Kein Antidot verfügbar – dieser Mangel wird in der
Diskussion um die nicht-Vitamin-K abhängigen neuen oralen Antikoagulanzien (NOAK)
als wichtiger Nachteil angeführt (vgl. 1). Mit bedeutsamen Blutungen unter
NOAK-Therapie ist immerhin bei 1,6-3,6% der Patienten pro Jahr zu rechnen, je
nach verabreichter Dosis und zu Grunde liegender Nierenfunktion (2). Derzeit
müssen je nach verwendetem NOAK 2-3 Halbwertszeiten abgewartet werden, bis
sich die Gerinnung spontan wieder normalisiert. Notfallmediziner sind in dieser
Zeit auf mehr oder weniger effektive blutstillende Maßnahmen angewiesen.
Im November 2015 wurde nun mit Idarucizumab (Praxbind®)
ein Antidot gegen den Thrombininhibitor Dabigatran von der europäischen
Arzneimittel-Agentur (EMA) zugelassen (3). Idarucizumab ist ein monoklonales
Antikörperfragment, das spezifisch freies und gebundenes Dabigatran bindet und
dadurch neutralisiert. Es darf angewendet werden, wenn die Hemmung der
Gerinnung rasch gestoppt werden muss, z.B. vor Notfalloperationen oder bei
lebensbedrohlichen Blutungen. Die Zulassung beruht auf drei Phase-I-Studien mit
insgesamt 283 gesunden Freiwilligen sowie einer derzeit noch laufenden
prospektiven Kohortenstudie mit Patienten, die unter Dabigatran eine Blutungskomplikation
haben oder dringend operiert werden müssen (RE-VERSE AD; 4). Diese
Studie ist eine offene, prospektive Kohortenstudie, d.h. es gibt keine
Kontroll-Gruppe. Es ist geplant, in die Studie bis zu 300 Patienten in
mehr als 400 Zentren in 38 Ländern einzuschließen. Eine
Zwischenanalyse der ersten 90 Patienten wurde im August 2015 im N. Engl.
J. Med. publiziert (4). Die Patienten erhalten zweimal 2,5 g Idarucizumab
als Bolus-Infusion im Abstand von 15 Minuten. Primärer Endpunkt ist der
maximale Grad der Antagonisierung der gerinnungshemmenden Wirkung von Dabigatran,
gemessen anhand zweier Laborparameter, der verdünnten Thrombinzeit (dilute
thrombin time = dTT) und der Ecarin-Gerinnungszeit (Ecarin Clotting Time =
ECT).
Bei den publizierten 90 Patienten (86 von 90 waren
wegen Vorhofflimmerns antikoaguliert, 51 hatten eine schwere Blutung, 39 eine
dringende OP) lag die letzte Einnahme von Dabigatran im Median
15,4 Stunden zurück. 22 Patienten hatten bereits vor Infusion von
Idarucizumab eine normale dTT, 9 eine normale ECT. Die Wirkung des Antidots
konnte also nur bei 68 bzw. 81 Patienten ausgewertet werden.
Mit einer Ausnahme normalisierten sich unter Idarucizumab
die beiden Gerinnungstests innerhalb von wenigen Minuten. Die ebenfalls
gemessene Konzentration von ungebundenem Dabigatran lag bei 79% der Patienten
innerhalb der ersten 24 Stunden unter 20 ng/ml, einer Konzentration,
bei der keine oder nur eine geringe antikoagulatorische Wirkung besteht. Die
Wirksamkeit von Idarucizumab war unabhängig von den (sehr unterschiedlichen)
Dabigatran-Spiegeln vor der Infusion.
Bei den Patienten, die Idarucizumab wegen einer schweren
Blutung erhielten, sistierte die Blutung klinisch nach einer medianen Zeit von
11,4 Stunden, wobei hierzu nur bei 35 von 51 Patienten adäquate
Angaben vorlagen. Bei 36 von 39 Patienten, die das Antidot wegen einer
