Dritter auf die Pflanzen und Produkte
hinreichend sicher ausgeschlossen werden (1). Die Bundesregierung hat gegen das
Urteil Revision eingelegt, so dass es nicht rechtskräftig ist und die Patienten
Cannabis zu Therapiezwecken weiterhin nicht legal anbauen können. Außerdem hat
sie ein Gesetzesvorhaben angekündigt, um den Zugang zu Cannabis als Medizin zu
erleichtern. So sollen zukünftig die anfallenden Kosten von den Krankenkassen übernommen
werden. Auf die (gesellschafts-)politischen und (medizin-)rechtlichen
Dimensionen des vieldiskutierten Vorgangs wollen wir hier nicht näher eingehen.
Im Folgenden soll ein Überblick über die Datenlage zur Wirksamkeit und zu
Nebenwirkungen von Cannabinoiden in therapeutischen Indikationen gegeben
werden.
Zunächst
muss aus pharmakologischer Sicht grundsätzlich zwischen pflanzlichem Cannabis,
Extrakten und (teil-)synthetischen Cannabinoiden unterschieden werden:
Pflanzenbestandteile: In Blüten und
blütennahen Blättern (Marihuana) sowie im Harz (Haschisch) der weiblichen
Hanfpflanze (Gattung Cannabis) sind die Wirkstoffe (über 60 verschiedene
Cannabinoide) in hoher Konzentration enthalten. Verantwortlich für die
pharmazeutische Wirkung sind insbesondere Tetrahydrocannabinol (THC) und das nicht psychoaktive Cannabidiol (CBD). Der THC-Gehalt von Marihuana ist seit den
1980er Jahren durch Züchtung von 3% auf bis zu 12% gestiegen. Marihuana und
Haschisch (in der Folge unter „Marihuana“ subsumiert) werden in der Regel als
Rauch oder Dampf inhaliert, seltener oral konsumiert. Aufgrund des Status als
illegale Droge unterliegt die Marihuana-Anwendung zu medizinischen und
Forschungszwecken in den meisten Staaten äußerst strengen Restriktionen.
Pflanzliche Cannabiszubereitungen sind dennoch in vielen Staaten Europas (nicht
in Österreich) und vielen Bundesstaaten der USA verschreibungsfähig. Nach
Angaben der New York Times wenden in den USA trotz unsicherer medizinischer Datenlage
eine Million Patienten Marihuana – je nach rechtlicher Situation im jeweiligen
Bundesstaat legal oder illegal – zu therapeutischen Zwecken selbst an (2). In
Deutschland können Patienten seit Februar 2009 Cannabisblüten per behördlicher
Ausnahmegenehmigung legal aus der Apotheke beziehen.
Extrahierte Cannabinoide: THC und CBD werden
zu medizinischen Zwecken auf feste Wirkstoffgehalte standardisiert. Ein Extrakt
aus Cannabis sativa ist als Fertigarzneimittel in Europa, Kanada u.a. Ländern zugelassen
(Sativex®). Wirksubstanzen sind THC und CBD, die Indikation ist Multiple
Sklerose (s.u.).
Teil- und vollsynthetische Cannabinoide: Dronabinol
ist chemisch identisch mit THC und wird durch Teilsynthese aufwändig aus
natürlichem CBD gewonnen und zwar aus rechtlichen Gründen aus Nutzhanf mit
geringem THC-Gehalt. Zugelassenes Fertigarzneimittel: Marinol® (USA,
Kanada). Indikationen: AIDS-Anorexie, Übelkeit/Erbrechen bei Chemotherapie.
Nabilon wird
vollsynthetisch hergestellt. Zugelassene Fertigarzneimittel: Canemes®
(Österreich), Cesamet® (USA, UK). Indikationen: AIDS-Anorexie,
Übelkeit/Erbrechen bei Chemotherapie (s.u.). Sowohl Dronabinol als auch Nabilon
sind in Deutschland und Österreich verschreibungsfähig, unterliegen aber dem Betäubungsmittelgesetz
bzw. dem Suchtmittelgesetz.
Mögliche
