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Arzneimitteltherapie bei Kindern – die schwierige Suche nach Evidenz

Zusammenfassung: In weiten Bereichen der Arzneimitteltherapie bei Kindern besteht nach wie vor ein Mangel an Evidenz. Der Anteil von Off-Label-Anwendungen ist seit Jahren unverändert hoch, besonders im stationären, aber auch im ambulanten Bereich. Dass es wenig Studiendaten für diese Altersgruppen gibt, liegt einerseits an schwierigen ethischen, rechtlichen und medizinischen Fragen, andererseits aber auch am fehlenden Interesse der pharmazeutischen Unternehmer. Die Gewinnaussichten sind zu gering und Studien zu aufwändig – trotz regulatorischer Maßnahmen auf europäischer Ebene, mit denen seit einigen Jahren versucht wird, entsprechende Anreize zu schaffen.

Kinder sind keine kleinen Erwachsenen und Jugendliche keine großen Kinder. Frühgeborenen-, Neugeborenen-, Säuglings-, Kleinkindes-, Schul- und Jugendalter unterscheiden sich teilweise sehr stark hinsichtlich Resorption, Verteilung, Metabolisierung und Elimination von Arzneimitteln. Aber auch auf anderen Ebenen hat die Arzneimitteltherapie im Kindes- und Jugendalter Besonderheiten: Für die Behandlung mancher Erkrankungen von Kindern gibt es zwar ausreichende Evidenz und auch Behandlungsleitlinien, diese werden aber infolge falscher Erwartungshaltungen und Fehlinformation der Eltern und manchmal auch der behandelnden Ärzte oft nur unzureichend umgesetzt. So ist beispielsweise bei den häufigen Atemwegsinfektionen (1) bzw. beim Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS; 2) eine Tendenz zur Übertherapie mit Antibiotika bzw. Psychostimulanzien zu beobachten, während bei bestimmten Impfungen zur Prävention der klassischen Kinderkrankheiten, beispielsweise gegen Masern, das Gegenteil der Fall ist. Anders sind die Probleme bei den – oft durch Gendefekte bedingten – sogenannten Orphan diseases, d.h. extrem seltenen Krankheiten (EU-Definition: Prävalenz < 5/10.000), die häufig Kinder betreffen (3). An der Pharmakotherapie dieser Erkrankungen besteht seitens der forschenden pharmazeutischen Unternehmer (pU) in der Regel kein großes Interesse, denn die Neuentwicklung von Arzneimitteln und die Durchführung klinischer Studien sind aus verschiedenen Gründen langwierig und teuer (s.u.). Zudem sind die Märkte klein und das wirtschaftliche Potenzial ist als gering einzuschätzen. Für die Therapie von Orphan diseases liegt daher oft nur begrenzte Evidenz vor. Durch erleichterte Zulassungsverfahren für Orphan drugs und verlängerte Fristen der Marktexklusivität hat sich die Situation in den vergangenen zehn Jahren etwas verbessert. Paradoxerweise konnten manche pU unter diesem Schutz sogar den einen oder anderen Blockbuster (Definition: > 1 Mrd. US-$ Jahresumsatz) unter den Orphan drugs etablieren. Dennoch sind diese Arzneimittel nicht immer in ausreichender Menge und/oder zu rationalen Preisen verfügbar (3).

Aber auch bei vielen anderen Erkrankungen werden in der Pädiatrie Arzneimittel eingesetzt, die nie in kontrollierten Studien an Kindern und Jugendlichen getestet worden sind. Betroffen sind vor allem Herz-Kreislauf-Mittel, Anästhetika, Antibiotika, onkologische Arzneimittel und Analgetika. Es sind dies Wirkstoffe, die nur für Erwachsene untersucht und zugelassen sind und deren z.T. weit verbreitete Anwendung im Kindesalter somit „Off label“ (nicht zulassungskonform) ist. Seit mehr als 15 Jahren wird in der pädiatrischen Arzneimitteltherapie über einen Anteil von Off-Label-Use zwischen etwa 20% (im ambulanten Bereich) und 90% (auf Neugeborenen-Intensivstationen) berichtet – ohne wesentliche Änderungstendenz (4, 5). Nicht zulassungskonform sind dabei sehr oft nicht nur die Altersgruppe, sondern auch die Indikation und/oder die Darreichungsform. Diese ist in der Pädiatrie – notgedrungen – häufig unsachgemäß, z.B. pulverisierte Tabletten, Vermischung mit Nahrung. Durch die spezifische Pharmakodynamik und -kinetik des kindlichen Organismus kann es zu Unter- oder Überdosierungen kommen – mit unvorhersehbaren Nebenwirkungen. Es ist lange bekannt, dass Off-Label-Use von Arzneimitteln bei Kindern mit mehr Nebenwirkungen assoziiert ist (6).