dringenden OP erhielten, lagen Berichte über die intraoperative Blutstillung
vor. Bei 33 wurde diese als „normal“, bei zweien als „leicht“ und bei einem als
„mäßig gestört“ eingestuft.
Die Verträglichkeit von Idarucizumab wird als gut
beschrieben; Kopfschmerz war die häufigste Nebenwirkung (3). In der Zulassungsstudie
RE-VERSE AD (4) wurden thrombotische bzw. embolische Ereignisse registriert bei
fünf von 123 Patienten 2-13 Tage nach Infusion von Idarucizumab. Bei
keinem dieser Patienten war eine antithrombotische Behandlung wieder aufgenommen
worden. Insgesamt wurden 18 Todesfälle berichtet. Diese wurden von der EMA
jedoch auf die Grunderkrankung bzw. die Notfallsituation und nicht auf die
Behandlung mit dem Antidot zurückgeführt (3).
Von den Patienten, die Idarucizumab erhalten hatten, entwickelten
danach 4% Antikörper gegen das monoklonale Antikörperfragment, und 13% hatten
bereits vor der Behandlung Antikörper (Kreuzreaktivität). Dies könnte
einerseits zu einer abgeschwächten Wirkung führen, aber auch zu schweren
allergischen Reaktionen bei wiederholten Gaben des Antidots. Zu erwähnen ist auch,
dass Praxbind® eine größere Menge Sorbit enthält, was bei Patienten
mit hereditärer Fruktoseintoleranz zu beachten ist (3).
Der Preis von Praxbind®, das ab Januar 2016 erhältlich
sein soll, ist noch nicht bekannt. Es wird vermutet, dass er um 2.500 €
liegen wird (5). Die Anwendung wurde von der EMA auf Krankenhäuser beschränkt.
Nebenwirkungen müssen wegen der begrenzten klinischen Daten unbedingt der
Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft gemeldet werden (6), in
Österreich dem Bundesamt für Sicherheit im
Gesundheitswesen (7).
Weitere Antidote gegen die anderen NOAK werden derzeit in
klinischen Studien untersucht. Anders als bei Dabigatran, bei dem das Antidot
vom Hersteller des NOAK entwickelt wurde, haben die Hersteller von Rivaroxaban,
Apixaban und Edoxaban diese Aufgabe anderen überlassen. Die ersten Antidot-Kandidaten
sind Andexanet alfa (8) und Ciraparantag
(PER977; vgl. 9).
Diese Substanzen sollen bei allen Faktor-Xa-Hemmern wirksam sein, also auch bei
den indirekt wirkenden (Heparine, Fondaparinux).
Erste Daten zu Andexanet wurden gerade im N. Engl. J. Med.
veröffentlicht (8). Andexanet fungiert als Faktor-Xa-Rezeptor-Attrappe
und wird deshalb auch als „Köder-Protein“ bezeichnet. Die im Blut zirkulierenden Faktor-Xa-Hemmer
binden mit hoher Affinität an den Köder und verlieren somit ihre
gerinnungshemmende Wirkung.
Die Wirksamkeit von
Andexanet wurde
in zwei plazebokontrollierten Phase-I-Studien nachgewiesen (8). Dabei
wurden freiwillige Probanden zwischen 50 und 75 Jahren zunächst
mit Apixaban (ANNEXA-A; n = 48) oder Rivaroxaban (ANNEXA-R; n = 53)
vier Tage lang antikoaguliert, und danach wurde die Gerinnungshemmung mit Andexanet
antagonisiert. Der primäre Endpunkt war die Änderung der
Anti-Faktor-Xa-Enzym-Aktivität im Serum. Diese ging
nach Bolusgabe von Verum innerhalb von 2-5 Min. stark zurück, und zwar in
der Apixaban-Studie im Mittel um 94% und in der Rivaroxaban-Studie um 92%. Andexanet
führte bei allen Probanden zu einer mindestens 80%igen Reduktion der