Indikationen für Cannabinoide: Multiple Sklerose (MS): Ein
Cannabisextrakt, der THC und CBD enthält (Nabiximols = Sativex®), ist
als oraler Spray zur Zusatzbehandlung von mittelschwerer bis schwerer,
therapieresistenter Spastik bei MS zugelassen (vgl. 3). Der
Cannabisextrakt scheint auch gegen neuropathische Schmerzen und Schlafstörungen
bei MS zu wirken (4).
Nausea: Chemotherapie-induzierte Übelkeit und
Erbrechen war einer der ersten untersuchten medizinischen Einsatzbereiche von
Cannabis. Die Wirksamkeit in dieser Indikation gilt als belegt. Seit der
Entwicklung spezifischer Serotoninantagonisten spielen Cannabinoide bei der
Behandlung chemotherapieinduzierter Übelkeit allerdings praktisch keine Rolle
mehr (5). Zulassungen: Dronabinol (Marinol®), Nabilon (Canemes®,
Cesamet®).
AIDS-assoziierte Anorexie: Es gibt Berichte,
die auf positive Effekte von Marihuana-Konsum auf Appetit, Gewichtszunahme,
Stimmung und Lebensqualität von AIDS-Patienten hinweisen. Die (wenigen) Studiendaten
sind jedoch ohne Evidenz für eine Beeinflussung der AIDS-assoziierten Letalität
und Morbidität (6). Zulassungen: Dronabinol (Marinol®), Nabilon
(Canemes®, Cesamet®).
Chronische Schmerzen: Cannabis wirkt
über zentrale und wahrscheinlich auch periphere (Endo-)Cannabinoid-Rezeptoren
auf die Nozizeption und wird bereits seit Jahrtausenden zur Schmerzlinderung
eingesetzt. Der schmerzstillende Effekt ist jedoch deutlich geringer als bei
anderen Wirkstoffen (z.B. Opioide) und deshalb auch nicht zur Behandlung akuter
Schmerzen geeignet (7). Bei chronischen Schmerzen dagegen weisen Daten aus
einigen klinischen Studien auf eine Wirksamkeit hin. Wenn andere Therapien nicht
ausreichend wirksam sind, ist deswegen bei chronischen und besonders
neuropathischen Schmerzen ein Behandlungsversuch mit Cannabinoiden
gerechtfertigt (4, 5). Zulassungen: keine.
Glaukom: Bei der Untersuchung gesunder Konsumenten
zeigte sich bereits Anfang der 1970er Jahre zufällig, dass Marihuana den
Augeninnendruck senkt. Nachfolgende Studien an gesunden Probanden und
Glaukompatienten fanden, dass die Wirkung von Cannabinoiden auf den
Augeninnendruck interindividuell sehr unterschiedlich ist, nur 4-6 Stunden
anhält und sich z.T. erst bei hohen Dosierungen einstellt (5). Standardmedikamente
sind in dieser Indikation wirksamer (7). Zulassungen: keine.
Chronische Entzündungen: Cannabinoide wirken
antiinflammatorisch durch Apoptose-induzierende, proliferationshemmende und Zytokin-supprimierende
Effekte (7). Aus Tierversuchen, Erfahrungen in der Selbstmedikation und wenigen
Daten kleiner klinischer Studien ergeben sich Hinweise auf eine Wirkung bei
Entzündungen und Autoimmunerkrankungen, z.B. chronischer Polyarthritis und
chronisch entzündlichen Darmerkrankungen. Für eine abschließende Bewertung ist
die Datenlage unzureichend (4, 5, 8). Zulassungen: keine.
Epilepsie: Hier gibt es aus Tierexperimenten und kleinen
Fallserien Hinweise auf eine Reduktion der Anfallshäufigkeit durch Marihuana und
auf eine antiepileptische Wirksamkeit von CBD (7). Belastbare Daten zu
Effektivität und Langzeitsicherheit fehlen aber (9). Zulassungen: keine.
Nebenwirkungen:
Die Nebenwirkungen extrahierter und synthetischer Cannabinoide
wurden in verhältnismäßig kleinen Studien erhoben und werden in den
