Leitlinien sind systematisch
entwickelte Entscheidungshilfen für Ärzte und Patienten zur angemessenen
Vorgehensweise bei speziellen Gesundheitsproblemen (1). Sie gelten als Regeln
guten ärztlichen Handelns und basieren auf einer systematischen Überprüfung der
Evidenz sowie Bewertung des Nutzens und Schadens der alternativen
Behandlungsoptionen. Klinische Leitlinien haben zum Ziel, die Patientenversorgung
zu verbessern und im letzten Jahrzehnt für die ärztliche Tätigkeit erheblich an
Bedeutung gewonnen. In der Rechtsprechung werden sie heute als unentbehrliches
Mittel bei der Feststellung des medizinischen Standards herangezogen, sind
jedoch als solche keine Rechtsnormen, d.h. besitzen keine unmittelbare
rechtliche Verbindlichkeit (2, 3). Leitlinien werden jedoch nicht immer
rein objektiv abgefasst, da gerade hier vor allem finanzielle
Interessenkonflikte („financial conflicts of interest“ = FCOI) der Autoren eine
erhebliche Problemquelle sind. Deshalb haben sich auch zahlreiche
Untersuchungen in den letzten Jahren mit der Frage beschäftigt, wie häufig
Interessenkonflikte bei Autoren medizinischer Leitlinien vorliegen. Übereinstimmend
wurde in diesen Untersuchungen gezeigt, dass meist mehr als 50% der beteiligten
Experten FCOI haben (z.B. 4, 5). Demgegenüber wurden die Auswirkungen der
FCOI auf Empfehlungen in den Leitlinien, beispielsweise zur Verordnung
spezieller neuer Arzneimittel, nur selten analysiert – auch weil bisher die
Transparenz hinsichtlich der Deklaration von FCOI und der erhaltenen Geldbeträge
meist unzureichend war (6).
In einer aktuellen Analyse
haben jetzt Autoren aus den USA FCOI von Autoren, die an der Erarbeitung von
Leitlinien des National Comprehensive Cancer Network (NCCN) mitgewirkt haben,
quantitativ erfasst (7). Diese Leitlinien beeinflussen in den USA klinische
Entscheidungen zur Diagnostik sowie Behandlung von onkologischen Erkrankungen
und definieren, welche Arzneimittel durch Medicare erstattungsfähig sind. Auch
in Deutschland werden diese Leitlinien bei ärztlichen Entscheidungen häufig
herangezogen. Ermöglicht wurde diese Analyse durch das 2012 in den USA
verabschiedete Gesetz zum „Physician Payment Sunshine Act“ (8) und die im
Rahmen der „Open Payments“ verfügbaren Daten zu finanziellen
Interessenkonflikten zwischen Ärzten und der Industrie (9). Für die Analyse zur
Häufigkeit von FCOI wurden Ende 2014 alle Autoren identifiziert, die an
Leitlinien zu den häufigen soliden Tumoren (Lungen-, Darm-, Mamma- und
Prostatakarzinom) beteiligt waren. Für das Jahr 2014 wurde sowohl das Vorhandensein
von FCOI als auch die Höhe der von der Industrie an die Autoren gezahlten
Geldbeträge erfasst. Von insgesamt 125 Autoren der vier Leitlinien hatten 108
(86%) zumindest einen FCOI. Von der Industrie wurden im Jahr 2014 insgesamt
30,29 Mio. US-$ an diese Autoren gezahlt, davon der ganz überwiegende Teil für
Forschungsaktivitäten (29,04 Mio. US-$). Allgemeine Zahlungen –
beispielweise für Vorträge und/oder Beratungstätigkeit, sowie Geschenke und
Essenseinladungen – erfolgten in Höhe von 1,25 Mio. US-$ (durchschnittlich
10.000 US-$ pro Autor). Während 84% der 125 Autoren eine oder mehrere
allgemeine Geldleistungen erhielten, wurden nur 47% der Autoren für Forschungsaktivitäten
honoriert, und nur drei Autoren (2%) bekamen ausschließlich Zahlungen für
Forschungsaktivitäten.
Inwieweit das Vorliegen von
FCOI Auswirkungen auf die Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie in den vier
Leitlinien hatte, wurde nicht untersucht. Verschiedene Untersuchungen belegen
allerdings, dass FCOI das Verschreibungsverhalten von Ärzten (10), die
Empfehlung für die Verordnung spezieller onkologischer Arzneimittel in
Leitlinien (11) und vor allem auch die Interpretation von Ergebnissen
klinischer Studien in der Onkologie (12) im Sinne der industriellen Sponsoren
beeinflussen können. Deshalb wurden in den letzten Jahren auch von
verschiedenen Organisationen, wie dem Institute of Medicine (13), dem
Guidelines International Network (14) und kürzlich auch der Arbeitsgemeinschaft
der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (15) Empfehlungen
für die Erklärung von und den Umgang mit Interessenkonflikten veröffentlicht.
Folgende fünf Prinzipien sind hierfür besonders relevant (16):
·
Offenlegung der Interessenkonflikte der Autoren und unabhängige
Bewertung durch ein externes Gremium;
·
Minimierung des Anteils befangener Mitglieder in einer
Leitliniengruppe;
·
Federführende Autoren sollen frei von Interessenkonflikten sein;
·
Enthaltung bei Abstimmungen, wenn problematische Interessenkonflikte
vorhanden sind, also z.B. finanzielle Beziehungen von einem Autor zu einem
industriellen Unternehmen bestehen, das ein für die Leitlinie relevantes
Arzneimittel oder Medizinprodukt herstellt;
·
Diskussion des Leitlinienentwurfs durch die Fachöffentlichkeit und
Patienten;
·
Ein Aufsichtsgremium sollte für die Entwicklung und
Implementierung von Regeln zu Interessenkonflikten verantwortlich sein.
Diese fünf Prinzipien sind
auch Grundlagen der Bewertungen von Leitlinien aus Deutschland, die durch
Neurology First, unter Beteiligung von MEZIS und Transparency International, im
Rahmen des Projekts „leitlinienwatch.de“ durchgeführt werden (17).
Fazit: Die
Autoren, die im Jahr 2014 an der Erstellung von Leitlinien des National
Comprehensive Cancer Network in den USA zu häufigen soliden Tumoren beteiligt
waren, hatten sehr häufig (86%) finanzielle Interessenkonflikte. Eine
möglicherweise daraus resultierende unzulässige Beeinflussung von onkologischen
Leitlinien durch industrielle Sponsoren – beispielsweise infolge nicht
evidenzbasierter Empfehlungen – sollte weiter untersucht werden. Die inzwischen
vorliegenden Regeln zum Umgang mit finanziellen Interessenkonflikten müssen in
Zukunft konsequenter befolgt werden.
Literatur
- https://www.iqwig.de/download/IQWiG_Methoden_Version_4-2.pdf
- Hart, D.: MedR 2015, 33, 1.
- Ehlers, A.F.P. (Hrsg.): Medizinisches Gutachten im Prozess, C.H.Beck Medizinrecht, München 2016. S. 146.
- Neumann, J., et al.: BMJ 2011, 343, d5621.