NOAK-Wirkung. Nach etwa 2 Stunden war die Anti-Faktor-Xa-Aktivität wieder
auf Plazeboniveau, die Wirkung des Antidots also aufgebraucht. In einem zweiten
Teil der Studie konnte nachgewiesen werden, dass die antagonisierende
Wirkung durch eine Dauerinfusion aufrechterhalten werden kann.
Parallel zum
Rückgang der Anti-Faktor-Xa-Aktivität durch Andexanet wurde
eine Zunahme der Thrombinsynthese nachgewiesen. Die Thrombinkonzentrationen stiegen
sogar über das Niveau an, das vor Gabe der NOAK gemessen worden war. Auch die d-Dimer- und
Prothrombin-Fragmente 1 und 2 stiegen an. Diese Befunde
legen den Verdacht nahe, dass durch das Antidot eine überschießende
Gerinnungsreaktion ausgelöst werden kann. Thromboembolische Ereignisse traten
in den ANNEXA-Studien mit gesunden Probanden allerdings nicht auf. Ähnlich wie
bei dem Dabigatran-Antidot Idarucizumab läuft
nun eine prospektive Kohortenstudie (ANNEXA-4), in der Andexanet bei
antikoagulierten Patienten mit Blutungskomplikationen getestet wird.
Nebenwirkungen wurden bei einem von 44 Probanden nach
Plazebo und bei 15 von 101 Probanden nach Andexanet beobachtet. Dazu
zählten u.a. Dysgeusie (n = 2) und Urtikaria (n = 2), was
auf unterschiedliche Nebenwirkungsmechanismen hinweist. Eine Bildung von
Antikörpern gegen Andexanet wurde immerhin bei 17 von 101 Teilnehmern
(17%) nachgewiesen. Dies ist auch insofern zu beachten, weil Kreuzreaktionen gegen
Faktor X oder Xa denkbar sind mit bisher nicht abzusehenden klinischen
Folgen.
Fazit: Mit Idarucizumab wurde kürzlich das erste
Antidot gegen ein NOAK (Dabigatran) zugelassen. Es führt meist rasch zur
Normalisierung von Gerinnungsparametern. Sein klinischer Nutzen kann aber noch
nicht sicher eingeschätzt werden, weil bisher nur wenige Patienten behandelt
wurden. Eine überschießende Gerinnung mit thromboembolischen Komplikationen ist
denkbar und muss bei der Indikation bedacht werden. Antidote gegen Rivaroxaban,
Apixaban und Edoxaban sind noch in klinischer Prüfung. Andexanet
ist eine Substanz, die gegen die Gerinnungshemmung durch alle
Faktor-Xa-Antagonisten wirksam ist. Möglicherweise führt Andexanet jedoch nicht
selten zur Bildung von Antikörpern mit schwer einschätzbaren immunologischen
Effekten. Unsere Empfehlung zum bevorzugten Einsatz von Vitamin-K-Antagonisten
ändert sich durch die Zulassung von NOAK-Antidoten
nicht.
Literatur
- AMB 2015, 49, 60b
. AMB 2015, 49, 44 . AMB 2015, 49, 12 . AMB 2014, 48, 96DB01 . AMB 2014, 48, 71. 
- Yang, E.: Vasc. HealthRisk Manag. 2014, 10, 507.

- http://www.ema.europa.eu/docs/en_GB/...

- Pollack, C.V., et al.(RE-VERSE AD = REVERSal Effects of idarucizumab in patients on ActiveDabigatran): N. Engl. J. Med. 2015, 373, 511.

- http://www.apotheke-adhoc.de/ nachrichten/pharmazie/nachricht-detail-pharmazie/gerinnungshemmer-praxbind-sicherheit-zum- symbolpreis-boehringer/?t=1

- http://www.akdae.de/Arzneimittelsicherheit/UAW-Meldung/index.html

- https://vigiweb.ages.at/...

- Siegal, D.M., et al. (ANNEXA-Aund ANNEXA-R): N. Engl. J.Med. 2015, 373, 2413.

- Ansell, J.E., et al.: N.Engl. J. Med. 2014, 371, 2141.

|