Gebrauchsinformationen aufgeführt: Sehr häufig: dosisabhängiger
Rauschzustand (Euphorie, Begeisterung, Wahrnehmungssteigerung), Schwindel,
Somnolenz, Mundtrockenheit (insbesondere bei Nabilon). Gelegentlich bis häufig:
Angst, Nervosität, Gedankenstörungen, Paranoia, Albträume, Sprachstörungen,
Sehstörungen, Tinnitus, Bauchschmerzen, Übelkeit/Erbechen, Diarrhö, Tachykardie,
Flush, Hypotension, Muskelschwäche, Myalgien.
Zu den
Nebenwirkungen bei längerer Anwendung von pflanzlichem Marihuana ist im N. Engl.
J. Med. ein Reviewartikel erschienen (7). Er befasst sich vor allem mit dem
inhalativen Langzeitkonsum von Marihuana als Genussmittel („recreational use“),
geht aber auch auf die potenziellen medizinischen Anwendungen („medical use“)
ein. Darin werden genannt:
Suchtrisiko: Epidemiologisch ist belegt: Der
Anteil der Konsumenten, die eine Sucht nach DSM-IV-Definition entwickeln,
beträgt 9%, wenn nur gelegentlich mit Marihuana „experimentiert“ wird; 17%,
wenn der Konsum bereits im Teenageralter beginnt und 25-50% bei täglichem
Konsum. Im Zusammenhang mit medizinischem Gebrauch wurde auch über ein (mildes)
Cannabis-Entzugssyndrom berichtet (u.a. Reizbarkeit, Schlafstörungen, Dysphorie,
„Craving“, Angst).
Assoziation mit psychischen Erkrankungen:
Regelmäßiger Konsum von Cannabis ist mit Angststörungen, Depression und
Schizophrenie (insbesondere bei genetischer Prädisposition) assoziiert, höhere
Dosen von Cannabis und jüngeres Alter mit einem schwereren Verlauf bei
Schizophrenie. Eindeutige Kausalitätsnachweise sind allerdings von Natur aus
nicht möglich, denn verschiedene andere Faktoren könnten unabhängig sowohl für
Cannabiskonsum als auch für psychische Erkrankungen prädisponieren.
Unfallrisiko: Die unmittelbare Cannabisexposition
scheint einen ähnlichen, dosisabhängigen Effekt auf die Verkehrstüchtigkeit zu
haben wie Alkohol. Einer Metaanalyse zufolge erhöht sich nach Cannabiskonsum
das Risiko, an einem Verkehrsunfall beteiligt zu sein, um den Faktor 2;
eine andere Analyse ergab einen Faktor 3-7 für Personen, die positiv auf THC
getestet wurden. Zum Vergleich: Bei einem Blutalkoholspiegel über 0,8 Promille
liegt dieser Faktor bei 5.
Krebs- und andere somatische Gesundheitsrisiken: Es
fehlen verlässliche Studienergebnisse. Nach Adjustierung für begleitende
Risikofaktoren wie Tabakrauchen konnte in einer Studie kein erhöhtes
Malignomrisiko bei einer Langzeitbelastung von „30 Joint-Years“ (entsprechend
einem Joint pro Tag über 30 Jahre) nachgewiesen werden. Auch ein möglicher
Zusammenhang mit kardiovaskulären Erkrankungen ist nicht klar.
Literatur
- http://www.vg-koeln.nrw.de/presse/pressemitteilungen/archiv/ 2014/14_140722/index.php

- NewYork Times, August 2014:

- AMB2012, 46, 55.

- Grotenhermen,F., und Müller-Vahl, K.: Dtsch. Arztebl. Int. 2012,109,495.
- Radbruch, L.,und Nauck, F. (Hrsg.): Cannabinoide in der Medizin. Uni-Med Verlag AG Bremen,London, Boston 2005, 1. Aufl.
- Lutge, E.E., etal. CochraneDatabase Syst. Rev. 2013, Issue 4. CD005175.

- Volkow, N.D., et al.: N. Engl. J.Med. 2014, 370, 2219.

- Naftali, T., etal.: Dig. Dis. 2014, 32, 468.

- Gloss, D., und Vickrey, B.:Cochrane Database Syst. Rev. 2014, Issue 3. CD009270.

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