Cangrelor (Kengrexal®, The Medicines
Company) ist ein direkter und reversibler Adenosin-Diphosphat-P2Y12-Hemmer – so
wie auch Ticagrelor, mit dem es strukturelle und funktionelle chemische
Eigenschaften, aber auch die wichtigsten Nebenwirkungen gemeinsam hat: erhöhtes
Blutungsrisiko und Dyspnoe. Im Gegensatz zu allen anderen P2Y12-Hemmern wird
Cangrelor mittels kontinuierlicher intravenöser Infusion verabreicht, wobei die
thrombozytenhemmende Wirkung innerhalb von zwei Minuten nach Beginn der
Infusion eintritt und die Thrombozytenfunktion innerhalb einer Stunde nach Ende
der Infusion wiederhergestellt ist. Cangrelor ist damit vor allem für den
Klinikbereich potenziell interessant und wird dort vom Hersteller aktuell
beworben. Die Marktzulassungen in Europa und den USA erfolgten 2015 nach einer bewegten
Zulassungsgeschichte.
Zulassungsstudie ist die bereits 2013 im N. Engl. J. Med.
publizierte CHAMPION PHOENIX-Studie (1), in der 11.145 Patienten vor
elektiver (56%) oder akuter (44%) perkutaner Koronarintervention (PCI)
randomisiert und plazebokontrolliert mit Cangrelor i.v. behandelt wurden. Die
Cangrelor-Gruppe erhielt einen Bolus mit nachfolgender Infusion über mindestens
2 Stunden oder für die Dauer der PCI sowie 600 mg Clopidogrel p.o. am
Ende der Infusion. Die Plazebo-Gruppe erhielt Plazebo i.v. mit
Clopidogrel-Loading p.o. (Loading-Dosis bei ca. 25% der Patienten 300 mg,
sonst 600 mg; bei 37% der Patienten erst während oder nach PCI je nach
Entscheidung des behandelnden Arztes). Der primäre kombinierte
Effektivitätsendpunkt, bestehend aus Tod, Myokardinfarkt, Revaskularisation
oder Stent-Thrombose (jeweils 48 Stunden nach Randomisierung), wurde in der
Cangrelor-Gruppe signifikant seltener erreicht (4,7% vs. 5,9%; Odds ratio = OR:
0,78; 95%-Konfidenzintervall = CI: 0,66-0,93; p = 0,005), ebenso der
sekundäre Endpunkt Stent-Thrombose (0,8% vs. 1,4%; OR: 0,62; CI = 0,43-0,90;
p = 0,01). Der primäre Sicherheitsendpunkt schwere Blutung wurde
nicht signifikant beeinflusst (0,16% vs. 0,11%; OR: 1,5; CI: 0,53-4,22;
p = 0,44). Nebenwirkungen waren in beiden Gruppen selten, wobei
Dyspnoe häufiger unter Cangrelor als unter Plazebo auftrat (1,2% vs. 0,3%).
Die Ergebnisse von CHAMPION PHOENIX stehen im Gegensatz
zu denen der beiden 2009 publizierten Vorgängerstudien CHAMPION PCI (Cangrelor
vs. Clopidogrel bei akutem Koronarsyndrom (ACS): kein Vorteil bei signifikant
häufigeren Blutungen) und CHAMPION PLATFORM (Cangrelor vs. Plazebo zusätzlich
zu Clopidogrel bei elektiver PCI und ACS außer ST-Hebungs-Infarkt (STEMI): kein
Vorteil bei zum Teil signifikant höheren Blutungsraten (2, 3). Eine Marktzulassung
des bis dahin vielversprechenden Wirkstoffs schien damals in weite Ferne
gerückt. Durch ein Pooling der Patientendaten beider Studien und die Anwendung
einer anderen, weniger an Biomarkern orientierten Myokardinfarktdefinition
konnte dann nachträglich aber doch eine statistische Signifikanz errechnet
werden (4). Mit CHAMPION PHOENIX – nomen est omen – nahm der Hersteller
schließlich einen neuen und letztlich erfolgreichen Anlauf.
Auch an CHAMPION PHOENIX wurden allerdings verschiedene
Punkte kritisiert, unter anderem in einem die Erstpublikation begleitenden
Editorial des N. Engl. J. Med. (5):
- 25% der Patienten der Kontroll-Gruppe erhielten eine gemäß den aktuellen Leitlinien zu niedrige Clopidogrel-Dosis (300 mg statt 600 mg), während alle Patienten in der Cangrelor-Gruppe anschließend an die Infusion 600 mg Clopidogrel erhielten.
- 37% der Patienten der Kontroll-Gruppe erhielten Clopidogrel erst während oder sogar nach der PCI. Aufgrund des verzögerten Wirkungseintritts des Prodrugs Clopidogrel muss von einem suboptimalen Effekt ausgegangen werden. Bei den restlichen 63% fehlen Angaben zum genauen Zeitpunkt.