Um die Evidenzlücken in der pädiatrischen Arzneimitteltherapie zumindest zu verkleinern, wurde im Januar 2007 nach dem Vorbild der US-amerikanischen FDA eine EU-Verordnung (Nr. 1901/2006) erlassen (7): Sollte ein pharmazeutischer Unternehmer ein neues Medikament oder eine neue Indikation entwickeln, muss in einem frühen Entwicklungsstadium ein pädiatrischer Prüfplan (Paediatric investigation plan = PIP) vorgelegt werden, der vom Pädiatrieausschuss (PDCO) der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) geprüft wird. Wird der genehmigte Prüfplan erfüllt und die Studie an Kindern vorgenommen, erhält der pharmazeutische Unternehmer als finanziellen Anreiz und Kompensation für den Mehraufwand eine Verlängerung des Patentschutzes um sechs Monate, bei Orphan drugs eine bis zu zwei Jahre auf insgesamt 12 Jahre verlängerte Marktexklusivität. Diese gilt für alle Indikationen, auch für den Fall, dass die Ergebnisse der pädiatrischen Studien negativ ausfallen und es keine diesbezügliche Zulassungserweiterung gibt. Ausgenommen sind Generika, Biosimilars sowie homöopathische und traditionelle pflanzliche Mittel, für die keine pädiatrische Prüfung erfolgen muss. Auch für ältere, bereits patentfreie Arzneimittel kann (!) der pU nach der Regelung der Paediatric Use Marketing Authorisation (PUMA) durch klinische Studien eine offizielle pädiatrische Zulassung erlangen. Es wird ihm dafür eine Marktexklusivität als pädiatrisches Präparat für zehn Jahre gewährt.

Die Daten aus allen laufenden, abgeschlossenen und vorzeitig abgebrochenen Studien mit Kindern müssen im EU Clinical Trials Register (8) erfasst werden, um eine unnötige Wiederholung von Studien mit Kindern zu vermeiden.

Infolge dieser EU-Verordnung kam es zwar zu einem Anstieg von Studien an Kindern und Jugendlichen bei Neuzulassungen, dennoch bestehen weite Graubereiche:

  • Bei älteren, patentfreien, nicht für Kinder zugelassenen Arzneimitteln (für die die oben genannte Kann-Bestimmung gilt) haben Hersteller häufig trotz des gewährten Unterlagenschutzes kein Interesse an neuerlichen klinischen Studien, so dass in dieser sehr großen Arzneimittelgruppe der Anteil der Off-Label-Verschreibungen besonders hoch ist. Die EU versucht hier, durch eine gezielte institutionelle Förderung pädiatrischer Forschung (z.B. an Universitäten) zusätzlich Abhilfe zu schaffen.
  • Ärzte haben im Rahmen der Therapiefreiheit die Möglichkeit, für Kinder zugelassene Präparate gegen wirkstoffidentische (aber nicht für Kinder zugelassene) Präparate, z.B. (kostengünstigere) Generika auszutauschen, die formell dann ebenfalls als Off Label gelten.

Die oben genannten Anreize in Form verlängerter Marktexklusivität sind dem deutschen Bundesverband der pharmazeutischen Industrie e.V. (BPI) aber offenbar noch zu wenig lukrativ. Kürzlich wurden Forderungen nach einer Ausweitung erhoben (9):

  • Automatische Attestierung eines „beträchtlichen Zusatznutzens“ – der zweitbesten Bewertung – für alle nach PUMA für pädiatrische Indikationen zugelassenen Arzneimittel durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA).
  • Arzneimittel mit pädiatrischer Zulassung sollen nicht durch Arzneimittel ohne eine solche ersetzt werden dürfen, auch nicht durch Rezepturarzneimittel.
  • Wenn dies dennoch geschieht, dann sollten diese nicht erstattungsfähig sein.
  • Marktexklusivität analog zu Orphan drugs.

