Frage von Dr. L. aus S.: >> Eine 63-jährige
sportliche, normalgewichtige Dame (Turnlehrerin) hat eine familiäre
Hyperlipoproteinämie (FH). Ohne Therapie liegen die Werte des Gesamtcholesterins
um 500 mg/dl und das LDL-C um 230 mg/dl. Die Mutter hatte mit
70 Jahren einen Herzinfarkt, ansonsten ist die Familienanamnese
hinsichtlich Koronarer Herzkrankheit (KHK) und Schlaganfall leer. Die
asymptomatische „Patientin“ hatte bislang kein kardiovaskuläres Ereignis.
Weitere Risikofaktoren liegen nicht vor. Sie hat auch keine wesentlichen, über
die Altersnorm hinausgehenden Zeichen einer Atherosklerose: kleine einseitige
Karotisplaque, unauffällige Bauchaorta, normaler Knöchel-Arm -Index, unauffällige
Ergometrie, keine Xanthome oder Xanthelasmen. Als einzige Auffälligkeit wurde
sonografisch eine Fettleber diagnostiziert. In den vergangenen Jahren wurden
ihr zur Primärprophylaxe mehrere Statine verordnet. Hierunter sank das LDL-C zwar
auf Werte um 150 mg/dl, sie entwickelte aber regelhaft und dosisabhängig
Myalgien, Muskelatrophien und CK-Anstiege auf > 300 U/l.
Therapieversuche mit Fibraten wurden ebenfalls wegen Muskelschmerzen abgebrochen.
Ein Versuch mit Ezetemib wurde wegen des „geringen Effekts“ wieder abgebrochen.
Aktuell nimmt sie auf Empfehlung ihrer Apotheke einen Extrakt aus rotem Reis (Arterin)
ein. Hierunter beträgt das LDL-C etwa 200 mg/dl, aber es wird wieder
Muskelschwäche angegeben (z.B. Kniebeugen nicht möglich). Die CK liegt bei
220 U/l. Soll dieser Patientin nun ein PCSK9-Hemmer verordnet werden?
<<
Antwort: >> Es ist anzunehmen, dass bei der „Patientin“
auf Grund der Familienanamnese und der LDL-C Werte um 230 mg/dl eine
heterozygote FH besteht (1). Nach den gerade erschienenen Leitlinien der Europäischen
Gesellschaft für Kardiologie (ESC) zur Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen
(2) ist sie auf Grund ihrer erhöhten Cholesterinwerte in der Gruppe „High risk“
einzustufen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie in den kommenden 10 Jahren
ein tödliches kardiovaskuläres Ereignis erleidet, liegt demnach zwischen 5-10%.
Nicht-tödliche Ereignisse wie Herzinfarkt, Akutes Koronarsyndrom, TIA und
Schlaganfall, die bei dieser Konstellation etwa 3-4mal häufiger sind, müssen
noch hinzugezählt werden. Somit liegt bei der Patientin die Wahrscheinlichkeit
für ein kardiovaskuläres Ereignis in den kommenden 10 Jahren
wahrscheinlich bei 20-40%. Da eine kleine Plaque in der A. carotis beschrieben wurde
(„Risiko-modifier“), würde man das 10-Jahres-Risiko vielleicht auf etwa 25%
schätzen. Weitere, das Risiko verändernde Faktoren wären eine sich früh
manifestierende, sog. prämature KHK bei Familienangehörigen ersten Grades, ein
schlechter sozio-ökonomischer Status, Übergewicht, Nachweis von Koronarkalk (im
CT) oder ein pathologischer Knöchel-Arm Index (2).
Die ESC-Empfehlungen zur Behandlung von „High-risk“-Patienten
bestehen aus allgemeinen, den Lebensstil modifizierenden Maßnahmen:
Nichtrauchen, Sport (pro Woche mindestens 150 Minuten moderates oder
75 Minuten intensives aerobes Training), Gewichtskontrolle (BMI zwischen
20-25 kg/m2 bzw. Hüftumfang < 80 cm) sowie eine
gute Einstellung des Blutdrucks (< 140/90 mm Hg). Darüber
hinaus soll das LDL-C möglichst auf < 100 mg/dl bzw. um mindestens
50% des Ausgangswerts gesenkt werden („Treat-to-target“-Konzept,
Empfehlungsgrad Ib).
Nach den ESC-Leitlinien ist pro mmol Reduktion des LDL-C
(entspr. 38 mg/dl) mit einer relativen Risikominderung von 20-25% zu
rechnen. Diese lineare Beziehung gilt aber sehr wahrscheinlich nur für Statine
und ist nicht unumstritten (3). Würde es demnach bei der Patientin gelingen,
den LDL-C-Wert von 230 mg/dl (5,9 mmol/l) auf 115 mg/dl (2,9 mmol/l)
zu halbieren, dann würde dies ihr kardiovaskuläres Risiko theoretisch um ca.
zwei Drittel mindern, d.h. bei einem Ausgangsrisiko von 25% in 10 Jahren
