John P.A. Ioannidis ist Epidemiologe, Statistiker,
Medizinprofessor an der Stanford Universität in Kalifornien und einer der
weltweit am meisten zitierten Wissenschaftler. Er ist ein wichtiger
Verfechter und zugleich einflussreicher Methodenkritiker der evidenzbasierten
Medizin (EBM). Sein 2005 publizierter Aufsatz "Why Most Published Research
Findings Are False" (1) ist ein Meilenstein der Methodenkritik und wurde in
den letzten zehn Jahren mehr als 2000mal zitiert.
Anlässlich des Todes im Jahr 2015 von David Sackett – dem
Gründer und Nestor der EBM – hat Ioannidis einen sehr lesenswerten Bericht
geschrieben zur Entwicklung der evidenzbasierten Medizin mit dem Titel:
„Evidence-based medicine has been hijacked: a report to David Sackett“ (2).
Darin erinnert er an die mühsamen Anfänge der EBM in den frühen 1990er Jahren,
als sich nur Wenige um eine wissenschaftliche Beweisführung in der Medizin
bemühten und die Vorreiter der EBM als „Wahnsinnige angesehen wurden, die das
neoklassizistische Medizingebäude anzünden wollen“. Die Skepsis des Medizinbetriebs
ging so weit, dass viele gut etablierte Kollegen die Neuerer aus der EBM
persönlich diffamierten und auch vor existentiellen Drohungen nicht
zurückschreckten. In den Folgejahren gewann die EBM immer mehr an Bedeutung und
EBM-Profis wurden bei den großen Medizinzeitschriften zu Türöffnern für Publikationen.
Nun klopften die gleichen Leute, die zuvor noch verächtlich auf die EBM herabgesehen hatten, an die
Türe und baten um eine Zusammenarbeit. Dabei sei es diesen aber selten um die
Wahrheit gegangen, sondern nur um eine Untermauerung ihrer althergebrachten „eminenzbasierten“
Medizin mit dem Prestige der EBM. Heute ist die EBM, so Ioannidis, zwar fest
etabliert aber vielleicht so sehr in ihrer Existenz bedroht wie noch nie zuvor.
Er nennt hierfür drei Gründe.
Der erste Grund betrifft die wichtigsten
Instrumente der EBM, die randomisierten kontrollierten Studien (RCT) und deren
Metaanalysen, die zunehmend von der Industrie durchgeführt werden. Ioannidis
bezeichnet dies als „Hijacking“. Dabei wird die Mehrzahl der industriegeführten
RCT mit hoher Qualität durchgeführt. Es
werden weniger technische Fehler gemacht als von unabhängigen Forschergruppen,
und die Industriestudien werden schnell und effektiv publiziert.
Das Problem sei jedoch, dass in den von der Industrie gesponserten
Studien sehr häufig die
falschen Fragen gestellt und die falschen Antworten gegeben werden. Surrogatparameter als Endpunkte spielten eine viel zu
große Rolle und die statistischen Analysen seien häufig tendenziös (3, 4). Selbst die Metaanalysen werden zunehmend von der
Industrie in Auftrag gegeben (5). Daher müsse auch dieser höchste Grad der
Evidenz zunehmend kritisch gesehen werden. Die EBM könne daher auch großen
Schaden anrichten. Wenn versteckte systematische Fehler in gut gemachten Studien
zu falschen Ergebnissen führen und diese nicht enttarnt werden, kann die EBM
diesen falschen Schlussfolgerungen eine hohe Glaubwürdigkeit verschaffen. Beispielhaft
sei genannt, dass selbst das Logo der Cochrane Collaboration, das ein stilisiertes Forest plot zur
pränatalen Steroidgabe darstellt, teilweise falsch sei, da zu diesem Thema
selektiv publiziert wurde.
Ioannidis betont, dass es nicht darum gehe,
prinzipiell ein Gegner der
Industrie zu sein. Unternehmertum
sei von entscheidender Bedeutung, um Wissen in die Praxis zu
übertragen und um neue Therapien zu entwickeln.
Der Kardinalfehler sei, dass man der Industrie die
Beweisführung für den Wert ihrer eigenen
Produkte überlasse (6). Dies führe zwangsläufig
dazu, dass die Studien oft sehr tendenziös seien und mehr dem Zwecke der
Produktwerbung als der Wahrheitsfindung dienten.
Der zweite Grund für
die Bedrohung der EBM seien die Forschenden selbst und ihre vielfältigen