- Bei 44% der Studienpatienten lag ein ACS vor. In den meisten Zentren wird ein ACS heute mit Ticagrelor oder Prasugrel und nicht mit Clopidogrel behandelt. Vergleichsdaten Cangrelor vs. Ticagrelor oder Prasugrel fehlen.
- Aus der Subgruppenanalyse ergeben sich Hinweise, dass nur bei Patienten mit stabiler KHK eine Überlegenheit von Cangrelor gegeben ist, nicht aber bei Patienten mit ACS (insbesondere nicht bei STEMI) – also genau bei denjenigen Patienten, bei denen eine rasche und parenterale Gabe am ehesten notwendig sein könnte.
- Die Endpunkte „periprozeduraler Myokardinfarkt“ und „Stent-Thrombose“ sind trotz der seit den Vorgängerstudien geänderten Definition unscharf definiert. Aufgrund der Latenzzeiten in der Labordiagnostik ist der tatsächliche Beginn eines Myokardinfarkts, besonders bei ACS-Patienten (bereits vor- oder erst intraprozedural nach der Randomisierung), naturgemäß oft nicht genau festzulegen.
- Bei der Diagnose von Stent-Thrombosen hat sich die Unterscheidung in „wahrscheinliche“ (klinisch-anamnestisch) und „gesicherte“ (koronarangiographisch oder autoptisch nachgewiesen) Stent-Thrombosen etabliert – und hinsichtlich der „gesicherten“ Stent-Thrombosen unterschieden sich die Gruppen in CHAMPION PHOENIX nicht signifikant.
Eine weitere potenzielle Indikation wurde in der
CHAMPION BRIDGE-Studie an 210 Patienten geprüft, nämlich die perioperative
Umstellung einer oralen Thienopyridintherapie (Clopidogrel, Prasugrel oder
Ticlopidin) auf niedrig dosiertes Cangrelor i.v. vor Bypass-Operation (6).
Primärer Endpunkt war hier nur ein Surrogatparameter, nämlich die mittels
P2Y12-Reaktivität gemessene Hemmung der Thrombozytenfunktion. Diese wurde durch
Cangrelor bei einem signifikant größeren Anteil der Patienten erreicht als in
der Kontroll-Gruppe (98,8% vs. 19,0%; Relatives Risiko = RR: 5,2; CI: 3,3-8,1;
p < 0,001) ohne vermehrte schwere Blutungen.
Nach Erfüllung diverser Auflagen und Durchführung von
Nachanalysen wurde Cangrelor 2015 in Europa und den USA zugelassen für
„Patienten mit koronarer Herzkrankheit, die sich einer perkutanen
Koronarintervention (PCI) unterziehen und vor der PCI keine oralen P2Y12-Hemmer
(Clopidogrel, Ticagrelor oder Prasugrel) erhielten und bei denen eine
orale Therapie mit P2Y12-Hemmern nicht möglich oder wünschenswert ist“ (7). Für
die Bridging-Indikation wurden aufgrund der unzureichenden Evidenzlage keine
Zulassungen erteilt und weitere Studien gefordert.
Fazit: Mit Cangrelor ist
seit einigen Monaten ein durch intravenöse Infusion zu verabreichender und gut
steuerbarer Thrombozytenaggregationshemmer verfügbar. Wir sehen allenfalls für
solche Patienten eine mögliche Therapieoption, bei denen die Einnahme eines
Thrombozytenaggregationshemmers (Clopidogrel, Ticagrelor oder Prasugrel) zusätzlich
zu ASS vor Einleitung einer perkutanen Koronarintervention nicht möglich ist
(z.B. bei Erbrechen, kardiogenem Schock, Respiratortherapie). Für einen
routinemäßigen Einsatz bei elektiver oder akuter perkutaner Koronarintervention
oder für andere Indikationen (z.B. präklinischer Einsatz, perioperatives
Bridging vor kardialen oder nicht-kardialen Operationen bei dualer antithrombozytärer
Therapie nach Stent/ACS) gibt es zur Zeit keine Evidenz, zumal nur – in vielen
Punkten kritikwürdige – Vergleichsstudien mit Clopidogrel vorliegen und nicht
mit neueren Wirkstoffen, z.B. Ticagrelor.
Literatur
- Bhatt, D.L., et al. (CHAMPION PHOENIX): N.Engl. J. Med. 2013, 368, 1303.

- Bhatt, D.L., et al.: (CHAMPIONPLATFORM): N. Engl. J. Med. 2009, 361, 2330.

- Harrington, R.A.:(CHAMPION PCI): N. Engl. J. Med. 2009, 361, 2318.

- Withe, H.D., et al.(CHAMPION = Cangrelor versus standard tHerapy to Achieveoptimal Management of Platelet InhibitiON): Am.Heart J. 2012, 163, 182..

- Lange, R.A., und Hillis, L.D.: N.Engl. J. Med. 2013, 368, 1356.
- Angiolillo, D.J., et al.(BRIDGE): JAMA 2012, 307, 265.

- http://www.ema.europa.eu/...

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