Neben den offensichtlichen Diskrepanzen zwischen umsatzorientierter Wirtschaft und evidenzorientierter Wissenschaft wird bei diesem Thema ein großes ethisches Dilemma sichtbar. Auf der einen Seite steht die berechtigte Forderung nach evidenzbasierter Medizin für Kinder, auf der anderen stehen die Schwierigkeiten und ebenso berechtigten Bedenken hinsichtlich klinischer Studien an Kindern. Das Abwägen des mit einer Studienteilnahme unmittelbar verbundenen Nutzens bzw. Risikos für das individuelle Kind muss noch intensiver erfolgen als bei normalerweise eigenverantwortlichen und einwilligungsfähigen Erwachsenen. Im Gegensatz zu Demenzkranken („dauerhaft nicht einwilligungsfähig“) und Intensiv-/Notfallpatienten („temporär nicht einwilligungsfähig“) entwickeln Kinder ihre Einwilligungsfähigkeit sukzessive mit zunehmendem Lebensalter. In Deutschland müssen nach dem Arzneimittelgesetz (AMG 2004) Jugendliche aufgeklärt werden und schriftlich zustimmen, dass sie an der Studie teilnehmen werden. Die Eltern müssen eine separate Einwilligungserklärung unterschreiben, da sie rechtlich zuständig sind. Vorausgesetzt, dass Risiko und Belastung durch eine Studienteilnahme für das Kind „nicht vorhanden oder minimal“ sind, verlangt die österreichische Bioethikkommission daher für Studien an Kindern bis zum 14. Lebensjahr eine Aufklärung und Zustimmung der Eltern bzw. des Elternteils, der das Sorgerecht hat. Für Minderjährige ab dem 14. Lebensjahr („mündige Minderjährige“) sieht die Bioethikkommission unter derselben Voraussetzung kein solches Erfordernis mehr, d.h. die Einwilligungserklärung des Jugendlichen wird dann in der Regel als ausreichend angesehen (10).

Was bedeutet diese schwierige Situation nun für den behandelnden Pädiater oder Allgemeinmediziner?

  • Überall dort, wo Leitlinien vorhanden sind, sollte sich eine Arzneimitteltherapie grundsätzlich an diesen orientieren.
  • Nach Möglichkeit sollten Arzneimittel verwendet werden, die für die entsprechende Altersgruppe und Indikation untersucht und zugelassen sind. Ein Austausch mit wirkstoffidentischen Präparaten ist aus unserer Sicht vertretbar.
  • In weiten Bereichen der Pädiatrie wird sich aber die Arzneimitteltherapie mangels Studiendaten weiterhin nach Expertenkonsens und „well established use“ richten müssen, und ein hoher Anteil von Off-Label-Anwendungen wird nicht zu vermeiden sein.
  • Spezielle Besonderheiten der pädiatrischen Arzneimitteltherapie sollten beachtet werden, d.h. Anpassen der Dosierung nach Körpergewicht oder -oberfläche, Verteilung, Metabolisierung, Elimination und Darreichungsform des Arzneimittels (11).

Literatur

  1. AMB 2011, 45, 19 Link zur Quelle. AMB 2009, 43, 85a Link zur Quelle . AMB 2006, 40, 85. Link zur Quelle
  2. AMB 2015, 49, 14. Link zur Quelle
  3. AMB 2008, 42, 73. Link zur Quelle
  4. AMB 2008, 42, 81. Link zur Quelle
  5. Lindell-Osuagwu,L., et al.: J.Clin. Pharm. Ther. 2009, 34, 277. Link zur Quelle
  6. Horen, B., et al.: Br. J. Clin. Pharmacol. 2002,54, 665. Link zur Quelle
  7. http://ec.europa.eu/health/human-use/paediatric-medicines/index_en.htm Link zur Quelle
  8. https://www.clinicaltrialsregister.eu/ Link zur Quelle
  9. http://www.bpi.de/home/ nachrichten/nachrichten/situation-fuer-kinderarzneimittel-muss-verbessert-werden/ Link zur Quelle
  10. www.bka.gv.at/DocView.axd?CobId=51902 Link zur Quelle
  11. Seyberth, H.J., et al. (Eds.):Pediatric Clinical Pharmacology. Springer Verlag, Berlin, Heidelberg 2011.