Eigeninteressen. Die Aura der EBM sei heute ein schmückendes Beiwerk in
akademischen Karrieren. Dabei sei es oft schwierig
zu erkennen, ob
ein hervorragender akademischer Lebenslauf
mit langer
Publikationsliste der Ausdruck harter Arbeit
ist oder das Produkt von geschickter
Machtpolitik, umfangreicher Vernetzung, Gastautorenschaft (7) oder
sklavenhafter Ausbeutung junger
Mitarbeiter. Das heutige System der Forschungsförderung
bevorzuge einen skrupellosen Wissenschaftlertypus, der seine Arbeit gut
vermarkten kann: „But often I wonder: what monsters have we generated through
selection of the fittest“.
Diese Wissenschaftshelden des 21. Jahrhunderts blockierten jede Form einer
vernünftigen Forschungsförderung. Als Resultat seien 85% der
biomedizinischen Forschung heute irrelevant und verschwendet. Die
Forschungsgelder würden mehr zur Befriedigung persönlicher Ziele der Forscher als
zum Wohle von Patienten ausgegeben.
Der dritte Grund für die momentan große Bedrohung der EBM resultiere aus einer strategischen Änderung in der Beweisführung – weg von den RCT, hin zu „big data“ und der sog. personalisierten oder Präzisions-Medizin (8). Die Idee, dass die neuen vielfältigen Möglichkeiten der Datenanalyse im Zusammenspiel mit einer endlosen Datenflut als wesentlicher Fortschritt gesehen und die klassischen Studien ablösen werden, sei gefährlich. Die Datenflut führe in erster Linie zu einer Produktion von endlosen falsch-positiven oder vermeintlichen Assoziationen von Risiken und Ergebnissen. Die Gleichsetzung von Korrelationen und Kausalitäten und die Verwendung von Sekundärdaten aus großen Datenbanken implizieren die große Gefahr von Fehlinterpretationen und falschen Empfehlungen, die sich dann auch in Leitlinien finden können. Ioannidis rät dringend, dass die Evidenz auch in Zukunft vor allem aus „altmodischen Studien“ kommen muss. Nur diese könnten der Datenflut einen Sinn geben.
Letztlich ließen sich aber alle Bedrohungen
der EBM auf den massiven Einfluss des Geldes zurückführen. Der Wert von
Arzneimitteln, von Forschung und von Zukunftstechnologien würde in erster Linie
in Dollars gemessen. Sackett habe die EBM einst wie folgt definiert: „Es geht
um die Integration individueller klinischer Expertise mit der besten externen
Evidenz“ (9). Aber selbst die individuellen Erfahrungen der Ärzte befänden sich
heute in einer schweren Krise. In vielen Diskussionen unter Ärzten und
Wissenschaftlern gehe es nur noch um das Geld und die Finanzierbarkeit von
Leistungen. Die Interessen der Patienten seien bei vielen Ärzten völlig aus dem
Blickfeld geraten. Wenn sowohl die externe Evidenz als auch die individuelle
klinische Erfahrung in erster Linie von der Ökonomie bestimmt werden, dann
könne man die heutige Medizin nicht als „eminence-based“ oder als „evidence-based“
bezeichnen, sondern müsse sie ehrlicherweise „finance-based medicine“ nennen.
Ioannidis beendet seinen Artikel, gerichtet an David Sackett nach dessen Tod, mit der frustrierenden Feststellung, dass das eigentliche Ziel der EBM, die Quacksalberei abzuschaffen, leider nicht erreicht worden ist. Trotzdem dürfe man nicht aufgeben und müsse sich weiter für dieses Ziel einsetzen. Es müsse auf dieser Welt einen Ort für rationales Denken und Handeln geben.
Literatur
- Ioannidis, J.P.A.: PloSMed. 2005, 2, e124.

- Ioannidis, J.P.: J. Clin.Epidemiol. 2016 Mar 2. pii: S0895-4356(16)00147-5. doi:10.1016/j.jclinepi.2016.02.012. [Epub ahead of print].

- AMB 2010, 44, 39a.

- Flacco, M.E., et al.:J. Clin. Epidemiol. 2015, 68, 811.
- AMB 2011, 45, 36.

- Jayadev, A., und Stiglitz, J.: Health Affairs 2009, 28,w165.

- AMB 2012, 46, 59.

- Collins, F.S., undVarmus, H.: N. Engl. J. Med. 2015, 372, 793.
- Sackett, D.J., et al.:BMJ 1996, 312, 71.

|