auf ca. 8,5%. Hieraus errechnet sich eine Number needed to treat (NNT) von 6,
um ein kardiovaskuläres Ereignis und von 29, um ein tödliches Ereignis zu
verhindern (das Sterberisiko sinkt von ca. 5% auf 1,6%). Entschließt man sich,
die FH nicht zu behandeln, müssen diese Zahlen (bzw. theoretisch vergebenen
Chancen) mit der Patientin besprochen werden.
Eine Halbierung des LDL-C ist jedoch schwer zu erreichen.
Mit einer ballaststoffreichen, ovo-lacto-vegetarischen Ernährung lässt sich bei
postmenopausalen Frauen das LDL-C um 20-30 mg/dl senken (4), mit einer veganen
Ernährung möglicherweise noch stärker. Um weitere Reduktionen zu erzielen, sind
Medikamente erforderlich. Statine haben in hohen Dosen das Potenzial, das LDL
um bis zu 50% zu senken, und eine Reduktion der Letalität ist ebenfalls
nachgewiesen. Sie sind daher Mittel der ersten Wahl. Werden sie, wie bei dieser
Patientin, nachweislich nicht vertragen – auch Roter-Reis-Extrakt, der ja unkontrollierte
Mengen Lovastatin enthält, führte zu einem Anstieg der CK – müssen Alternativen
angewendet werden (vgl. 5).
Mit 10 mg Ezetimib (Hemmung der Cholesterinresorption)
und/oder den schlecht verträglichen Anionenaustauschern (Colestyramin, Colestipol)
ist eine LDL-Reduktion von je 20% zu erwarten. Es wäre also denkbar, dass die
Patientin mit vegetarischer Ernährung, Ezetimib und ggf. auch Colestyramin
(langsam aufdosieren) eine Halbierung des LDL-C erzielen kann (4, 7). Ob
dies auch zu der erhofften Risikoreduktion führt, ist jedoch unklar, da es zu
dieser Strategie nach unserem Wissen keine Endpunktstudien gibt (5). Fibrate
und Niacin wirken kaum auf das LDL-C und haben ebenfalls ungünstige Wirkungen
auf die Skelettmuskulatur. Die als ultima ratio bei homozygoten Formen der FH
sowie Hochrisikopatienten mit heterozygoten Formen empfohlene Lipid-Apherese (1)
ist bei der geschilderten Patientin unseres Erachtens zu aggressiv. Auch ein
PCSK9-Hemmer ist nach unserer Einschätzung nicht zu empfehlen. Einmal, weil
bislang der Nachweis fehlt, dass diese neuen Wirkstoffe in der Primärprophylaxe
bei heterozygoter FH klinische Ereignisse nennenswert verhindern, und zum
anderen, weil noch keine Langzeiterfahrungen vorliegen (6). Somit ist die
Nutzen-Risiko-Relation noch völlig offen, was bei einer langjährigen Therapie
zur Primärprophylaxe ein gewichtiges Argument ist.
Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) kam im Februar 2016
bei der Bewertung von PCSK9-Hemmern entsprechend auch zu dem Schluss, dass für
diese bei Unverträglichkeit von Statinen aufgrund ungeeigneter Studiendaten
kein therapeutischer Zusatznutzen belegt ist im Vergleich zu einer zweckmäßigen
Vergleichstherapie (festgelegt wurden Fibrate, Anionenaustauscher,
Cholesterinresorptionshemmer und diätetische Therapie; 8). Entsprechend sind
PCSK9-Hemmer in Deutschland bei heterozygoter FH auch nur dann
verordnungsfähig, wenn „trotz einer über einen Zeitraum von 12 Monaten
dokumentierten maximalen diätetischen und medikamentösen lipidsenkenden
Therapie (Statine und/oder andere Lipidsenker bei Statin-Kontraindikation) der
LDL-C-Wert nicht ausreichend gesenkt werden kann und daher davon ausgegangen
wird, dass die Indikation zur Durchführung einer LDL-Apherese besteht.“ In
Österreich sind PCSK9-Hemmer derzeit nur in der Sekundärprophylaxe
erstattungsfähig (9). Somit ist ein PCSK9-Hemmer bei der geschilderten
Patientin inhaltlich und sozialrechtlich derzeit keine Behandlungsoption.
<<
Literatur
- Klose ,G., et al.: Dtsch. Arztebl.Int. 2014, 111, 523.

- Piepoli, M.F., et al.:Eur. Heart J. 2016, 37, 2315.

- AMB 2011, 45, 25.

- Huang, Y.W., et al.: BMCWomens Health 2014, 14, 55.

- AMB 2009, 43, 91.

- AMB 2015, 49, 74.

- AMB 2001, 35, 06a.

- https://www.g-ba.de/...

- Salzburger Gebietskrankenkasse,persönliche Information (5.9.2016)
|