- Langer, T., et al.: Dtsch. Arztebl. Int. 2012, 109, 836.

- Norris, S.L., et al.: PLoS One 2011, 6, e25153.

- Mitchell, A.P., et al.: JAMAOncol. 2016 Aug 25. doi: 10.1001/jamaoncol.2016.2710.
- AMB 2016, 50, 17.
- https://openpaymentsdata.cms.gov/
- AMB 2016, 50, 64DB01. De Jong, C., et al.: Ann. Intern. Med.2016, 176, 1114.
- Tibau, A., et al.: J. Clin. Oncol. 2015, 33, 100.

- Lerner, T.G., et al.: Contemp. Clin. Trials 2012, 33, 1019.
- Committeeon Standards for Developing Trustworthy Clinical Practice Guidelines, Instituteof Medicine of the National Academies:Graham/Mancher/Wolman/Greenfield/Steinberg (Hrsg.): Clinical practiceguidelines we can trust, 2011.
- Schünemann, H.J., et al.:Ann. Intern. Med. 2015, 163, 548.
- Arbeitsgemeinschaft derWissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V.: AWMF-Regel für dasLeitlinienregister: Erklärung von Interessen und Umgang mitInteressenkonflikten bei Leitlinienvorhaben:
- Schott, G., und Ludwig, W.-D.: GuP 2016, 6, 201.
- https://www.leitlinienwatch.de/
|